Der Krieg aller gegen alle. Oder: Social Distancing als Grundmotiv bürgerlicher Vergesellschaftung

Julian Duschek

[Aus Anlass der bevorstehenden Veröffentlichung von Heft 7 des Distanz-Magazins veröffentlichen wir hier einen bereits in Heft 6 abgedruckten Beitrag. Die vorliegende Untersuchung stellt den Beginn einer Artikelreihe dar, welche im neuen Heft fortgeführt wird.]

Seit 2020 ist Social Distancing in aller Munde. Um eine weitere Ausbreitung der Pandemie zu verhindern, sollen die Menschen voneinander Abstand halten. Ob der Begriff geeignet ist, Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung zu bezeichnen, ist nicht die Frage des vorliegenden Textes. Stattdessen soll hier eine alternative Deutung gewagt und der gesellschaftstheoretische Gehalt des Begriffs ausgebreitet werden. Denn Social Distancing drückt auch ein Grundmotiv bürgerlicher Vergesellschaftung aus, das sich mit Adorno (2019) als „intrinsisch antagonistischer Charakter“ gesellschaftlicher Totalität fassen lässt (ebd. S. 53): Wie der Begriff sozialer Distanz genaugenommen eine contradictio in adiecto ist – das ‚Soziale‘ hebt auf das Gesellige, miteinander Verbundene ab, ‚Distanz‘ dagegen referiert auf Trennung und Vereinzelung –, so erhält sich der gesellschaftliche Zusammenhang paradoxerweise durch die widerstreitenden Beziehungen der einzelnen Subjekte. M. a. W. reproduziert sich das Kapital als gesellschaftliches Verhältnis durch Vereinzelung und Konkurrenz: durch soziale Distanz.

In einer zentralen Hinsicht widerspricht das physische Abstandhalten diesem bürgerlich-kapitalistischen Imperativ ‚sozialer Distanzierung‘. Denn während das eine einen Akt der Solidarität mit denen darstellt, die zu Risikogruppen gehören, drücken sich im anderen Gleichgültigkeit und soziale Kälte aus (vgl. Adorno 2016, S. 687). Kein Wunder also, dass jene, die sich mit dem herrschenden Allgemeinen bewusstlos identifizieren, sich derzeit mit solcher Wut und Empörung dagegen wehren, Mindestabstände einzuhalten, Mund-Nasen-Bedeckungen zu tragen oder sich impfen zu lassen. Um der eigenen sozialatomistischen Freiheit willen nehmen sie die Gefährdung Angehöriger von Risikogruppen nicht nur in Kauf, sondern forcieren diese. Auch Regierungen von Ländern wie Schweden, Großbritannien, Brasilien oder den USA verzichteten lange Zeit auf Maßnahmen zum Schutze von Risikogruppen, um im Sinne ‚sozialer Distanzierung‘ den gewöhnlichen Betrieb aufrechtzuerhalten und die Bevölkerung zu ‚durchseuchen‘. Hier wie dort erscheint offen die sozialdarwinistische Logik des survival of the fittest, die für den Imperativ ‚sozialer Distanzierung‘ besonders im Neoliberalismus charakteristisch ist (vgl. Stapelfeldt 2012, S. 352).

Damit diese Feststellung nicht bloße Kulturkritik bleibt, soll im Folgenden die Grundlage dafür geschaffen werden, sie gesellschaftsgeschichtlich und ‑theoretisch zu reflektieren und zu rekonstruieren. Dafür wird zunächst exemplarisch anhand der Lehre Friedrich Hayeks (1899–1992) ‚Social Distancing‘ als zentrales Strukturmerkmal des Neoliberalismus bestimmt und dabei seine sozialdarwinistische Logik entwickelt. Die Argumentation mündet im Begriff des Kriegs aller gegen alle, weshalb die Darstellung schließlich vom Neoliberalismus zurück in den Merkantilismus springt: jener Epoche, in der Thomas Hobbes (1588–1679) einen barbarischen Naturzustand konstruierte und die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft sich im Prozess „ursprünglicher Akkumulation“ (Marx) sukzessive durchsetzte. Durch die Konfrontation des logischen Gehalts des Begriffs vom bellum omnium contra omnes mit seinem historischen Erfahrungshintergrund können seine ideologischen Gehalte kritisiert und sein spezifischer Zeitkern beleuchtet werden. Darin besteht die Grundlage der historischen Rekonstruktion der Bedeutung des ‚Social Distancing‘ in der neoliberalen Gegenwart. Der vorliegende Text versteht sich daher lediglich als Auftakt einer Reihe von Untersuchungen, die den historisch-spezifischen Strukturwandel des bellum zum Gegenstand haben.

1. Neoliberale Ordnung und Sozialdarwinismus

Die Basisinstitution des Neoliberalismus besteht laut Hayek (1980) in der „spontanen Ordnung“ des Marktes (ebd. S. 70; vgl. S. 57–79). Ihr spontaner Charakter verweist darauf, dass sie das Produkt eines evolutionären Fortschrittsprozesses, ein „Ergebnis anpassender Entwicklung“ sei (Hayek 1991, S. 72). Diese Entwicklung lasse sich aufgrund ihres „experimentellen Charakter[s]“ nicht rational planen, sondern bestehe in einem ungelenkten und kumulativen, „organische[n], langsame[n], halb unbewußte[n] Wachstum“ (ebd. S. 47, S. 69). Im Verlauf dieses evolutionären Entwicklungsprozesses entscheiden laut Hayek die zweckmäßigsten Anpassungsstrategien an gesellschaftliche Umweltbedingungen darüber, welche Personen und Verhaltensweisen sich gegen andere durchsetzen können. Vorausgesetzt ist der zur Natur verdinglichte Konkurrenzkampf, dem sich die Einzelnen anzupassen haben: Der Imperativ ‚sozialer Distanzierung‘ ist total. Die kompetitive Vereinzelung hat also aus „freiwillige[r] Konformität“ zum herrschenden Allgemeinen zu erfolgen (ebd. S. 78).

Fortschritt vollziehe sich durch „selektive Ausmerzung“ und dadurch, „daß die Einzelnen die Erfolgreicheren nachahmen und daß sie von Zeichen und Symbolen geleitet werden, wie den Preisen, die für ihre Erzeugnisse geboten werden“ (ebd. S. 34, S. 37). Existenzberechtigt sind daher nur jene Anpassungs- und Verhaltensweisen, die sich als zweckmäßig erweisen, indem sie „sich im Wettbewerb mit anderen Prinzipien, denen andere Individuen und Gruppen folgen, bewähren“ (ebd. S. 46; vgl. S. 34–37, S. 73f.). Wer und was dagegen im Konkurrenzkampf unterliegt, wird ‚ausgemerzt‘. Das zweckrationale Anpassungshandeln der Vereinzelten folgt daher der Logik der Selbsterhaltung – das irrationale Verhältnis des Kampfes zwischen ihnen reproduziert sich in der andauernden Unterscheidung von Stärke und Schwäche, Konformismus und Nonkonformismus, Freund und Feind, Beute und Gefahr. Den sozialdarwinistischen Charakter dieser Forderungen verschleiert Hayek mit dem Hinweis, dass

„in der sozialen Entwicklung […] der entscheidende Faktor nicht die Auswahl der physischen und vererblichen Eigenschaften der Individuen [ist], sondern die Auswahl durch Nachahmung der erfolgreichen Institutionen und Bräuche. Obwohl auch hier die Wirkungsweise der Erfolg von Individuen oder Gruppen ist, so sind das Entwicklungsergebnis nicht vererbliche Eigenschaften der Individuen, sondern Anschauungen und Fertigkeiten, kurz gesagt, das ganze kulturelle Erbe, das durch Lernen und Nachahmung weitergegeben wird“ (ebd. S. 74).

Das permanente Umschlagen dieses auf Verhaltens- und Anpassungsstrategien abhebenden Selektionsmechanismus in einen physisch-biologischen drückt sich gerade während der Corona-Krise darin aus, dass die Beschränkungen zum Schutze der Leben von Risikopatienten ein Hemmnis für den ‚Fortschritt‘ im Neoliberalismus darstellen.[1] Nicht nur unter Extrembedingungen kommen im neoliberalen Fortschritt zuerst die Verwundbarsten unter die Räder. So besteht die neoliberale Ordnung aus einem kontinuierlichen nach sozialdarwinistischem Muster ablaufenden Konkurrenz-und Überlebens-Kampf –ein bellum omnium contra omnes: der Inbegriff ‚sozialer Distanzierung‘.

Ebenso wie der Hobbessche Naturzustand macht auch die ‚spontane Ordnung‘ einen starken Staat notwendig, soll sie sich nicht selbst zerstören. In der Staatsgewalt sieht Hayek (1980) die „wesentliche Bedingung für die Erhaltung jener Gesamtordnung“ (ebd. S. 71). Der häufig kolportierte neoliberale Antietatismus relativiert sich vor dem Hintergrund des enormen Ausmaßes staatlichen Handelns.

„[D]as Wichtigste“ sei nach Hayek (1991) „die Art und nicht das Ausmaß der Staatstätigkeit. […] [E]ine Regierung, die verhältnismäßig inaktiv ist, aber das falsche macht, [kann] die Kräfte des Marktes weit mehr lähmen als eine Regierung, die sich um Wirtschaftsangelegenheiten mehr kümmert, sich aber auf Maßnahmen beschränkt, die die spontanen Kräfte der Wirtschaft unterstützen“ (ebd. S. 287).

Es käme darauf an, „ein dauerndes gesetzliches Rahmenwerk“ zu schaffen, in welchem „der Einzelne mit einem gewissen Vertrauen planen kann und die menschliche Unsicherheit so gering wie möglich wird“ (ebd.; vgl. S. 28). Mit anderen Worten: Der Staat hat eine Rahmenordnung zu schaffen, innerhalb derer die Vereinzelten ungestört durch zweckrationales Anpassungshandeln ihr Überleben gegen alle anderen sichern können – innerhalb derer der bellum omnium contra omnes toben kann (vgl. ebd. S. 46). Dem entspricht, dass sich die spontane Marktordnung historisch nicht wie von selbst durch ‚organisches Wachstum‘ durchsetzte, sondern durch (supra-)staatliche administrative De-Regulierungsmaßnahmen implementiert wurde. Dem entspricht auch, dass der Staat die autodestruktiven Tendenzen des bellum re-regulativ beschneidet, um ihn in Funktion zu halten: Während der Lockdown die pandemische Katastrophe verhindert, die bei ungestörtem ‚Normalbetrieb‘ eintreten würde, sollen die wirtschaftlichen Hilfspakete den dadurch verschärften Konkurrenzdruck mildern und massenhafte Pleiten verhindern. Insofern ist laut Stapelfeldt (2012) „die ‚spontane Ordnung‘: ‚gemacht‘“ (ebd. S. 349). Der neoliberale Staat habe „das Ganze zu konstituieren“ und sei daher „so omnipotent wie nie zuvor ein ökonomischer Staat“ (Stapelfeldt 2014, S. 590).

Diese neoliberale Konstellation von Staat und Markt findet eine weitere Entsprechung im Hobbesschen Werk. Da der bellum als gesellschaftlicher Naturzustand gesetzt und in der einzelmenschlichen Natur begründet ist, verschwindet er nicht einfach durch die Gewalt des Souveräns. Stattdessen wurde der Leviathan gegründet, „um die politischen Bedingungen zu schaffen, unter denen sich das Macht- und Erwerbsstreben der einzelnen in zivilen Formen abspielen kann“ (Euchner 1973, S. 26). Der Hobbessche Staat hat also auch ein gesetzliches Rahmenwerk zu schaffen, innerhalb dessen sich die autodestruktiven Tendenzen des bellum nicht voll entfalten. Der bellum reproduziert sich darüber hinaus im Verhältnis zwischen den Staaten (vgl. Stapelfeldt 2006, S. 251). Die Auseinandersetzung mit dem Hobbesschen Werk und insbesondere dem Begriff des bellum scheint vor diesem Hintergrund einen Beitrag für eine Kritik des Neoliberalismus leisten zu können

Dass Hobbes mit dem Begriff des bellum „die hervorstechenden Züge der bürgerlichen Konkurrenzgesellschaft erkannt und seiner Konstruktion zugrunde gelegt hat“ (Fetscher 1998, S. LVII), ist mittlerweile Usus. Dabei ist die Behauptung, der Begriff träfe heute noch etwas, höchst voraussetzungsvoll. Nicht zuletzt liegen zwischen dem Zeitpunkt seiner Bestimmung und der gesellschaftlichen Gegenwart über 350 Jahre. Die Voraussetzungen lassen sich auch nicht – wie es zuweilen in der Hobbes-Forschung geschieht – durch individualisierende Zuschreibungen einholen, die die Klarsichtigkeit und den Mut des Hobbesschen Genies hervorheben. Um seinem kritischen Erkenntnispotential für die neoliberale Gesellschaft zur Geltung zu verhelfen, muss stattdessen zunächst der logische Gehalt des Begriffes mit der besonderen historischen Situation, in der er entstand, konfrontiert werden, um ihn kritisieren zu können und seinen spezifischen Zeitkern zu identifizieren. Dies soll im Folgenden unternommen werden.

2. Der Begriff des bellum omnium contra omnes

Hobbes setzt den Naturzustand des bellum omnium contra omnes als einen, in dem es keine „die Menschen im Zaum haltende Macht“ gibt, „die dazu in der Lage ist, sie alle einzuschüchtern“ (Hobbes 1998, S. 96; S. 95). Demnach beschreibt er einen vor-staatlichen und keinen im modernen Sinne des Wortes[2] vor-gesellschaftlichen Zustand – schließlich ist der Krieg selbst ein gesellschaftliches Verhältnis. Die logische Abstraktion von der allgemeinen Staatsgewalt ist die grundlegende Prämisse des Gedankenexperiments und scheint es Hobbes zu erlauben, eine „Schlußfolgerung aus den Leidenschaften“ der Menschen für ihr Zusammenleben zu ziehen (ebd. S. 96). Davon ausgehend, dass die Menschen von Natur aus „hinsichtlich ihrer körperlichen und geistigen Fähigkeiten […] gleich geschaffen“ seien, schließt Hobbes auf „eine Gleichheit der Hoffnung, unsere Absichten erreichen zu können“ (ebd. S. 94f.). Die Gleichheit der Fähigkeiten und die der Hoffnungen impliziert die der Chancen. Zu dieser setzt Hobbes sodann die naturrechtliche individuelle Freiheit eines jeden, „seine eigene Macht nach seinem Willen zur Erhaltung […] seines eigenen Lebens […] einzusetzen und folglich alles zu tun, was er nach […] eigener Vernunft als das zu diesem Zweck geeignete Mittel ansieht“ (ebd. S. 99). Daraus folgt,

„daß in einem solchen Zustand jedermann ein Recht auf alles hat, selbst auf den Körper eines anderen. Und deshalb kann niemand sicher sein, solange dieses Recht eines jeden auf alles besteht, die Zeit über zu leben, die die Natur dem Menschen gewöhnlich einräumt, wie stark und klug er auch sein mag“ (ebd.)

Gleichheit und Freiheit konstituieren einen Konkurrenzkampf: „Und wenn daher zwei Menschen nach demselben Gegenstand streben, den sie jedoch nicht zusammen genießen können, so werden sie Feinde und sind […] bestrebt, sich gegenseitig zu vernichten oder zu unterwerfen“ (ebd. S. 94f.). Dieser Kampf ist gleichbedeutend mit dem Zustand, „der Krieg genannt wird, und zwar […] Krieg eines jeden gegen jeden“ (ebd. S. 96). Auch für solche, „die an sich gerne innerhalb bescheidener Grenzen ein behagliches Leben führen würden“, ist dieser Krieg zwingend, weil es nach Hobbes immer „einige gibt, denen es Vergnügen bereitet, sich an ihrer Macht zu weiden, indem sie auf Eroberungen ausgehen, die sie über das zu ihrer Sicherheit erforderliche Maß hinaustreiben“ – die sonst Friedfertigen sind dadurch ebenso genötigt, „durch Angriff ihre Macht“ zu mehren, da sie sich im Angesicht der wölfischen Aggressivität ihrer Mitmenschen „durch bloße Verteidigung unmöglich lange halten“ können (ebd. S. 95).

In diesem Zustand ständiger Unsicherheit schlagen Freiheit und Gleichheit in Ungleichheit und Unfreiheit um. Im bellum herrscht „beständige Furcht und Gefahr eines gewaltsamen Todes – das menschliche Leben ist einsam, armselig, ekelhaft, tierisch und kurz“ (ebd. S. 96). Im Naturzustand gibt es kein Gesetz und weder „Eigentum noch Herrschaft, noch ein bestimmtes Mein und Dein“ – jedem gehört nur das, „was er erlangen kann, und zwar so lange, wie er es zu behaupten vermag“ (ebd. S. 98; vgl. S. 190). So unterliegt „alles […] dem Wettbewerb“ (Hobbes 2010, S. 216).

Die allgemeine Konkurrenz stellt das zentrale Moment des bellum dar und verweist zugleich auf dessen autodestruktive Irrationalität. Der Wettbewerb zeitigt für Hobbes keine produktiven und fortschrittlichen Konsequenzen, wie sie ihm später im Liberalismus zugeschrieben werden; im Gegenteil ist in

„einer solchen Lage […] für Fleiß kein Raum, da man sich seiner Früchte nicht sicher sein kann; und folglich gibt es keinen Ackerbau, keine Schiffahrt, keine Waren, die auf dem Seeweg eingeführt werden können, keine bequemen Gebäude, keine Geräte, um Dinge, deren Fortbewegung viel Kraft erfordert, hin- und herzubewegen, keine Kenntnis von der Erdoberfläche, keine Zeitrechnung“ (Hobbes 1998, S. 96).

Aufgrund des elenden Lebens, das alle Menschen im Naturzustand zu führen gezwungen sind, gebieten ihnen zunächst ihre Leidenschaften, schließlich auch die Vernunft, den bellum zu befrieden. „Die Leidenschaften, die die Menschen friedfertig machen, sind Todesfurcht, das Verlangen nach Dingen, die zu einem angenehmen Leben notwendig sind[,] und die Hoffnung, sie durch Fleiß erlangen zu können“ (ebd. S. 98). Da dies laut Hobbes für alle gilt, gebietet die Vernunft schließlich den intersubjektiven Verzicht aller auf ihr ‚Recht auf alles‘. Durch einen gemeinsamen rationalen Gesellschafts-Vertrag verpflichten sich schließlich alle dazu, einen Teil ihrer Freiheit und ihrer Macht einem Souverän zu übertragen (vgl. ebd. S. 99f.). Der so konstituierte Leviathan hat durch die Macht des Schwertes für allgemeinen Frieden und Sicherheit im Innern zu sorgen (vgl. ebd. S. 101f.; 191).

Der bellum ist dadurch nicht verschwunden, seine Wurzeln leben in der wölfischen Natur des Menschen fort. Und weil ebendieses „unausrottbare Machtstreben der einzelnen den Staat ständig bedroht, kann die Souveränität nicht geteilt werden“ (Euchner 1973, S. 25). So bedarf, nach Hobbes die Irrationalität des bürgerlichen Naturzustands der Rationalität eines absolutistischen Staates, soll jener nicht an seinen Widersprüchen zugrunde gehen. Hobbes’ Betonung der Notwendigkeit ungeteilter absoluter Souveränität stellte eine Absage an den revolutionären Konstitutionalismus seiner Zeit dar. Ohne die Teilung der Macht habe es laut Hobbes nicht zu jenem Bürgerkrieg kommen können, welcher den besonderen historischen Erfahrungshintergrund seines Werkes darstellt (vgl. Hobbes 1991, S. 126).

3. Historischer Erfahrungshintergrund des bellum

Der besondere historische Erfahrungshintergrund des Hobbesschen Begriffs des bellum omnium contra omnes ist der der ersten englischen bürgerlichen Revolution (1642–1649), welche sich gegen die absolutistischen Bestrebungen Charles I. richtete, auf die Etablierung des Konstitutionalismus zielte und die in der zeitweiligen Abschaffung der Monarchie und der Ausrufung der Republik gipfelte. Die Wirren des englischen Bürgerkrieges inspirierten ohne Zweifel jene Konstruktion des chaotischen Naturzustands, die 1651 veröffentlicht wurde. Sie kamen durch politische, nationale, religiöse und ökonomische Frontstellungen zustande, die sich gegenseitig immer wieder überlagerten: Es kämpften die Royalisten gegen das House of Commons, Schotten, Iren und Waliser gegen Engländer, Katholiken gegen Protestanten, Presbyterianer gegen Independenten, die Leveller gegen die neuen und alten Eliten usw. (vgl. Haan/Niedhard 2016, S. 168–182). Über ein Jahrzehnt herrschte in England Bürgerkrieg statt eines Souveräns – in Hobbes’ Worten: Behemoth statt Leviathan. „[M]an kann die Lebensweise, die dort, wo keine allgemeine Gewalt zu fürchten ist, herrschen würde, aus der Lebensweise ersehen, in die solche Menschen, die früher unter einer friedlichen Regierung gelebt hatten, in einen Bürgerkrieg abzusinken pflegen“ (Hobbes 1998, S 97). Hobbes selbst verbrachte das Jahrzehnt im Exil, zumeist am Hofe von Maria Henriette von Frankreich, Schwester von Ludwig XIV. und Gemahlin von Charles I. (vgl. Münkler 1993, S. 32).

Obgleich es kaum möglich ist, „die Erfahrung des Bürgerkriegs für sein Denken zu überschätzen“ (Münkler 1991, S. 224), stellte dieser lediglich den unmittelbaren Anlass für den Begriff des bellum dar. Denn schon vor der Erfahrung des Bürgerkriegsjahrzehnts schrieb Hobbes (1959): „Der Mensch ist ein Wolf für den Menschen“ (ebd. S. 59). Als der allgemeine historische Erfahrungshintergrund des Begriffs muss der Übergang von der alten feudalen zur neuen bürgerlichen Ordnung angesehen werden. Dieser Übergang, in welchem die bürgerliche Revolution katalysatorisch wirkte, hatte seine Anfänge in England bereits mehrere Jahrhunderte zuvor.

Politisch vollzog sich die Auflösung des englischen Feudalsystems mit der Implementierung eines absolutistischen Zentralstaats im 16. Jh., wodurch die Macht des Feudaladels drastisch beschränkt wurde. Es entstand ein rationaler Absolutismus, welcher das aufstrebende Bürgertum religiös und politisch zu unterdrücken trachtete, ökonomisch von diesem jedoch abhängig war. Dadurch entwickelte sich eine relative Machtstellung der neuen Bourgeoisie, die sich in der Institution des House of Commons politisch vergegenständlichte (vgl. Haan/Niedhardt 2016, S. 121). Der Widerspruch zwischen Unterdrückung und Abhängigkeit führte schließlich sowohl zum Versuch der Implementierung eines Willkür-Absolutismus durch Charles I. als auch zu dessen Scheitern: Von 1629 bis 1640 regierte er als Alleinherrscher mit einem radikal anti-bürgerlichen Programm, ohne das House of Commons einzuberufen. Im Krieg gegen die Schotten sah sich der Monarch jedoch gezwungen, das Parlament wieder einzuberufen, um finanzielle Hilfe zu erhalten. Weil das Parlament seine Unterstützung an unerhörte Mitbestimmungs- und Freiheitsforderungen knüpfte, löste es Charles jedoch nach drei Wochen wieder auf. Dies evozierte Unruhen, die den Anfang des englischen Bürgerkriegs markierten. Der Niedergang der alten Ordnung vollzog sich demnach politisch in der Transformation des Feudalismus in einen Absolutismus und schließlich in der Krise desselben: Der König wurde im Zuge der ersten englischen bürgerlichen Revolution zunächst aus dem Land gejagt und später – am 30. Januar 1649 – hingerichtet. Vier Monate später wurde England zur Republik ausgerufen (vgl. ebd. S. 167–188). Dieser folgte die Diktatur Cromwells, dann 1660 die Restauration und schließlich die zweite englische bürgerliche Revolution 1688–89, welche die erste in wesentlichen Punkten bestätigte und eine konstitutionelle Monarchie implementierte (vgl. Hill 1977, S. 136).

Ökonomisch begann die Auflösung des englischen Feudalsystems noch vor dessen politischer Erosion, wurde durch diese jedoch wesentlich beschleunigt. So wurden seit dem 13. Jh. sukzessive die Binnenzölle abgeschafft, wodurch die Entstehung nationaler Märkte begünstigt wurde (vgl. Stapelfeldt 2006, S. 67). In der zweiten Hälfte des 14. Jh. war die Leibeigenschaft bereits vollkommen verschwunden. „Die ungeheure Mehrzahl der Bevölkerung bestand damals und noch mehr im 15. Jahrhundert aus freien, selbstwirtschaftenden Bauern“ (Marx 1965, S. 744f.). Durch die enclosures ab dem 15. Jh. – die Einhegung von Gemeindeland zum Zwecke privater, warenförmiger Viehzucht vor allem für den Export – wurde vielen Menschen die Subsistenzgrundlage entzogen. Häufig wurden sie nicht nur ihres Ackerlandes beraubt, sondern auch von ihren Wohn- und Arbeitsstätten vertrieben. Massenweise Verelendung der ehemals leibeigenen Bevölkerung war die Folge (vgl. Haan/Niedhardt 2016, S. 82–86).  

Unmittelbaren Anstoß für diese Entwicklung gab „das Aufblühn der flandrischen Wollmanufaktur und das entsprechende Steigen der Wollpreise“ (Marx 1965, S. 746), m. a. W. die mit der Integration Englands in den damals von den Niederlanden dominierten Weltmarkt einhergehende steigende Bedeutung der Wollproduktion für den Export. Die enclosures führten dazu, dass die Landbevölkerung „sich massenhaft in Bettler, Räuber, Vagabunden“ verwandelte (ebd. S. 762). Eine weitere Konsequenz waren Landflucht und Verstädterung, denn viele waren gezwungen, sich für ihren Lebensunterhalt in den städtischen Manufakturen zu verdingen. So entstand das städtische Proletariat (vgl. Haan/Niedhardt 2016, S. 73).[3]

Die Lohnarbeitenden waren im traditionellen Sinne unfrei: Durch die „Blutgesetzgebung“ ab dem 16. Jh. wurden die Enteigneten, Vagabundierenden und Pauperisierten zur Arbeit gewaltsam gezwungen, den Erfordernissen des Manufakturbetriebs entsprechend diszipliniert, durch Vereinigungs- und Zunftverbote atomisiert und ihr Arbeitslohn systematisch herabgedrückt (Vgl. Marx 1965, S. 761; vgl. ebd. S. 761–770). Die Gewalt, welche das Elend dieser Menschen bedingte, war politisch und physisch und nicht abstrakt-ökonomisch (vgl. Gerstenberger 2018, S. 73–78).

Gewinner und sozialer Träger dieser Entwicklung war das neue Bürgertum, namentlich die Gentry, der niedere Land-Adel, der sich durch die enclosures zu einer Klasse von Großgrundbesitzern und agrarischen Kapitalisten entwickelte, weiterhin die Handelskapitalisten, welche von diesen Produktionsrationalisierungen profitierten, und schließlich die Manufakturisten, welche von der gewaltsamen Belebung des Arbeitsmarktes profitierten (vgl. Haan/Niedhardt 2016, S. 85–107). Aus diesen drei Gruppen speiste sich maßgeblich das House of Commons – sie waren, bei aller Uneinigkeit untereinander, auch die maßgeblichen Subjekte der ersten englischen bürgerlichen Revolution (vgl. ebd. S. 177–182). In dieser entluden und beschleunigten sich die skizzierten politisch-ökonomischen Entwicklungen. Ziel war die Implementierung eines merkantilistischen Staats, welcher das Recht auf Privateigentum garantierte, eine Handels- und Zollpolitik verwirklichte, die den Außenhandel begünstigte und die absolutistische Willkürherrschaft beendete, indem die Verwaltung rationalisiert und der Souverän der Verfassung untergeordnet wurde, welcher also m. a. W. der Durchsetzung von Verhältnissen freier Konkurrenz den Weg bereitete (vgl. Stapelfeldt 2006, S. 91f.).[4]

Der besondere wie allgemeine Erfahrungshintergrund des Hobbesschen Begriffs des bellum omnium contra omnes ist demnach die „sogen. ursprüngliche Akkumulation“ (Marx 1965, S. 766). In ihrem Verlauf konstituierte sich die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft. Die erste englische bürgerliche Revolution bildete den vorläufigen Höhepunkt dieser Entwicklungen, wodurch dieselben entscheidend beschleunigt wurden. Zu Hobbes Zeiten war die Scheidung von Produzierenden und Produktionsmitteln bereits fortgeschritten. Maßgebliche gesellschaftliche Gruppen waren entweder proletarisiert oder bourgeois. Es existierte bereits ein Arbeitsmarkt und ein Binnenmarkt vor allem für Agrarwaren – die Subsistenzökonomie war dagegen am Verschwinden (vgl. Haan/Niedhardt 2016, S. 29–36, 70f., 82). England war im Weltmarkt integriert und sollte diesen bald dominieren. Freilich war die bewusstlose Herrschaft des Kapitals noch nicht durchgesetzt und die Entwicklung vom Handels- zum Industriekapitalismus noch nicht vollzogen. Die später durch die kapitalistischen Verhältnisse vermittelte und von den bürgerlichen Subjekten inkorporierte Gewalt befand sich damals noch im Stadium roher Unmittelbarkeit und Äußerlichkeit (vgl. Marx 1965, S. 779).[5] Sowohl Handels-, Manufaktur- als auch Agrarkapital befanden sich jedoch auf dem Vormarsch und waren bereits stark genug, einem König, dessen Politik den neuen Notwendigkeiten der Kapitalakkumulation widersprach, den Prozess zu machen und ihm den Kopf abzuschlagen. Mit Marx (1967) lässt sich das so fassen, dass das „hinreichend erstarkte Kapital“ im Laufe der ursprünglichen Akkumulation die historischen Schranken der alten Gesellschaft niederriss, welche „die ihm adäquate Verkehrsweise […] genierten und hemmten“ (ebd, S. 543). Während die historischen Schranken u. a. in „Zunftzwang, Regierungsmaßregelung, innren Zöllen“ bestanden[6], bezeichnet die adäquate Verkehrsweise des Kapitals den„Zusammenstoß der entfesselten, nur durch ihre eigenen Interessen bestimmten Individuen“ (ebd. S. 542, 543). Das Konkurrenzprinzip – oder wie man ironischerweise heute auch sagen könnte: ‚social distancing‘ – war demnach bereits in einem Maße entwickelt und implementiert, dass Hobbes seine maßgeblichen Momente in seiner Naturzustandskonstruktion integrieren und als autodestruktiv-irrational kritisieren konnte.

4. Kritik des bellum

Die Hobbessche Naturzustandskonstruktion intendierte eine Kritik der im Zuge ursprünglicher Akkumulation und bürgerlicher Revolution aufkommenden bürgerlich-kapitalistischen Tendenzen. Im Begriff des bellum omnium contra omnes wird der merkantilistische Zusammenhang von Konkurrenz, Gewalt und autodestruktiver Irrationalität kritisch zugespitzt: Er macht die Restitution absoluter Souveränität notwendig. Es scheint daher zunächst, dass die Hobbessche Kritik voll und ganz auf dem Standpunkt des Alten stehe und sich gegen den Übergang zum Neuen stemme. So lehnte Hobbes die aufstrebende und aufbegehrende Handelsbourgeoisie in den englischen Städten ab und wandte sich gegen die Idee des Individualismus, welche bspw. als Gewissensfreiheit durch die Independenten gepredigt wurde (vgl. Fetscher 1998, S. XLIV; Münkler 1991, S. 236). Insofern wäre eine Kritik des Neoliberalismus, welche sich der Hobbesschen Begrifflichkeiten blindlings bedient, rückwärtsgewandt und veraltet. Im Folgenden soll jedoch dargelegt werden, dass zentrale Momente der Hobbesschen Kritik sich bereits auf dem Standpunkt des Neuen befanden und insofern der bürgerlichen Ideologie verhaftet waren. Durch die Kritik dieser Anteile kann das kritische Erkenntnispotential des Begriffs vom bellum freigelegt werden.

Zunächst stellt die rationalistische Lehre vom Gesellschaftsvertrag eine Abkehr von der metaphysischen Idee des Gottesgnadentums des Monarchen dar (auch wenn das Aufgehen der Untertanen im Leviathan noch immer metaphysische Momente beinhaltet): Der Staat wird aus der bürgerlichen Gesellschaft (resp. Naturzustand) hergeleitet und nicht andersherum. Vor allem aber ging Hobbes von impliziten, teils bewusstlosen sozialen Vorannahmen aus, durch welche er der neuen Ordnung bei aller Kritik verhaftet blieb:

So hat Macpherson (1973) zeigen können, dass Hobbes in seiner der Naturzustandskonstruktion zugrunde liegenden ‚Schlußfolgerung aus den Leidenschaften‘ nicht wie vorgegeben von der Natur des natürlichen Menschen, sondern von der Natur des gesellschaftlichen Menschen ausging:

„Sein Naturzustand ist eine Feststellung über das Betragen, das […] Menschen, die in zivilisierten Gesellschaften leben und die Bedürfnisse zivilisierter Wesen haben, an den Tag legen würden, wenn niemand mehr die Einhaltung von Gesetz und Vertrag […] erzwingen würde. Um zum Naturzustand zu gelangen, schob Hobbes das Gesetz beiseite, nicht jedoch die gesellschaftlich erworbenen Verhaltensweisen und Begierden der Menschen“ (ebd. S. 35).

Konkurrenz, Misstrauen und Ruhmsucht – nach Hobbes die wesentlichen Streitursachen in der menschlichen Natur, charakterisieren Macpherson zufolge nicht nur den Naturzustand: Es „sind die Faktoren der gegenwärtigen bürgerlichen Gesellschaft, die sie in den Zustand der Rohheit zurückwerfen würden, gäbe es keine allgemein anerkannte Autorität“ (ebd. S. 38; vgl. Hobbes 1998, S. 95f.). Das grenzenlose Machtstreben der sich im Naturzustand befindlichen Subjekte entspricht nicht mehr „traditionellen Gebrauchswert-Bedürfnissen“, sondern bereits „kapitalistischen Tauschwert-Bedürfnissen“ (Stapelfeldt 2006, S. 208). Nur unter der Voraussetzung, dass jeder zweckrational – „von seiner eigenen Vernunft angeleitet“ – seine egoistischen Ziele verfolgt, ist das allgemeine Konkurrenzverhältnis des Naturzustands zu denken (Hobbes 1998, S. 99).

Darüber hinaus bedarf es nach Hobbes voneinander isolierte eigennützige Subjekte, die die Verbindung des Vertrages und des Tausches eingehen und dadurch den Naturzustand verlassen können:

„Immer wenn jemand sein Recht überträgt oder darauf verzichtet, so tut er dies entweder in der Erwägung, daß im Gegenzug ein Recht auf ihn übertragen werde, oder weil er dadurch ein anderes Gut zu erlangen hofft. Denn es handelt sich um eine willentliche Handlung, und Gegenstand der willentlichen Handlungen jedes Menschen ist ein Gut für ihn selbst“ (ebd. S. 101).

Mit dieser Vorstellung korrespondiert die Hobbessche Bestimmung der naturrechtlichen Freiheit der Einzelnen als „Abwesenheit äußerer Hindernisse“ (Hobbes 1998, S. 99). Da eine solche Charakterisierung wesentlich auf der Trennung der Menschen und nicht auf ihrer Verbindung beruht, handelt es sich mit Marx (1976) gesprochen „um die Freiheit des Menschen als isolierter auf sich zurückgezogener Monade“ (ebd. S. 364). Ein solches Recht der Freiheit sei „das Recht dieser Absonderung, das Recht des beschränkten, auf sich beschränkten Individuums. Die praktische Nutzanwendung […] der Freiheit ist das […] Privateigentum […]“ (ebd. S. 364). Entsprechend wies auch Hobbes’ Begriff des Eigentums bereits bürgerliche Züge auf. Als Privates war es zumindest den Mitmenschen gegenüber exklusiv: „[D]as Eigentum eines Untertans an seinem Boden“ bestehe in dem „Recht […], alle anderen Untertanen von dessen Benutzung auszuschließen“ (Hobbes 1998, S. 191).[7] Es ist demnach das Recht, „ohne Beziehung auf andre Menschen, unabhängig von der Gesellschaft, sein Vermögen zu genießen und über dasselbe zu disponieren, das Recht des Eigennutzes“ (Marx 1976, S. 364). Sowohl Privateigentum als auch individuelle Freiheit – deren Einheit im Besitzindividualismus des 17. Jh. bestand – können laut Hobbes im Naturzustand nicht dauerhaft existieren; erst der Leviathan vermag sie zu sichern (vgl. Macpherson 1973, S. 295–304).

Hobbes setzte also implizit „vereinzelte Einzelne“ voraus (Marx 1967, S. 6). Doch indem er deren spezifische Charakteristika als anthropologische Naturkonstanten setzt, abstrahiert er von ihrer grundlegend gesellschaftlichen Konstitution – davon, dass „vereinzelte Einzelne […] nur in der Gesellschaft sich vereinzeln“ können (ebd.). Zwar impliziert der Begriff des bellum den Zwang zur Vereinzelung, doch erscheint dieser selbst lediglich als Konsequenz der wölfischen Natur des Menschen und nicht als Voraussetzung der Vereinzelung.  Nicht ohne Grund beginnt das Werk Leviathan, welches Hobbes als logisches System von aufeinanderfolgenden Deduktionen abgefasst hat, mit der Natur des Menschen. Mit dieser Individualisierung gesellschaftlicher Verhältnisse stand Hobbes bereits auf dem Standpunkt bürgerlicher Ideologie.

Hobbes’ ambivalent erscheinendes Verhältnis zur neuen Ordnung ist Ausdruck der gesellschaftlichen Situation des Übergangs, in der neue und alte Kräfte zeitgleich wirken, mal in Widerspruch und mal in Harmonie zueinander stehen. Diese eigentümliche Konstellation führt dazu, dass die Hobbessche Kritik nicht nur nicht radikal ausfällt, sondern sogar in Apologie umschlägt: in die Verdinglichung des bürgerlichen Konkurrenzverhältnisses zu einem– wenn auch hypothetischen – Naturzustand, der auch durch die Herrschaft des Leviathans nicht verschwindet. So hat Hobbes eine politische Theorie der „autoritäre[n] Herrschaft über das Bürgertum zu dessen Gunsten“ (Euchner 1973, S. 28) formuliert. Im Behemoth formulierte Hobbes 1668 in Bezug auf das aufbegehrende Bürgertum der Städte:

„ich betrachte den größten Teil der reichen Leute […] als Menschen, die auf nichts anderes als auf ihren augenblicklichen Nutzen sehen […]. Wenn sie verstanden hätten, von wie großem Wert es gewesen wäre, ihr Wohl in Gehorsam gegenüber ihrem gesetzmäßigen Herrscher zu wahren, hätten sie sich nie auf die Seite des Parlaments geschlagen, und so wäre es nie nötig gewesen, zu den Waffen zu greifen“ (Hobbes 1991, S. 142).

Es ist jedoch auch diese Situation des Übergangs, in der das Neue noch unverhüllt zutage tritt. Und hierin liegen Aktualität und Erkenntnispotential des Begriffs des bellum begründet. Reduziert „man Hobbes’ universellen Anspruch auf ein historisches Maß“ (Macpherson 1973, S. 25) und geht also davon aus, dass es der bellum ist, der die Menschen zu Wölfen macht, und nicht umgekehrt ihre wölfische Natur den bellum konstituiert, so lässt sich der kritische Gehalt des Begriffes retten. Er verweist dann zunächst auf den grundlegenden Antagonismus der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, vor dessen Hintergrund sich notwendig die Frage nach ihrer paradoxen Einheit stellt. Gleichzeitig bringt er ihr paradigmatisches Gewaltverhältnis auf den Begriff, indem er historisch Zeugnis von der ursprünglichen Akkumulation ablegt und logisch das Fortleben der Gewalt in dieser Gesellschaft darstellt. Weiterhin beschreibt er die gesellschaftliche Irrationalität bei gleichzeitiger Zweckrationalität der Teile, welche immer wieder in Irrationalität umzuschlagen droht. Die kompetitive Freiheit der Einzelnen schlägt im bellum in kollektive Unfreiheit um: Analog sind auch nach Marx (1967) nicht „die Individuen […] frei gesetzt in der freien Konkurrenz; sondern das Kapital ist frei gesetzt“ (ebd. S. 544).

Diese freie Konkurrenz, welche das Wesen des bellum ausmacht, ist begrifflich schließlich „nichts als die innre Natur des Kapitals, seine wesentliche Bestimmung, erscheinend und realisiert als Wechselwirkung der vielen Kapitalien aufeinander, die innre Tendenz als äußerliche Notwendigkeit“ (ebd. S. 317). Der bellum omnium contra omnes lässt sich daher charakterisieren als die bewusstlose Vermittlung der besonderen Einzelnen mit- und gegeneinander, durch welche das Kapitalverhältnis als allgemeines Gesetz gesetzt wird (vgl. ebd. S. 559). So bezeichnet der bellum das grundlegende Prinzip bürgerlich-kapitalistischer Vergesellschaftung: das irrationale Gewaltverhältnis zwischen vereinzelten Einzelnen, welche zueinander in Konkurrenz stehen, indem sie ihre antagonistischen Privatinteressen verfolgen. Dieses kritische Erkenntnispotenzial des Begriffs lässt sich auch für die Analyse der neoliberalen Gegenwart nutzen, deren ‚spontane Ordnung‘ durch die Vermittlung ‚sozialer Distanzierung‘ entsteht. Seine einfache Subsumtion auf heutige Verhältnisse wäre jedoch ahistorisch. Um ihr zu Aktualität zu verhelfen, bedarf es daher zunächst – zum Abschluss dieses Beitrages – der Reflexion auf den spezifischen Zeitkern der Hobbesschen Kritik.

5. Zeitkern des bellum

Einerseits gleicht der bellum omnium contra omnes „dem Modell einer perfekten Konkurrenzgesellschaft“ (Euchner 1973, S. 25). Andererseits vermengt der Begriff „zwei Zustände miteinander […]: den der […] Konkurrenz […] und den rohen Zustand des Krieges“ (Macpherson 1973, S. 42). Der bellum ist Inbegriff spontaner Unordnung vermittels ‚sozialer Distanzierung‘. In diesem unmittelbaren Zusammenhang von Konkurrenz, Gewalt und Irrationalität verweist der Hobbessche Naturzustandsbegriff auf die politisch-ökonomische Wirklichkeit des Merkantilismus. Hierin liegt seine historische Wahrheit – sein Zeitkern (vgl. Horkheimer/Adorno 2008, S. IX). 

Der Zusammenhang von Gewalt und Konkurrenz spiegelt sich nirgends so deutlich wider wie in der aggressiven Handelspolitik des merkantilistischen Englands[8], welche zunächst unter Cromwell (1653–1658) implementiert, in der Restauration in wesentlichen Punkten übernommen und schließlich von Wilhelm III. (1689–1702) und dem älteren Pitt (1756–1761; 1766–1768) erneuert wurde. Ihre bevorzugten Mittel waren kriegerische Auseinandersetzungen, Piraterie, Seeblockaden und Protektionismus, wodurch die führende Stellung Englands im Weltwirtschaftssystem begründet wurde (vgl. Hill 1977, S. 124–135). Die britische Politik zeichnete sich im 18. Jh. „durch systematische Aggressivität aus“ (Hobsbawm 1972, S.–48). Im Jahr, in dem der Leviathan veröffentlicht wurde (1651), trat auch die erste Navigationsakte in Kraft. Sie ermöglichte England eine einheitliche nationale Kolonialpolitik und legte fest, daß der Handel mit den englischen Kolonien englischen Schiffen vorbehalten bleiben sollte. Dadurch sollte der von den Niederlanden dominierte Zwischenhandel ausgeschaltet werden. Dem folgte der erste Englisch-Niederländische Seekrieg 1652–54, in dessen Folge die Niederlande das englische Handelsmonopol mit seinen Kolonien anerkennen mussten. Die Navigationsakte und weitere Seekriege brachen in der zweiten Hälfte des 17. Jh. die niederländische Vormachtstellung im Welthandel. Nachdem die Niederlande geschlagen waren, richtete sich die englische Außen- und Handelspolitik gegen den neuen Hauptkonkurrenten Frankreich. In den fünf großen Kriegen des 18. Jh., an denen England teilnahm, – dem Spanischen (1701–14) und dem Österreichischen Erbfolgekrieg (1740–48), dem Siebenjährigen (1756–63) und dem Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg (1776–83) sowie den Revolutions- und Napoleonischen Kriegen (1793–1815) – „befand sich Großbritannien nur in einem einzigen eindeutig in der Defensive“ (Hobsbawm 1972, S. 48; vgl. ebd. S. 47–51).

Die außerökonomische Gewalt richtete sich also sowohl gegen konkurrierende Handelsnationen wie die Niederlande, Frankreich, Spanien oder Portugal als auch, wie oben dargelegt, gegen das entstehende Proletariat. Darüber hinaus war sie integraler Bestandteil der Kolonialherrschaft, welche ein weiteres „Hauptmoment […] der ursprünglichen Akkumulation“ darstellte (Marx 1965, S. 779). Die Kaufleute und ihre Handelsgesellschaften, allen voran die Eastindia Company, verdienten in den Kolonien „mit Methoden Geld […], die von Plünderung und Piraterie kaum zu unterscheiden waren“ (Hill 1977, S. 128). Im Dreiecks- und Sklavenhandel erfuhr der Zusammenhang von roher Gewalt und Profitstreben eine weitere Intensivierung:

„[D]ie Sklaven wurden mit britischen Exporten gekauft und auf britischen Schiffen transportiert. […] Sklaven konnten auf den westindischen Inseln für das fünffache dessen verkauft werden, was sie an der afrikanischen Küste kosteten. Daher brauchten sich die Sklavenhändler über Transportverluste (bis zu 20 Prozent) [sic!], die sich unter den katastrophalen Zuständen auf den Sklavenschiffen nicht vermeiden ließen, auch keine besonderen Sorgen zu machen“ (ebd. S. 183f.).

Das irrationale Moment der Epoche des Merkantilismus und sein Zusammenhang zu Gewalt und Konkurrenz begründet sich im merkantilistischen Dogma des ungleichen Tausches. Dieses bestimmte die Sphäre des Außenhandels, in welchem das primäre Mittel nationaler Bereicherung bestand. Die restriktive Zoll- und Kolonialpolitik sorgte für eine aktive Handelsbilanz, indem fast ausschließlich (unbearbeitete) koloniale Rohstoffe importiert und vor allem (bearbeitete) Manufakturwaren exportiert wurden – die Wertdifferenzen ließen sich die Händler zumeist in kolonialen Edelmetallen auszahlen. Das „zentrale Medium der merkantilistischen Bereicherung“ funktionierte demnach auf Kosten vorbürgerlicher Regionen; der ungleiche Tausch implizierte eine ungleiche Entwicklung (Stapelfeldt 2006, S. 165).

Eine analoge Spaltung existierte innerhalb der englischen Nationalökonomie selbst: auf der einen Seite die Sphäre der Zirkulation, des Handels und der ökonomischen Bereicherung, auf der anderen Seite die Sphäre der Produktion, der Ausbeutung durch außerökonomische Gewalt für den Export. Die Produktion war Anhängsel des Außenhandels: Produziert wurde zu möglichst geringen Kosten vor allem für den Export. Damit verbunden war das merkantilistische Dogma, dass „die Löhne […] so niedrig wie möglich gehalten werden [müssten]“ (Hill 1977, S. 209). Daraus folgte die politisch-administrative Festsetzung von Maximallöhnen durch Friedensrichter, was ebenfalls ein Verhältnis ungleichen Tausches implizierte: zwischen unfreien Lohnarbeitenden und freien Besitzenden.

Die handelskapitalistische Ökonomie stellte demnach einen Zusammenhang dar, welcher nicht aus sich selbst heraus Reichtum hervorzubringen vermochte: Einerseits lagen die Quellen des Reichtums außerhalb des Systems – in den Rohstoffen der weltgesellschaftlichen Peripherie der Kolonien und in der Arbeitskraft von unfreien Lohnarbeitenden und Versklavten. Andererseits war die Form der Aneignung dieses Reichtums außerökonomische und meist rohe Gewalt – in der Manufaktur, in den Kolonien, auf hoher See und auf den Sklavenmärkten und -plantagen. So war die merkantilistische Politik-Ökonomie nicht in der Lage, sich selbst zu reproduzieren. Indem systematischer Raubbau an den Quellen des Reichtums betrieben wurde, war sie autodestruktiv-irrational. Darin bestand die Notwendigkeit der politischen Integration des merkantilistischen bellum durch den Leviathan: Der Staat hatte immer neue Quellen des Reichtums zu erschließen und die Kontrolle über die bereits Erschlossenen auszuweiten.

Diese Strategie stieß im 18. Jh. an ihre Grenzen, da sie die inneren Widersprüche der Epoche lediglich verdrängte. Ebendiese führten schließlich zur Liberalisierung des bellum: zum scheinbaren Auseinandertreten von Gewalt, Irrationalität und Konkurrenz. Im Liberalismus erschien der bellum als ‚fair play‘, wodurch er sich vom Primat des Staates emanzipieren und zum Motor gesellschaftlichen Fortschritts avancieren konnte. In den folgenden Epochen des Imperialismus und des Staatsinterventionismus erschien der bellum dann sukzessive als verdinglichte Natur von Mensch und Gesellschaft.

Damit ist bereits der Ausblick auf eine Rekonstruktion des historisch-spezifischen Strukturwandels des bellum gegeben, die über den Merkantilismus hinausgeht. Ihr Ziel ist die erinnernde Bestimmung des Kampfs ums Dasein, der im Neoliberalismus allgegenwärtig geworden zu sein scheint. Sie geht von einem Fortdauern der irrationalen Gewaltgeschichte in der Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft aus und beleuchtet zunächst die wechselnden Konstellationen von Gewalt, Irrationalität und Konkurrenz und schließlich das Verhältnis zwischen bellum und Staat. Sie soll Gegenstand weiterer Untersuchungen sein – Fortsetzung folgt.

6. Literatur

Adorno (2019). Bemerkungen zu ‚The Authoritarian Personality‘ und weitere Texte. Berlin: Suhrkamp.

Adorno (2016) Erziehung nach Auschwitz. In: ders. Gesammelte Schriften. Band 10.2 (6. Auflage). Frankfurt am Main: Suhrkamp. S. 674–690.

Euchner, Walter (1973). Egoismus und Gemeinwohl. Studien zur Geschichte der bürgerlichen Philosophie. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Fetscher, Iring (1998). Einleitung. In: Hobbes, Thomas (1998): Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S.IX–LXVI

Gerstenberger, Heide (2018). Markt und Gewalt. Die Funktionsweise des historischen Kapitalismus. Münster: Westfälisches Dampfboot.

Haan, Heiner/Niedhart, Gottfried (2016). Geschichte Englands vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. München: C. H. Beck.

Hayek, Friedrich A. von (1991). Die Verfassung der Freiheit. Tübingen: Mohr.

Hayek, Friedrich A. von (1980). Recht, Gesetzgebung und Freiheit. Band 1: Regeln und Ordnung. München: mi-Verlag Moderne Industrie.

Hill, Christopher (1977). Von der Reformation zur Industriellen Revolution. Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Englands 1530–1780. Frankfurt am Main/New York: Campus.

Hobbes, Thomas (1959). Vom Bürger. In: ders. (1959): Vom Menschen. Vom Bürger (2. Auflage). Hamburg: Felix Meiner. S. 59–327.

Hobbes, Thomas (1998). Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Hobbes, Thomas (2010). Leviathan. Erster und Zweiter Teil. Stuttgart: Reclam.

Hobbes, Thomas (1991). Behemoth oder Das Lange Parlament. Frankfurt am Main: Fischer.

Hobsbawm, Eric (1972). Industrie und Empire I. Britische Wirtschaftsgeschichte seit 1750. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Horkheimer, Max/Adorno Theodor W. (2008). Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt am Main: Fischer.

Krauthausen, Raul (2021). „Ich fühle mich nicht ausreichend geschützt“. In: ze.tt, https://www.zeit.de/zett/politik/2021-01/raul-krauthausen-risikopatient-corona-pandemie-impfstrategie-kritik (letzter Zugriff: 13.02.2021).

Macpherson, Crawford Brough (1973). Die politische Theorie des Besitzindividualismus. Von Hobbes bis Locke. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Marx, Karl (1976). Zur Judenfrage. In: Marx, Karl/Engels, Friedrich – Werke, Band 1. Berlin: Dietz. S. 347–377.

Marx, Karl (1967). Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. Wien: Europäische Verlagsanstalt.

Marx, Karl (1965). Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band. In: Marx, Karl/Engels, Friedrich – Werke, Band 23. Berlin: Dietz.

Münkler, Herfried (1991). Thomas Hobbes’ Analytik des Bürgerkrieges. In: Hobbes, Thomas (1991). Behemoth oder Das Lange Parlament. Frankfurt am Main: Fischer. S. 215–238.

Münkler, Herfried (1993). Thomas Hobbes. Frankfurt am Main: Campus Verlag.

Stapelfeldt, Gerhard (2006). Der Merkantilismus. Die Genese der Weltgesellschaft vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. Freiburg: ça ira.

Stapelfeldt, Gerhard (2012). Neoliberaler Irrationalismus. Aufsätze und Vorträge zur Kritik der ökonomischen Rationalität II. Hamburg: Dr. Kovač.

Stapelfeldt, Gerhard (2014). Aufstieg und Fall des Individuums. Kritik der bürgerlichen Anthropologie. Freiburg: ça ira.


[1] „Mittlerweile habe ich allerdings die Sorge, dass der Begriff ‚Risikogruppe‘ neu besetzt wird: als die Gruppe, die ein Risiko für die Wirtschaft darstellt. Aus CDU und vor allem FPD [sic] hört man immer wieder, man müsse die Risikogruppen schützen, um den Lockdown zu beenden. Da werde ich hellhörig, für mich heißt das: Wir müssen diese Gruppe also nicht schützen, um sie zu schützen, sondern damit die Wirtschaft und das ‚normale‘ Leben weitergehen können.“ (Krauthausen 2021, S. 2).

[2] Ich schreibe „im modernen Sinne“, da Hobbes an vielen Stellen durchaus von einem vorgesellschaftlichen Naturzustand schreibt, obwohl er lediglich von der Staatsmacht abstrahiert. Dies liegt daran, dass für Hobbes wie für viele andere seiner Zeit Gesellschaft nur als staatlich konstituierte vorstellbar war – ganz im Sinne der politischen Gesellschaft des Feudalismus.

[3] 1648 waren einer Schätzung Macphersons zufolge bereits ca. 50 Prozent der gesamten Bevölkerung lohnarbeitend, auch wenn nach Hill diejenigen, welche ausschließlich von Lohnarbeit lebten, im 17. Jh. noch in der Minderheit waren (Hill 1977, S. 121, S. 141; Macpherson 1973, S. 311–327).

[4] Zu deren Verwirklichung im Zuge der ersten englischen bürgerlichen Revolution: vgl. Hill 1977, S. 106, 115–119, 144f.

[5] Lediglich die besitzenden Klassen, zu welchen auch die aufstrebenden bürgerlichen gehörten, bestanden aus freien und zunehmend gleicheren Subjekten, welche in der Lage waren, sich gegeneinander zu vereinzeln. Sie waren die Subjekte des bellum. Lohnarbeitende, Versklavte und die Eingeborenen der Kolonien wurden stattdessen als Objekte von Herrschaft behandelt.

[6] Zu deren sukzessiver Beseitigung im Zuge der Ersten Bürgerlichen Revolution: vgl. Hill 1976, S. 130; 136

[7] Die Forderungen der Revolutionäre gingen freilich noch weiter. Nach Hobbes sei der Souverän nicht von der Benutzung des Privateigentums auszuschließen (vgl. Hobbes 1998, S. 191).

[8] Die historische Betrachtung beschränkt sich an dieser Stelle auf Großbritannien. Dies begründet sich einerseits darin, dass der Hobbessche Begriff des bellum auf englische Verhältnisse referiert. Andererseits entwickelte sich England in dieser Zeit zum Zentrum der bürgerlich-kapitalistischen Weltgesellschaft, welches als Pionier der Industrialisierung bis zum Ende des 19. Jh. die kapitalistische Weltwirtschaft dominierte.

Kritische Soziale Arbeit: quo vadis?

Anlässlich einer aktuellen Debatte ein Gastbeitrag von Michael May

Zum Anlass dieses Beitrages

Dass der im politischen und medialen Diskurs propagierte Slogan der „Systemrelevanz“ auch in einer Kampagne des Deutschen Berufsverbandes für Soziale Arbeit (DBSH)[1] aufgegriffen worden ist, hat im Kontext Sozialer Arbeit eine kontroverse Debatte angestoßen. So hat im Blog Soziale Arbeit der Deutschen Gesellschaft für Soziale Arbeit (DGSA) Anja Eichhorn[2] das „fragwürdige[] Etikett“ von „Systemrelevanz“ als ein „von außen vergeben[es], immer auch politisch motiviert[es] dahingehen problematisiert, „ob mit ihm nicht die Gefahr der Fremdmandatierung Sozialer Arbeit“ einhergehe. Demgegenüber sei „Soziale Arbeit […] per definitionem (IFSW/IASSW 2014) aber gerade für diejenigen relevant, die von sozialer Ausgrenzung oder Unterdrückung betroffen oder bedroht sind“, und ziehe „ihre Interventionsmotive häufig gerade aus den systemimmanenten Bedingungen, die zu Ausgrenzung, sozialem Ausschluss und Unterdrückung beitragen“.

Sehr viel weiter geht die vom Arbeitskreis Kritische Soziale Arbeit Hamburg (AKS HH) in Form eines „Zwischenrufs“ formulierte Kritik[3]: Vor dem Hintergrund, dass – verschärft durch die Corona-Pandemie – für immer mehr Menschen unter den gegenwärtigen Bedingungen die Existenzgrundlage schwinde, müsse Soziale Arbeit als sozialräumliche und kollektive Infrastruktur organisiert und in diesem Sinne als „systemtransformationsrelevant“ verstanden werden. In diesem Sinne appelliert der AKS HH: „Seien wir systemtransformationsrelevant und lasst uns die Krise nutzen, um alternative Ideen und Praxen zu entwickeln!“

In einem Beitrag für diese Zeitschrift haben Marcus Beisswanger und Norman Böttcher (2021) unter dem Titel „Soziale Arbeit distanzgemindert? Ein Plädoyer für systemische Irrelevanz“ sich sowohl kritisch mit der Argumentation des DSBH wie auch der des AKS HH auseinandergesetzt. Sie plädieren dabei für einen „Mut zur Selbstdistanzierung, welcher auch in der Corona-Krise dem eigenen Unbehagen an der zweiten Natur, dem ›Sozialen‹, nachzuspüren vermag, ohne dieses Unbehagen blindlings durch transformatorische Praxis auflösen zu wollen“ (ebd., S. 89). Demgegenüber müsste ihrer Ansicht nach eine „kritische (sozialpädagogische) Praxis […] erprobt werden im Bewusstsein der eigenen, systemischen Irrelevanz und der Unmöglichkeit einer umfassenden Transformation, also darüber, dass sich allein durch sie keine transformatorische oder gar revolutionäre Situation herstellen lässt“ (ebd., S. 88).

In ihrem Beitrag haben sie bereits einige Kritikpunkte vorweggenommen, die sich auch in einer kritischen Positionierung des AKS Leipzig an dem vom AKS Braunschweig/Wolfenbüttel organisierten Vernetzungstreffen vom 26./27. November 2021 unter dem Motto „Transformative Soziale Arbeit“ wiederfinden. Geleitet sind diese – wie der AKS Leipzig formuliert – von der Intention, „die gesellschaftliche Funktion der Sozialen Arbeit im kapitalistischen System zu hinterfragen und die Soziale Arbeit nicht hoch zu stilisieren“, artikuliere sich darin doch „ein verkürztes Verständnis der historisch-gewachsenen systemstabilisierenden Funktion Sozialer Arbeit“.

Da der AKS Leipzig seine Kritik explizit als Anregung verstanden wissen will, „zu den genannten Kritikpunkten ins Gespräch“ zu kommen, will ich dies gerne aufgreifen. Obwohl ich seit Jahren als ein im Bereich Forschung und Lehre Beschäftigter die Arbeit der AKS RheinMain und Frankfurt begleite, handelt es sich um meine eigene Positionierung. Diese greift ein auf Marx zurückgehendes Verständnis von Dialektik auf, welches von einem „Primat der praktischen Dialektik“ (Haug 2008, S. 30) als einer „Endlichkeitskunst“ (ebd.) ausgeht, deren „Notwendigkeit […] in der unaufhebbaren Nichtidentität von Denken und Sein“ (ebd.) gründet. Die sich „ihrem umfassenden Anspruch nach [als] eine Philosophie der gesellschaftlichen Praxis“ (Schmied-Kowarzik 2019, S. 11f.) verstehende theoretische Dialektik sieht sich im Dienste dieser praktischen, indem sie „in kritischer Analyse der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse deren strukturelle Widersprüche und destruktive Tendenzen gegenüber den in ihr tätigen Individuen aufzudecken versucht, um dadurch sowohl die Notwendigkeit einer radikalen Umwälzung in Richtung auf eine solidarische Gesellschaft aufzuzeigen“ (ebd., S. 11f.), als auch mäeutisch eine „sich und die gesellschaftlichen Verhältnisse verändernden revolutionären Praxis“ (ebd., S. 12) der „tätigen Individuen“ (ebd.) zu befördern. Es gilt dabei den „Bann der Dialektik der Aufklärung im Doppelsinn ihres Gegenstands und ihrer Denkweise, zu durchbrechen, und, sei es auch nur punktuelle und momentan, befreiende Beweglichkeit zurückzugewinnen“ (Haug 2008, S. 31) sowie Entfremdung momenthaft zu überwinden (vgl. May 2022b).

Vor dem Hintergrund, dass Beisswanger und Böttcher am Vorschlag des AKS HH „den präziseren Begriff der »Systemtransformationsrelevanz« als Maßstab für die grundlegende Veränderung aller gesellschaftlichen Sphären in Richtung auf Kooperation und Emanzipation“ kritisieren, weil auf diese Weise „nicht der Begriff des Systems als solcher kritisiert, seziert und auf seinen Sinngehalt hin analysiert, sondern durch einen Gegenbegriff ersetzt wird“ (Beisswanger und Böttcher 2021, S. 82), will auch ich mich – gestützt auf jene theoretische Dialektik – zunächst kritisch mit diesen Begriffen auseinandersetzen, zumal die beiden meinen, diesbezüglich „nicht nur auf eine verkürzte Form der Begriffsarbeit, sondern eben auch auf die besondere Bedeutung schließen“ zu können, „die der Sprache im Kontext von Gesellschaftskritik beigemessen wird“ (ebd.). Auf dieser Grundlage will ich dann jeweils meine Position zu den Perspektiven einer praktischen Dialektik Kritischer Sozialer Arbeit zur Diskussion stellen.

Zur Problematik des Systembegriffes

Geteilt wird von mir (vgl. May 2010, S. 134ff.) die Kritik von Beisswanger und Böttcher an den Systemtheorien sowohl von Luhmann als auch von Bunge, auf den sich die sog. Zürcher Schule (Staub-Bernasconi, Obrecht et al.) stützt. Auf der einen Seite kritisieren sie darüber hinaus, dass eine „theoretische Reflexion, die Gesellschafts- durch Systemkritik ersetzt, […] sich selbst in der Betriebsamkeit, aus der sie sprunghaft auszubrechen versucht“ (Beisswanger und Böttcher 2021, S. 84), verfange. Auf der anderen Seite rekurrieren sie selbst auf einen auch bei ihnen nicht hinreichend geklärten Systembegriff. Zunächst scheint es, dass sich dieser bei ihnen auf die Konstitution des bürgerlichen Sozialstaates bezieht. So kritisieren sie die „terminologische Unbestimmtheit des DBSH-Appells […] hinsichtlich […] der normativen Grundlage seiner Kritik in einem Staat, dessen Grundgesetz formal genau auf diesen einklagbaren Menschenrechten fußt“ (ebd., S. 78), auf die sich in ihm bezogen wird, wenn darin Systemrelevanz für die Soziale Arbeit nicht nur als Aufrechterhaltung des „Gesellschaftssystem in seiner aktuellen Form“ bestimmt wird, sondern mit diesem Begriff zugleich verbunden wird, „es auch dahingehend zu verändern, dass Inklusion und die Umsetzung der Menschenrechte in allen Bereichen der Gesellschaft möglich werden“[4]. Wenn Beisswanger und Böttcher daraus schließen, „dass mit der besagten Veränderung kein kategorialer system change in Bezug auf die bürgerlichen Rechtsverhältnisse intendiert ist“ (ebd.), impliziert dies ja einen Systembegriff, der zunächst einmal die Struktur des bürgerlichen Rechts fokussiert, „sozialstaatliche[] Verbürgungen als individuelle Rechtsansprüche für genau spezifizierte Tatbestände zu formulieren“ (Habermas 1981, S. 531), der sich dann aber auch noch weitergehend auf das beziehen könnte, was Nancy Fraser (1994) als juristisch-administrativ-therapeutischer Staatsapparat (JAT) analysiert hat.

Auf einen sehr viel weitergehenden und dann auch nicht mehr konkret bestimmten Systembegriff scheinen sie sich aber in ihrem Postulat zu beziehen, dass erst „wenn die (kritische) Praxis und ihre Reflexion konsequent darauf ausgerichtet sind, irrelevant für das bestehende System zu sein, […]  durch diese Distanz eine angemessene Form der Gesellschaftskritik möglich [werde]. Diese kritische Praxis dürfte dabei jedoch nicht ausblenden, dass das System weder unmittelbar noch ohne weitere Beschädigung seiner Subjekte, für die es in der Transformationsphase mehr denn je der social bzw. care work bedarf, überwindbar ist. Da Soziale Arbeit ohne Reflexion bestehender Praxis und ohne Systemabhängigkeit keine wäre, ist sie per se bestenfalls ein Reformprojekt, wenngleich ein notwendiges. Und darin liegt die Wahrheit des Begriffs der Systemtransformation“ (Beisswanger und Böttcher 2021, S. 88).

Vor dem Hintergrund ihrer Kritik an einer „theoretische[n] Reflexion, die Gesellschafts- durch Systemkritik ersetzt“ (ebd., S. 84), und ihre verschiedentlichen Bezugnahmen auf Adorno könnten sie sich dabei auf dessen Begriff von Gesellschaft beziehen „als ein System, das sie [die Menschen M.M.] nicht bloß umklammert und deformiert, sondern noch in jene Humanität hinabreicht, die sie einmal als Individuen bestimmte“ (Adorno 1986a, S. 169). Adorno beansprucht damit, „auf Strukturen der Gesellschaft rekurrieren zu können, die […] dem System der Gesellschaft selber entnommen sind oder das System der Gesellschaft selber treffen, und die nicht etwa durch das szientifische Bedürfnis und die szientifische Organisation hervorgebrachte Systematisierungen oder Ordnungsschemata sind“ (Adorno 1986e, S. 581). Von entscheidender Bedeutung für Adorno ist in diesem Zusammenhang das Tauschverhältnis, welches aus seiner Perspektive „das objektiv gültige, vom Bewußtsein der einzelnen ihr unterworfenen Menschen ebenso wie von dem der Forscher unabhängige Modell alles gesellschaftlich wesentlichen Geschehenden“ (Adorno 1986b, S. 209) liefere. Vor diesem Hintergrund ist es für Adorno das Tauschverhältnis, welches dem System von „Gesellschaft als Synthesis eines atomisierten Mannigfaltigen, als reale, doch abstrakte Zusammenfassung eines keineswegs unmittelbar, ›organisch‹ Verbundenen, […] in weitem Maß mechanischen Charakter [verleiht]: es ist seinen Elementen objektiv aufgestülpt“ (Adorno 1986c, S. 321).

Zweifellos hat das Tauschverhältnis weite Teile gesellschaftlichen Lebens bis hinein in die Intimbeziehungen überformt. Und selbst die sozialstaatlichen Erbringungsverhältnisse Sozialer Arbeit wurden der Tauschlogik unterworfen – besonders prägnant im Rahmen der den aktivierenden Sozialstaat (Dahme und Wohlfahrt 2005; Dollinger und Raithel 2006) kennzeichnenden neoliberalen Maxime des Forderns und Förderns. Allerdings lassen sich nicht alle menschlichen Verkehrsformen der Tauschlogik unterwerfen. Und dies betrifft, neben Formen gemeinsamer, lustvoller Verausgabung vor allem heute unter dem Care-Begriff (vgl. May 2014) zusammengefasste Sorge-Praxen (z. B. gegenüber Kindern und Pflegebedürftigen) und auch viele darunter subsumierte Bereiche professioneller Sozialer Arbeit.

Nun verwendet Adorno den auf gesellschaftliche Verhältnisse bezogenen System-Begriff keineswegs konsistent – bis dass er „trotz der totalen Vergesellschaftung der Gesellschaft, den Versuch, sie als einstimmiges System zu konstruieren, überaus fragwürdig“ (1986f, S. 167) bezeichnet, werde doch die „anwachsende Irrationalität der Gesellschaft selbst, wie sie in den Katastrophendrohungen heute, dem offenbaren Potential der Selbstausrottung der Gesellschaft, sich manifestiert, […] unvereinbar mit rationaler Theorie. Diese kann kaum länger mehr die Gesellschaft bei einem Wort nehmen, das sie selber nicht mehr spricht“ (1986f, S. 167). Und auch seine diesbezüglichen Anschlüsse an Marx sind nicht immer unproblematisch:

Zwar finden sich diverse Formen der Rezeption der Marxschen Kapitalanalyse, die Schmied-Kowarzik (2022) jüngst noch einmal zu systematisieren versucht hat. Dabei sieht er bei den von ihm unterschiedenen „drei Varianten – der empirisch-pragmatischen sowie der strukturalen bzw. dialektischen Marx-Lektüre – […] die eigentliche Pointe der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie verloren [gehen], nämlich im Verfolg der Wertlogik des Kapitals ex negativo aufzuweisen, dass diese strukturell die Negation der arbeitenden Menschen und der Natur betreibt, obwohl sie doch ohne beide nicht zu sein vermag“ (ebd., S. 11). Wie er überzeugend herausarbeitet, ist diese „Argumentation ex negativo […] als Kritik nur deshalb möglich, weil sie – wie Marx in seinen philosophischen Frühschriften grundlegend dargestellt hat – selbst in der gesellschaftlichen Praxis gründet und sich als ein Moment im Dienste der emanzipativen Praxis versteht, durch die die arbeitenden Menschen die Negativität der wertökonomischen Logik des Kapitals durchschauen und deshalb vereinigt durchbrechen können“ (ebd.).

Adorno schließt daran an, wenn er im Hinblick auf einen über das Tauschverhältnis hinausgehenden, auf die Warenproduktion der Gesellschaft bezogenen Systembegriff vorsichtig formuliert: „Es sieht aus, als ob der Begriff der Anarchie bei Marx in einem durchaus kritischen Sinn verwandt wurde […]. Aber dahinter steht die Vorstellung von der Anarchie der Warenproduktion, also von einem Zustand, in dem die Menschen den über sie ergehenden gesellschaftlichen Gesamtprozeß als ein für jeden Einzelnen Blindes und Zufälliges erfahren. Die Idee hinter der Kritik einer solchen Anarchie ist die einer Kritik an dem über die Menschen herrschenden System“ (1986e, S. 583). Allerdings betont Marx (1983, S. 416f.), dass dieses spezifische „System des Austauschs“ (ebd.) – die „auf dem Tauschwert basierte Produktion und das auf dem Austausch dieser Tauschwerte basierte Gemeinwesen“ (ebd.), welches „die Trennung der Arbeit von ihren objektiven Bedingungen“ (ebd.) „unterstellt und produziert“ (ebd.) – nicht getrennt davon betrachtet werden könne, „wie es sich an der Oberfläche selbst zeigt, als selbständiges System“ (ebd.). Dies sei „bloßer Schein, aber ein notwendiger Schein“ (ebd.).

Angesichts dessen, dass Marx – nicht zuletzt in seinem Kapital – jenen Schein dadurch entlarvt hat, dass er „diese der kapitalistischen Produktion eigentümliche und sie charakterisierende Verkehrung, ja Verrückung des Verhältnisses von toter und lebendiger Arbeit“ (Marx 1977, S. 329) herausgearbeitet hat, handelt es sich um eine glatte Verdrehung, wenn Adorno (1986d, S. 390) es als eine „Einsicht von Marx“ (ebd.) unterstellt, dass „das System das Proletariat produziere […]. Die Menschen sind, vermöge ihrer Bedürfnisse und der allgegenwärtigen Anforderungen des Systems, wahrhaft zu dessen Produkten geworden: als ihre eigene erfassende Verdinglichung“ (ebd.). Denn hatte Marx (1990, S. 520) in seinen Pariser Manuskripten zunächst „den Begriff der entäußerten Arbeit (des entäußerten Lebens) aus der Nationalökonomie als Resultat aus der Bewegung des Privateigentums gewonnen“ (ebd.), zeigt er schon hier in seinen sogenannten Frühschriften, dass „wenn das Privateigentum als Grund, als Ursache der entäußerten Arbeit erscheint, es vielmehr eine Konsequenz derselben ist“ (ebd.), was er dann in seinem Spätwerk – dem Kapital – entsprechend wertformanalytisch ausgearbeitet hat.

So ist die lebendige Arbeit, die das Kapital als – wie Marx es dechiffriert – tote Arbeit zu seiner Verwertung bedarf, kapitalistisch nicht herstellbar (vgl. May 2004a), weshalb sich als ein zentrales Element der Herstellung der Ware Arbeitskraft dann auch die sozialstaatlich gerahmte Soziale Arbeit herausbildete. Vor diesem Hintergrund kann nur insofern von einer „Produktion des Proletariates“ als aktiver und passiver Verproletarisierung gesprochen werden, dass jener kapitalistische „Prozess der Vergesellschaftung durch die Herstellung der Warenförmigkeit der Arbeitskraft nicht ohne staatliche Politik, Sozialpolitik im weiten Sinne, möglich war und ist“ (Schaarschuch 2019, S. 259). Selbst wenn die als Lohnarbeit organisierte, professionelle Soziale Arbeit – worauf sowohl Beisswanger und Böttcher, wie auch der AKS Leipzig verweisen – zunehmend einer formellen Subsumtion unter das Kapital unterworfen ist, lässt sie sich darunter aber nicht reell subsumieren: weder von ihrem Gegenstand der (Re-)Produktion lebendigen Arbeitsvermögens her, noch, dass sie direkt einen relativen Mehrwert zu produzieren vermag (vgl. May 2014). Aus dieser Widersprüchlichkeit lassen sich – wie noch zu zeigen sein wird – auch Ansatzpunkte für eine praktische Dialektik Kritischer Sozialer Arbeit gewinnen.

Um auf den System-Begriff zurückzukommen, ist jedoch noch einmal festzuhalten, dass Marx mit seinem Kapital keineswegs beansprucht, eine Analyse des kapitalistischen Gesellschaftssystems vorzulegen, sondern „nur die innere Organisation der kapitalistischen Produktionsweise, sozusagen in ihrem idealen Durchschnitt, darzustellen“ (Marx 1978a, S. 839). Dabei geht es ihm um eine „immanent in der Logik des Kapitals argumentierende kritische Aufdeckung ihrer prinzipiellen Widersprüche“ (Schmied-Kowarzik 2019, S. 87), um – „sich streng an die gedanklichen Prämissen der bürgerlichen Ökonomie“ (Schmidt 2018, S. 53) haltend – „die Widersprüche zwischen diesen Prämissen und der gesellschaftlichen Wirklichkeit (als gedachter) und durch sie hindurch die objektiven Widersprüche der gesellschaftlichen Wirklichkeit selbst“ (Schmidt 2018, S. 53) zu analysieren. Entsprechend betont er, dass „bei dem Gange der ökonomischen Kategorien immer festzuhalten [ist], daß, wie in der Wirklichkeit, so im Kopf, das Subjekt, hier die moderne bürgerliche Gesellschaft, gegeben ist, und daß die Kategorien daher Daseinsformen, Existenzbestimmungen, oft nur einzelne Seiten dieser bestimmten Gesellschaft, dieses Subjekts, ausdrücken“ (Marx 1961, S. 637).

Zwar fallen für Marx „Familie, Staat, Recht, Moral, Wissenschaft, Kunst etc.“ (Marx 1990, S. 537) als „nur besondre Weisen der Produktion […] unter ihr allgemeines Gesetz“ (ebd.). Entsprechend kritisiert er diese auch als „entfremdete Wirklichkeit der menschlichen Vergegenständlichung, der zum Werk herausgebornen menschlichen Wesenskräfte“ (ebd.) und sieht in ihnen „darum nur de[n] Weg zur wahren menschlichen Wirklichkeit“ (ebd.). Allerdings postuliert er, dass bevor nicht alle Produktivkräfte entsprechend entwickelt sind, eine Gesellschaftsformation nie untergehen werde, und nur dann an deren Stelle neue höhere Produktionsverhältnisse träten, wenn „die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind“ (Marx 1983, S. 203). So sieht er „die neuen Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse sich […] innerhalb und gegensätzlich gegen vorhandne Entwicklung der Produktion und überlieferte, traditionelle Eigentumsverhältnisse“ (ebd.) herausbilden.

In Weiterführung dieser Überlegungen von Marx’ theoretischer Dialektik hat Lefebvre gezeigt, wie jede „menschliche Tätigkeit, die in der gesellschaftlichen Praxis bestimmte Form angenommen hat […] sich in Werken [verwirklicht], deren jedes das Ergebnis einer momentanen Totalisierung ist, einer Totalisierung durch Vorherrschaft dieser oder jener Tätigkeit (ästhetischer, juristischer oder legislativer, wissenschaftlicher, philosophischer oder gar spielerischer oder poetischer oder sonstiger Art), mithin durch Vorherrschaft dieser oder jener Repräsentation. […] Und genau dadurch erweist sie sich als partiell“ (1977 Bd. III, S. 8f.). Dargestellt hat er dabei jedoch nicht nur, wie jede dieser „Aktivität, die sich selbständig macht, […] dazu [neigt], sich als System, als »Welt« zu konstituieren“ (Lefebvre 1975, S. 18), verbunden mit der Gefahr, dass jene „von den Systemen angestrebten realisierenden oder totalisierenden Bestimmungen […] in dieser approximativen und darum formbaren »Welt« […] dem »Wirklichen« eine neue, fast vollendet, nahezu endgültige Form aufzwingen und es in dieser Form zum »Wirklichen« konstituieren“ (ebd., S. 352). Zugleich hat er aufgezeigt, wie „diese systematische Form stets ein Residuum übrigläßt“ (ebd.) als „Ablagerungen jener Systeme, die verbissen, aber erfolglos bemüht sind, sich zu Totalitäten zu erheben, sich zu »mondialisieren«“ (ebd., S. 334).

Im Anschluss an Lefebvre habe ich einen Vorschlag zur Diskussion gestellt (vgl. May 2021, 172ff.), wie auch die theoretisch und praktische Dialektik Kritischer Sozialer Arbeit dazu beitragen kann,die herrschaftlich blockierten objektiven Möglichkeiten solch Residualem durch (An-)Erkennung ihres essentiellen Charakters zur Wirklichkeit herauszuarbeiten, „im Gegenzug zu der Macht oder Kraft, die es niederdrückt und dabei ungewollt herausstellt“ (Lefebvre 1975, S. 335). Lefebvre sieht im Residualen nicht nur die Potenz, dass es die jeweiligen „Systeme, die es aufsaugen wollen, von innen zerstört“ (ebd.), sondern über eine „Versammlung der Residuen“ (ebd., S. 334) – in der ich eine zentrale Aufgabe der theoretischen und praktischen Dialektik Kritischer Sozialer Arbeit sehe – „poietisch in der Praxis ein realeres und wahreres (universaleres) Universum zu schaffen, als es die »Welten« der spezialisierten Potenzen sind“ (ebd., S. 18).

Zum Transformationsbegriff

Als praktische Dialektik könnte dies in gewisser Weise auch unter den Transformationsbegriff gefasst werden, wenn „Trans“ und „Formation“ als die beiden Bestandteile dieser Kategorie ernst genommen werden. So gilt es doch, die Form der Residuen zu „verändern: durch Konvergenz und Kampf gegen die Systeme, von denen sie ausgestoßen und durch den Ausstoß bestimmt werden“ (Lefebvre 1975, S. 336), damit sie sich im Zuge ihre Anerkennung „umwandeln: auf daß jedes einzelne wieder die Würde und Kraft einer Essenz erlange, jener Essenz, die von derselben Macht, die sie zerstören wollte, überhaupt erst hervorgetrieben wird“ (ebd.). Vor diesem Hintergrund fügt auch – wie Lefebvre betont – diese Art von „»Setzen« auf die Residuen […] ihnen nichts hinzu“ (ebd., S. 335). Damit korrespondiert ein Verständnis von Transformation als „intentionaler, eingreifender, gestaltender und zugleich […] eigendynamischer, organisch-evolutionärer Entwicklungsprozess […], der immer auch Kontinuität einschließt“ (Reißig 2009, S. 34).

Dies meint aber etwas völlig anderes, als Beisswanger und Böttcher mit ihrer Unterscheidung zwischen „Intervention als ›Eingriff‹ in das Bestehende, also ganz im Sinne Benjamins (2010) als Notbremse für laufende Prozesse“ (2021, S. 84f.), und Transformation, wobei sie letztere dadurch charakterisiert sehen, dass sie „primär eine Veränderung dieser Prozesse mit sich“ (ebd.: 85) bringe, „ohne sie jedoch unterbrechen zu wollen“ (ebd.). Wenn sie plädieren, „zunächst am disruptiven Moment der Intervention festzuhalten, eben weil sie (zunächst) keine konstruktive Lösung in Hinblick auf den kapitalistischen Normalvollzug bietet“ (ebd.), korrespondiert dies in hohem Maße mit der von Lefebvre (1972, S. 256) eher nur skizzenhaft umrissenen Strategie einer sozio-analytischen Intervention. Diese habe ich (vgl. May 2019, 2021) als ein zentrales Element einer praktischen Dialektik Kritischer Sozialer Arbeit auszuarbeiten versucht, die danach trachtet, Entfremdung im Zuge der Emanzipation menschlicher Sinnlichkeit zu überwinden . Demnach ist eine Dissoziation der „mit einer falschen Evidenz vermischten Aspekte der Alltagssituation an einem Ort und in einer Zeit“ (Lefebvre 1972, S. 256) zunächst notwendige Voraussetzung, um eine selbstregulierte Assoziation der „bis dahin äußeren Erfahrungen“ (ebd.) zu ermöglichen.

Diese „bis dahin äußeren Erfahrungen“ (ebd.) stellen aus meiner Perspektive die Basis jener „Kontinuität“ dar, die Reißig als ein Charakteristikum des mit dem Transformationsbegriff gefassten Formenwandels hervorhebt. Sie beziehen sich vor allem darauf, dass heute über kulturindustriell vororganisierte Lebensstile zwar auch ein Stück Arbeitsteilung der Sinne rückgängig gemacht wird. Allerdings werden dabei nach wie vor (Arbeits-)Vermögen und Lebenseigenschaften aufgetrennt in denjenigen Teil, der sich in solchen gesellschaftlichen Repräsentationen verobjektiviert, die nicht nur die Funktion haben, das Individuum zu „normalisieren“ (Lefebvre 1977 Bd. II, S. 69), sondern auch ihrem Alltagsleben ein „Minimum von Einheitlichkeit und Kohärenz“ (ebd.) zu verleihen, sowie einen residualen Teil, der sich so gerade nicht frei zu verwirklichen und zu assoziieren vermag, weshalb auch zunächst eine Dissoziation solcher gesellschaftlichen Repräsentationen notwendig ist.

Lefebvres Begriff von „bis dahin äußeren Erfahrungen“ (1972, S. 256) verweist damit auch auf das schon erwähnte Marxsche Postulat, wonach „die neuen Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse sich […] innerhalb und gegensätzlich gegen vorhandne Entwicklung der Produktion und überlieferte, traditionelle Eigentumsverhältnisse“ (1983, S. 203) herausbildeten. So stellt für Marx die Produktion auf Basis der Tauschwerte eine notwendige Voraussetzung dar, dass „universal entwickelten Individuen, deren gesellschaftliche Verhältnisse als ihre eignen, gemeinschaftlichen Beziehungen auch ihrer eignen gemeinschaftlichen Kontrolle unterworfen sind“ (ebd., S. 95), da diese Form der Produktion „mit der Allgemeinheit der Entfremdung des Individuums von sich und von andren, aber auch die Allgemeinheit und Allseitigkeit seiner Beziehungen und Fähigkeiten erst produziert“ (ebd.).

Eingespannt in die (Re-)Produktion dieser für die Produktionsweise des fortgeschrittenen Kapitalismus erforderlichen „Allgemeinheit und Allseitigkeit“ (ebd.) der „Beziehungen und Fähigkeiten“ (ebd.) eines Individuums ist auch die Soziale Arbeit. Mit Beisswanger und Böttcher sowie dem AKS Leipzig stimme ich überein, dass unter den gegebenen Verhältnissen ihre zentrale Funktion im Hinblick auf die (Re-)Produktion der Ware Arbeitskraft darin besteht, Individuen dabei zu unterstützen, die sich zuspitzenden Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise so zu verarbeiten, dass die kapitalistischen Produktionsverhältnisse nicht gefährdet werden. Eine in Form der Lohnarbeit organisierte und formell unter das Kapital subsumierte Soziale Arbeit hätte auch jenseits des vom AKS HH propagierten Appells, „die aktuell geltenden Regeln aus guten Gründen [zu] brechen und alternative Handlungsweisen [zu] erfinden“, nur wenig Möglichkeiten, als Kritische in skizzierter Weise eine Anerkennung und Versammlung der Residuen zu befördern.

In dieser Hinsicht zielt für mich der Begriff „systemtransformationsrelevant“ des AKS HH, insofern er sich auf eine Organisation Sozialer Arbeit als „gesellschaftliche Infrastruktur“ bezieht, auf nichts weniger als einen „kategoriale[n] system change“ (Beisswanger/Böttcher 2021: 78) des Juristisch-Adminstrativ-Therapeutischen Staatsapparates. Die Organisation von Sozialer Arbeit in Form einer solchen Infrastruktur, wie sie auch jetzt schon Kontur gewinnt in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit, aufsuchenden Ansätzen und der Gemeinwesenarbeit, in Familien- und Kulturzentren, Mehrgenerationen- und Nachbarschaftshäusern in Verbindung mit einer kooperativen Teamstruktur, wie sie darüber hinaus im „Zwischenruf“ des AKS HH angesprochen wird, stellt aus meiner Perspektive eine notwendige, allerdings keineswegs hinreichende Bedingung der Möglichkeit dar, Kritische Soziale Arbeit zu leisten. Ich sehe sie in Verbindung mit der seit längerem diskutierten Programmatik einer „Sozialpolitik als Infrastruktur“ (Hirsch et al. 2013; Widersprüche Redaktion 2005), bei der es – präziser formuliert – um „Sozialstaatlichkeit als Bereitstellung einer sozialen Infrastruktur“ (May 2013, S. 188) geht.

Wenn mit dieser Programmatik der Anspruch einer „Sozialen Infrastruktur, die von Lohnarbeit unabhängig ist“ (Steinert 2013), verbunden wird, droht jedoch übersehen zu werden, dass in einer kapitalistischen Gesellschaft – wie dies schon Manuel Castells (1977, S. 286ff.) überzeugend herausgearbeitet hat und wie auch Beisswanger und Böttcher sowie der AKS Leipzig argumentieren – selbst Formen „kollektive[r] Konsumtion, […] deren ökonomische und gesellschaftliche Behandlung nicht über den Markt, sondern durch den Staatsapparat erfolgt, […] kapitalistisch bleibt“ (Castells 1977, S. 286). Denn sie umfasst eben nicht nur „im Wesentlichen den Reproduktionsprozeß der Arbeitskraft“ (ebd., S. 288), sondern auch „den Reproduktionsprozeß der gesellschaftlichen Verhältnisse, die […] mit der Reproduktion der Arbeitskraft verknüpft sind“ (ebd.) und die in einer kapitalistischen Gesellschaft notwendigerweise kapitalistisch überformt sind. Darüber hinaus hat Castells gezeigt, dass die sozialstaatlich vorgehaltenen Güter und Dienstleistungen kollektiver Konsumtion nicht deshalb zu solchen werden, „weil sie eine wesentliche Qualität besäßen, sondern wegen der spezifischen und allgemeinen Interessen des Kapitals“ (ebd., S. 287) – vor allem aber aus dem Grund, weil sie sich nicht kapitalistisch verwerten lassen, was Beisswanger und Böttcher sowie der AKS Leipzig übersehen.

Deshalb spricht Wolfgang Streeck diesbezüglich in seinem Vorwort für die deutsche Ausgabe des gegenwärtig sehr gehypten Plädoyers des Foundational Economy Collective (2019) „Für eine neue Infrastrukturpolitik“ geradezu paradox anmutend von einem „alltäglichen Kommunismus, der unserem alltäglichen Kapitalismus unterliegt und ihn faktisch überhaupt erst ermöglicht“ (2019, S. 7). Ohne dass sie deshalb schon mit dem reißerischen Etikett eines „alltäglichen Kommunismus“ versehen werden müsste, lässt sich aus einer an Marx anschließenden formanalytischen oder formgenetischen Perspektive bezüglich sozialer Infrastruktur allerdings „ein Formunterschied […] zur industrie- oder kapitalwirtschaftlichen Warenproduktion“ (Müller 2020, S. 10) konstatieren. Wie Alfred Sohn-Rethel hervorhebt, ist der „essenzielle Unterschied der Marxschen von aller andren Denkweise […], daß sie die Form als untrennbaren Teil der raumzeitlichen Seinsweise begreift, in der sie selbst sich wandelt und entwickelt“ (2018a, S. 137), worauf auch mein Verständnis von Transformation beruht. Marx hat dies „am Leitfaden der Formbestimmtheit des Wertbegriffs oder am Leitfaden der »Wertform«“ (Sohn-Rethel 2018b, S. 41) für die Warenproduktion durchexerziert.

Hat Sohn-Rethel die Bedeutung von Marx’ dialektischem Ansatz einer formgenetischen Erklärung im Hinblick auf eine Kritik nicht allein von falschem Bewusstsein, sondern darüber vermittelt auch von falschem Sein dahingehend charakterisiert, dass sie „vor allem die Springpunkte der Seinsveränderung aufdeckt“ (Sohn-Rethel 2018b, S. 38), so lassen sich im Anschluss an Horst Müller solche „Springpunkte“ gerade in der Form sozialstaatlicher Infrastruktur bzw. – wie er es übergreifend nennt – sozialwirtschaftlicher Dienste entdecken. Er selbst sieht in der Sondierung solcher „kritische[n] Knotenpunkte der Systemverhältnisse“ (Müller 2021, S. 491) eine zentrale Aufgabe seiner „Praxisform- und Transformationsanalytik“ (ebd.). Mit seinem Begriff formationelle Widersprüchlichkeit zielt er dabei auf eine in diesem Formunterschied sozialwirtschaftlicher Dienste zur kapitalistischen Warenproduktion „mehr oder weniger latent bereits mitprozessierende, andrängende Alterität und Alternative“ (ebd., S. 439), welche allerdings „inmitten der allgemeinen Instabilität, der aufbrechenden Konfliktpotentiale, des verwirrenden und ambivalenten Charakters der Phänomene nahezu unsichtbar“ (ebd.) bliebe.

Um das in sozialer Infrastruktur angelegte transformatorische Potenzial zu verwirklichen und „eine entschiedene sozialzivilisatorische Emanzipation der sozialwirtschaftlichen Dienste zu ermöglichen“ (Müller 2020, S. 18), plädiert er für eine „Kapital- oder besser Kapitaltransfersteuer“ (ebd.). Diese eröffne aus Müllers formanalytisch „entwickelte[r] reelle[r] Perspektive einen Zugriff auf real existierende Werte“ (2021, S. 523), die ohne diese „im Kapitalbestand der Warenwirtschaft unsichtbar und unverrechnet“ (ebd.) blieben, bilde doch „der Verbrauch an ‚konstanten‘ Werten der sozialwirtschaftlichen Dienste, die in deren eigenes Wertprodukt bzw. ihre Leistung eingehen, einen in der Domäne der Industriewirtschaft zunächst nicht sichtbaren und von den Industriewirten auch nicht veranschlagten Wertbestandteil“ (ebd.). Wenn – wie von ihm idealtypisch angenommen – „der Lohnfonds und die Sachkapitalausstattung der sozialwirtschaftlichen Dienste […] aus der proportional gestalteten Einkommen- und Kapitaltransfersteuer geschöpft und diese mehr oder weniger öffentlich finanziert werden“ (ebd., S. 527), handelt es sich seiner Auffassung nach sogar unmittelbar um eine Form des „Gemeineigentum[s] an den Produktionsmitteln“ (ebd.).

Dennoch schlösse selbst eine so finanzierte soziale Infrastruktur nicht aus, dass Fachkräfte der Sozialen Arbeit in ihr lohnarbeitsmäßig beschäftigt würden und Nutzende – noch weniger als diese – Einfluss auf deren Ausgestaltung ausüben könnten. Ein Gemeineigentum an Produktionsmitteln als Grundlage dessen, dass in der tätigen Praxis der Individuen „ihre eignen, gemeinschaftlichen Beziehungen auch ihrer eignen gemeinschaftlichen Kontrolle unterworfen sind“ (1983, S. 95), wie das Marx vorschwebte, setzte voraus, dass eine solche soziale Infrastruktur genossenschaftlich organisiert wäre, wie dies Timm Kunstreich (vgl. 2015, 2017) bereits beispielhaft skizziert hat. Erst auf dieser Basis könnte es gelingen, sowohl die Trennung der in einer solchen Infrastruktur professionell tätigen als auch der sie nutzenden Individuen vom menschlichen Gemeinwesen aufzuheben, das Marx gefasst hat als „das Leben selbst, das physische und geistige Leben, die menschliche Sittlichkeit, die menschliche Tätigkeit, de[n] menschliche[n] Genuß, das menschliche Wesen“(1978b, S. 408). Aus meiner Perspektive erforderte dies getrennte Genossenschaften von Professionellen und Nutzenden. Kunstreichs Idee, dass Professionelle „eine eigene professionelle Sozialgenossenschaft gründen, um mit den […] Quartiers- oder Projektgenossenschaften entsprechende Verträge abzuschließen“ (2015, S. 90f.) lässt sich dann dahingehend weiterdenken, dass dieser Vertrag auch ein Mandat einer allparteilichen Moderation der Fachkräfte für alle Residuen beinhaltet (vgl. May 2017, S. 154ff.).

Während ich gegenwärtig für die Realisierungvon Müllers Finanzierungsvorschlag (noch?) keine politische Mehrheit sehe, halte ich die Umsetzung einer solchen genossenschaftlichen Organisation für wahrscheinlicher – nicht zuletzt, weil sie effektiver und effizienter ist, da all die – in der Rede von einer Ökonomisierung Sozialer Arbeit übersehenen – riesigen, unproduktiven Kontrollapparate wegfielen, läge doch die Kontrolle bei den Genoss*innen selbst. Durchsetzbar halte ich sie einerseits in Räumen, die aktuell für die Verwertungsprozesse des Kapitals uninteressant geworden sind und mit Menschen, die Marx als Überschussarbeiterbevölkerung (1977, S. 661), Bauman (2006) noch drastischer als Überflüssige und Beisswanger und Böttcher als „durch Lohnarbeit nicht verwertbare[] Körper“ (2021, S. 87) bezeichnet haben. Solche Räume und Körper lassen sich also als Residuen großen Maßstabs betrachten. Statt dem nahezu aussichtslosen Unterfangen, solche Menschen begleitet durch Soziale Arbeit wieder über zahlreiche Maßnahmeschleifen für den sog. 1. – kapitalistischen – Arbeitsmarkt zu qualifizieren, weil sie da ja nicht gebraucht werden (weshalb solche Maßnahmen zynisch sind, weil sie ja implizieren, dass es an ihrer Qualifikation läge, dass sie nicht mehr gebraucht werden), und durch staatliche Investitionen den Raum wieder attraktiv für das Kapital zu machen, ließen sich stattdessen mit ihnen genossenschaftlich Projekte einer Gemeinwesenökonomie (vgl. Elsen 2011; May 2004b, 2022a) realisieren. Auch hier spricht eine volkswirtschaftliche Rechnung für solche Projekte.

Nun argumentieren Beisswanger und Böttcher, dass „nicht nur Wohnungslose oder Adressat*innen der akzeptierenden Drogenhilfe […] möglicherweise in der krisenbedingten Verknappung von finanziellen Ressourcen als irrelevant [erscheinen], sondern auch die damit verbundenen Angebote der Sozialen Arbeit“ (2021, S. 87). In meiner langjährigen Erfahrung, die ich hier einmal unter dem Begriff Praxisforschung zusammenfassen will, hat sich jedoch gezeigt, dass die durch solche Gruppen ausgelösten Konflikte, ebenso wie diejenigen, welche in den von der kapitalistischen Entwicklung abgehängten Räumen unter den verschiedenen Gruppen der Überschussarbeiterbevölkerung eskalieren, ordnungspolitisch nicht wirklich beherrschbar sind. Dies hat mir immer wieder in meiner beruflichen Geschichte ermöglicht, in die skizzierte Richtung gehende Projekte mit diesen Gruppen finanziert zu bekommen.

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Anmerkungen

[1] Stellungnahme (dbsh.de) zuletzt abgerufen am 11.11.2022

[2] Soziale Arbeit und die Systemrelevanz – Kritische Gedanken über ein fragwürdiges Etikett – DGSA Blog Soziale Arbeit zuletzt abgerufen am 11.11.2022

[3] Soziale Arbeit: systemrelevant? – Soziale Gerechtigkeit in einem demokratischen Land (jimdofree.com) zuletzt abgerufen am 11.11.2022

[4] Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang darauf, dass Staub-Bernasconi (2008) Sozialer Arbeit als Menschenrechtsprofession über Obrechts (1998) Theorie der Bedürfnisse zu begründen versucht (zur Kritik vgl. May 2018).


Soziale Arbeit, distanzgemindert? Ein Plädoyer für systemische Irrelevanz

Marcus Beisswanger und Norman Böttcher

[zuerst veröffentlicht im Heft 6 des Distanz-Magazins]

Soziale Arbeit: System(transformations)relevant in der Corona-Pandemie?

Im Verlauf der Corona-Krise verbreitete sich nicht nur das Virus Sars-CoV-2 rasant. Viral gingen mit ihm zeitgleich Begriffe, die zuvor nur unter Expert*innen Gebrauch fanden. Doch nicht nur Triage, Inzidenzwert, FFP2-Maske oder Vektorimpfstoff zogen ein in den öffentlichen wie privaten Sprachgebrauch. Bemerkenswerterweise kehrten auch Begriffe zurück, die inzwischen wohl ohne Übertreibung zum terminologischen Kanon von Krisen gezählt werden dürfen. So wurde mit der Systemrelevanz ein Begriff reaktiviert, der zuletzt in der Weltfinanzkrise um das Jahr 2008 in Bezug auf ‚systemrelevante‘ Banken eine breite Verwendung gefunden hatte (Möhrs 2020). In der aktuellen Corona-Krise werden allerdings Erwerbstätige in bestimmten Branchen, wie den Pflege- und Gesundheitsberufen oder in der Lebensmittelversorgung, unter dem Begriff der „kritischen Infrastruktur“ zusammengefasst und als „systemrelevant” eingestuft (Deutscher Bundestag 2020). Wenn gesellschaftliche Krisenmomente nach Stapelfeldt (2004, S. 253) einen Anstoß zur Reflexion über zuvor unbewusste, unreflektierte Funktionsweisen der Gesellschaft geben, könnte die aktuelle Krise die Gelegenheit bieten, die Relevanz der Reproduktions- und Care-Arbeit für das gesellschaftliche Gesamtsystem sichtbar werden zu lassen. Dies wirft die Frage auf, ob sich aus der verschobenen Semantik der Systemrelevanz sogleich symbolische oder gar strukturelle Veränderungen der gesellschaftlichen Ordnung, also der neoliberalen Formation des Kapitalismus, ableiten lassen. Eine solche Verschiebung könnte bedeuten, dass nun die Bearbeitungsweisen dieser Krise nicht mehr, wie etwa in den Jahren ab 2007, primär in der Finanz- bzw. Zirkulationssphäre und damit in der erweiterten Produktion, sondern im Bereich der unmittelbaren Daseinsvorsorge angesiedelt sind. Im Zuge des Neoliberalismus wurde diese erweiterte Reproduktionssphäre immer stärker in die unmittelbare Wertschöpfung einbezogen und dabei rationalisiert. Die aktuelle Krise, so die Hypothese, stellt einen Umschlagsmoment und damit für die handelnden Akteure eine Grenzbearbeitung dar.

Wenngleich einige Teilaspekte der aktuellen Corona-Krise bereits ansatzweise sozialwissenschaftlich analysiert wurden (exempl. Hoppe et al. 2020; Stapelfeldt 2020; Seyd 2020), lassen sich diese strukturellen, d. h. politökonomischen und sozialpsychologischen Fragen gegenwärtig – also inmitten des Krisenverlaufs – allerdings noch kaum auf eine systematische Weise abschließend beantworten. Georg Seeßlen brachte das „Unbehagen in der Natur“ zur letzten Jahrestagung der Gesellschaft für psychoanalytische Sozialpsychologie (GfpS) mit der Fortdauer der Krise in Verbindung. Seine These lässt sich einem Tagungsbericht nach wie folgt zusammenfassen:

„Solange der Krisenzustand und die eigene Betroffenheit anhalten, fehle es an der nötigen Distanz, um die Geschehnisse kritisch auf den Begriff bringen zu können. Ohne diese Distanz sei es kaum möglich, sich des widersprüchlichen Verhältnisses zwischen individuellen Bedürfnissen und der gesellschaftlichen Realität bewusst zu werden. Konkret zeige sich das darin angelegte Unbehagen in individuell angestauten Aggressionen und Frustrationen.“ (Beisswanger, Heller & Hildebrandt 2021)

Dennoch finden notgedrungen beständig Bearbeitungsweisen dieser Krise statt, die sich aus konkreten Sichtweisen auf den Krisenzustand ergeben und zugleich fortwährend neue Perspektiven hervorbringen. Dabei kippt die Unzufriedenheit mit den Versuchen der Krisenbewältigung in Form von Kontaktbeschränkungen und Lockdowns schnell in populistische und emotional hoch aufgeladene Ressentiments, wie anhand der sogenannten Querdenker-Bewegung deutlich wird. Gleichzeitig sind kritische Initiativen aus dem Umfeld der Sozialen Arbeit bemüht, ihr Unbehagen an der Krisenpolitik in Form einer Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen zu kanalisieren. Um einen bisher wenig beachteten Teilaspekt aufzugreifen, fragen wir deshalb in diesem Beitrag nach dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, indem wir jene in den Blick nehmen, die unmittelbar mit der Bearbeitung der sozialen Folgen dieser Krise befasst sind: Sozialarbeiter*innen und Sozialpädagog*innen.

Widersprüchlich erscheint dabei zunächst, dass im Gegensatz zur Weltfinanzkrise ab 2007 in der aktuellen Weltgesundheitskrise insbesondere solche Dienstleistungsberufe als systemrelevant gelten, die allgemein dem sozialen oder sogenannten Non-Profit-Sektor zugeordnet werden. Zwar wird dazu beispielsweise auch der fast schon ikonographisch dargestellte Kassierer im Supermarkt oder die Paketbotin gezählt, die den gegenwärtig expandierenden, profitmaximierenden Branchen zuzurechnen sind. Doch von systemrelevanten Banken wird in der Medienöffentlichkeit kaum gesprochen, während sich der Blick auf gering entlohnte oder auch unbezahlte Care- und Reproduktionsarbeit zu wenden scheint. Weil die Covid-19-Infektion unmittelbar gesundheitliche Auswirkungen hat, verwundert es kaum, dass sich die Scheinwerfer dabei auf den medizinischen und pflegerischen Sektor richteten, welcher politisch unbestritten mit dem Prädikat „systemrelevant“ versehen wurde. Mit leichter Verzögerung ließ sich dann auch in aktuellen Debatten der Sozialen Arbeit ebenfalls eine direkte Auseinandersetzung mit dem Begriff der Systemrelevanz beobachten.

Auffällig innerhalb der Debatten Sozialer Arbeit ist der Umstand, dass insbesondere jene sich selbst als liberal bezeichnenden Akteure, für die der Systembegriff theorieimmanent eine zentrale Position einnimmt, auf diesen Zug kaum aufspringen. Heiko Kleve (2020a) etwa bezieht sich in seinem Plädoyer für eine „liberale Soziale Arbeit“ explizit auf die Systemtheorie und affirmiert damit die kapitalistische Produktionsweise: Unter dem Begriff des „Systemliberalismus“ (ebd., S. 10) propagiert er, dass sich der Staat weitestgehend aus der Verantwortung zur Bewältigung sozialer Probleme herauszuhalten habe, um so „eine positive Beziehung von kapitalistisch-liberaler Wirtschaft und Sozialer Arbeit zu denken“ (ebd., S. 9). Mittels Sozialer Arbeit sollen „die Selbsthilfekräfte gestärkt“ (ebd., S. 8) und den Adressat*innen auf diese Weise zur Autonomie verholfen werden, sodass die Profession sich mittelfristig selbst überflüssig machen könne. Dabei bedient er sich einer in der Sozialen Arbeit inflationär verwendeten Formulierung, die auch bei Vertreter*innen einer kritischen Sozialen Arbeit häufig Verwendung findet. Diese Forderung, sich als Profession überflüssig zu machen, steht dabei nicht selten in Verbindung mit der Vorstellung, dass nach der Überwindung der kapitalistischen Gesellschaft viele Angebote Sozialer Arbeit gar nicht mehr notwendig werden würden, sofern die Ursache für die Probleme dann behoben wäre. In Kleves Logik überrascht es hingegen kaum, wenn der phrasenhafte Appell der „Hilfe zur Selbsthilfe“ umkippt in einen affirmativen Bezug auf das Prinzip „Fördern und Fordern“ aus den SGB-II-Reformen, welches im Zuge der neoliberalen Sozialpolitik die staatliche Verantwortung zur sozialen Sicherung zugunsten von Selbstverantwortung und Selbstoptimierung unterminierte. Nicht nur der Aspekt, dass soziale Einrichtungen eben nicht wie private Unternehmen betrachtet werden können, die vermeintlich unabhängig vom Staatshaushalt profitorientiert wirtschaften, erscheint dabei problematisch. Auch die trügerische Vorstellung, die Hilfesuchenden als Kund*innen zu deklarieren, die selbstbestimmt ihren Bedürfnissen entsprechende Angebote auf dem Markt der sozialen Dienstleistungen einkaufen könnten, verdeckt das reale Ungleichheitsverhältnis zwischen Professionellen in der Sozialen Arbeit und ihren Adressat*innen, das weiterhin deutlich von einer – auch wechselseitigen – Abhängigkeit geprägt ist. In Bezug auf die Corona-Krise präsentiert Kleve in einem Podcast-Gespräch mit Hendrik Epe (2020) den Vorschlag, dass die Soziale Arbeit auch jetzt auf unternehmerische Kreativität und Risikobereitschaft zur Bewältigung der Krisenfolgen setzen müsse. Dies erscheint schon deshalb paradox, weil in der pandemiebedingten Wirtschaftskrise nicht nur das von Kleve propagierte Sozialunternehmertum, sondern auch gewinnmaximierende Branchen und Betriebe auf staatliche Zuschüsse wie kaum zuvor angewiesen sind. Dass sich gegenwärtig etwa die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege zur Sicherstellung der sozialen Infrastruktur dringend um die Verlängerungen der staatlichen Rettungsschirme bemüht (BAG FW 2021), unterläuft faktisch den Mythos der von Kleve und anderen marktradikalen Apologet*innen verfochtenen Systemautonomie Sozialer Arbeit.

Demgegenüber bezieht sich der Deutsche Berufsverband für Soziale Arbeit (DBSH) als Fachgewerkschaft mit der seit Frühjahr 2020 laufenden Kampagne #dauerhaftsystemrelevant affirmativ auf die Systemrelevanz der Sozialen Arbeit. In seiner Stellungnahme plädiert er dafür, die Angebote der Sozialen Arbeit, wie Jugend-, Wohnungslosen- oder Geflüchtetenhilfe, bei denen er eine Vernachlässigung in der medialen Berichterstattung erkennt, in der aktuellen Krise als ebenso bedeutsam und unabdinglich einzustufen wie die medizinische oder infrastrukturelle Grundversorgung. Da die gesellschaftlichen Anrufungen nach Kontaktbeschränkung und Einhaltung hygienischer Maßnahmen die Adressat*innen Sozialer Arbeit ungleich mehr belaste und auch ihr Infektionsrisiko deutlich höher liege, wodurch die Arbeitsbelastung der Professionellen in den Feldern Sozialer Arbeit merklich ansteige, appellieren sie

„an Medienverantwortliche, die Gruppe der systemrelevanten Berufe vollständig darzustellen und über die Soziale Arbeit und die Fachkräfte zu berichten. Ohne Soziale Arbeit ist unser soziales Netz nicht stabil. Für Sozialarbeiter*innen ist und bleibt sozialer Abstand keine Option. Soziale Arbeit ist dauerhaft systemrelevant […] – aber aktuell unsichtbar.“

In einer Fußnote wird zwar betont, dass „Systemrelevanz gleichzeitig auch Systemkritik und ‑veränderung“ im Rahmen einer „Umsetzung der Menschenrechte“ bedeute, was auf die Theorieposition einer „Sozialen Arbeit als Menschenrechtsprofession” (Staub-Bernasconi 1995) hindeutet. Durch die terminologische Unbestimmtheit des DBSH-Appells sowohl hinsichtlich seiner Adressierung (der „Medienöffentlichkeit“) als auch der normativen Grundlage seiner Kritik in einem Staat, dessen Grundgesetz formal genau auf diesen einklagbaren Menschenrechten fußt, wird jedoch deutlich, dass mit der besagten Veränderung kein kategorialer system change in Bezug auf die bürgerlichen Rechtsverhältnisse intendiert ist (vgl. Anhorn et al. 2012, S. 18-20). Die tendenziell staatstragende Positionierung des DBSH wird auch anhand einer anderen Stellungnahme deutlich, in der er sich einer fiskalischen und staatsaffirmativen Argumentation anschließt, wonach Soziale Arbeit die Krisenfolgen auf der individuellen Ebene abzufedern und damit die Folgekosten zu reduzieren habe:

Wir appellieren an politische Entscheidungsträger*innen, die finanziellen Folgen der Krise nicht auf die Schwächsten unserer Gesellschaft abzuwälzen, sondern eine gerechte Sozialpolitik umzusetzen, denn: Investitionen in Soziale Arbeit sind Investitionen in unsere soziale, psychische und körperliche Gesundheit. Sie stellen sich langfristig sogar als günstiger für den Staat heraus, da gute Soziale Arbeit Menschen, die sonst das Gesundheitssystem und das soziale System belasten würden, aus ihren Krisen hilft und Entwicklungschancen möglich macht“ (DBSH 2020b).

Solche systemaffirmativ-sozialpartnerschaftlichen Positionen, die zugleich soziale Hierarchien reproduzieren, haben wiederum den Arbeitskreis Kritische Soziale Arbeit Hamburg (AKS HH) dazu bewogen, eine dezidiert linke Kritik in Form eines „Zwischenrufs“ zu formulieren, wonach Soziale Arbeit stattdessen als „systemtransformationsrelevant“ verstanden werden sollte. Dabei scheint die Kennzeichnung der Stellungnahme als Zwischenruf nicht zufällig gewählt, suggeriert sie doch eine Störung der laufenden Debatte. Verständlich sei zwar, berufspolitisch die eigene Bedeutung zu betonen, relevant hinsichtlich der Reproduktion des neoliberalen Kapitalismus wolle man dabei allerdings nicht sein. Indem die Corona-Pandemie aufzeige, dass für immer mehr Menschen unter den gegenwärtigen Bedingungen die Existenzgrundlage schwinde, müsse die Soziale Arbeit als sozialräumliche und kollektive Infrastruktur begriffen werden, die im Sinne einer eigenen, kohäsiven Logik

„nicht zu weiteren Spaltungen beiträgt, sondern zu deren Überwindung. […] Es gilt, für eine progressive Praxis eine Alternative zur eigenen Systemrelevanz zu entwickeln. Dafür braucht es in neuer Qualität geöffnete Institutionen […], in denen sich die Menschen im Sozialraum begegnen, sie sich inhaltlich mit der aktuellen Situation auseinandersetzen, die Verhältnisse kritisch reflektieren und gemeinsame Lösungen entwickeln. Das setzt eine aktive, konstruktive Teilhabe und eine gewisse Konfliktbereitschaft voraus. […] Es geht also um gemeinsame Aufgabenbewältigung. Seien wir systemtransformationsrelevant und lasst uns die Krise nutzen, um alternative Ideen und Praxen zu entwickeln!“ (AKS HH 2020, Hervorh. i. O.)

Der hier neokommunitaristisch argumentierende AKS HH versucht die Systemtransformation darüber zu konkretisieren, dass das aus seiner Kritik resultierende, neue soziale Ordnungsmuster stärker aus Perspektive der Nutzer*innen Sozialer Arbeit zu denken wären. Deutlich wird auch, dass hierfür die Krise als Chance zu ebenjener Transformation begriffen werden soll.

Gesellschaft als Zwangssystem

In Bezug auf die Begriffe Systemrelevanz und Systemtransformationsrelevanz wird deutlich, „dass das, was wir uns begrifflich unter diesen vorstellen, nicht alles ist“ (Schäfer & Thompson, 2010, S. 142). Sie verdecken etwa die Interessen der Akteur*innen, die sich dieser Begriffe bedienen, und das in ihnen fortlebende „Gesellschaftlich-Unbewusste“ (Stapelfeldt 2004, S. 45). Da in beiden Formulierungen der Begriff nicht identisch gesetzt wird mit dem bezeichneten Gegenstand, ‚dem System‘, stellen sie einen Versuch dar, Kritik an den realen gesellschaftlichen Widersprüchen zu formulieren, die sogleich die eigene Position reflektieren soll. Die in beiden Begriffen angelegte semantische Spannung verweist dabei zugleich auf den Widerspruch zwischen Individuum und Gesellschaft, wie er sich gerade bei der Problem- und Standortbestimmung von Kritik offenbart. Zur Frage der Normativität beim Abgleich zwischen dem Gegenstand und dem „Begriff der Sache“ bemerkt etwa Jürgen Ritsert (2009, S. 162), dass Kritik weder „affirmative[] Indifferenz“ noch reine Sprachkritik bedeute. Die Immanenz der Begriffe führe dazu, dass sie

niemals der Sache Genüge tun, die mit ihrer Hilfe bestimmt werden soll. […] Also kann das kritische Verfahren – anstelle starrerer Schemata und Raster – nur darin bestehen, den wissenschaftlichen Sinn für Merkmale und Möglichkeiten offen zu halten, welche ein bestimmtes Begriffs- und/oder Aussagensystem nicht erfasst hat (Nichtidentität). So kann man das ‚Messen der Verhältnisse‘ an ihrem Begriff auch verstehen.“ (Ebd.)

Wir wollen im Folgenden am Beispiel der System(transformations)relevanz aufzeigen, in welchem Rahmen sich die Kritik der dargestellten Akteure Sozialer Arbeit bewegt und welche Möglichkeiten durch diese kritisch intendierten Begriffe verschlossen bleiben. Wenn Soziale Arbeit, das Kassieren im Supermarkt oder Pflegeberufe gleichermaßen als systemrelevant eingestuft werden, sollte dabei zunächst die Funktion des System-Begriffs analysiert werden, um von dort aus die zugrundeliegenden und durch sie verdeckten gesellschaftlichen Widersprüche zu hinterfragen.

Sowohl die dezidiert neoliberale Position Kleves als auch die auf Silvia Staub-Bernasconis Theoriekonzept der Menschenrechtsprofession rekurrierende des DBSH nehmen mit dem System-Begriff in unterschiedlicher Weise Bezug auf die Systemtheorie. Entgegen eines solch affirmativen Verständnisses, dessen ‚kritischer‘ Gehalt, sofern er überhaupt proklamiert wird (vgl. Möller und Siri 2016), sich darin erschöpft, im Übergang von einem starren zu einem dynamischen Systembegriff die Selektions- bzw. Exklusionsmomente zugleich auch als Inklusionsmomente (und damit funktional in Bezug auf den Selbsterhalt des Kollektivzusammenhangs) zu begreifen (zur Kritik: Cremer-Schäfer 2001), verstehen wir die Gesellschaft in negativer Weise als „kollektive[n] Zwangsmechanismus“ (Adorno 1979, S. 12). Sie ist – im Gegensatz zum funktionalistischen Systembegriff – „nicht in sich rational kontinuierlich“ (ebd., S. 9), sondern beschreibt eine in sich antagonistische Totalität. Daher kann auch der Systembegriff wiederum in diesem Zusammenhang nur in einem negativen Sinn, also zur Darstellung einer falschen Systemlogik, nutzbar gemacht werden: „Als antagonistische ist die Gesellschaft alogisch, d. h. sie ist nicht einstimmig im Sinne der widerspruchsfreien Logik darzustellen, sondern eben im Sinn der zu ihrem Wesen gehörigen Irrationalität, d. h. eben dem antagonistischen Charakter. […] Es geht buchstäblich umso irrationaler zu, je rationaler es wird“ (Adorno 2003a, S. 128). Beim Systembegriff handelt es sich also nicht, wie etwa die Systemtheorie annimmt, nur um einen neutralen, d. h. vom Gegenstand abtrennbaren Ordnungsbegriff, der der betrachtenden Person bei ihrer Systematisierung hilft, sondern um einen, dessen Ordnung „in der Sache selbst steckt“ (Adorno 1993, S. 77). Das wiederum bedeutet, dass die Logik dieses Systems, seine vermeintliche Wesensnotwendigkeit, nicht von der Notwendigkeit getrennt werden kann, in welcher Weise über dieses Wesen nachgedacht werden kann: Die eigene individuelle Ge- und Befangenheit innerhalb dieser gesellschaftlichen Totalität ist gleichermaßen Movens wie Hindernis, sich über dieses System Gedanken zu machen und sich gewissermaßen über es hinwegsetzen zu müssen. Der Versuch, die Logik des Systems zu durchbrechen bzw. zumindest die Brüche in seiner Logik ausfindig und sichtbar zu machen, verleiht damit – quasi aus Eigeninteresse – jenen, die unmittelbar an ihm leiden, zunächst einen priorisierten Erkenntniszugang. Allerdings leben wir mit Blick auf den besagten Zwangscharakter „in einer Totalität, die die Menschen nur vermöge ihrer Entfremdung zusammenschließt“ (ebd., S. 77f.), so dass die ‚Funktionslosen‘ aufgrund ihres Leidens zugleich am meisten vom möglichst reibungslosen Funktionieren des (Hilfe‑)Systems abhängig sind. In einer historisch einschneidenden Situation wie der gegenwärtigen, in welcher die Corona-Pandemie die Nationalökonomien in eine Krise stürzt, „die die Weltfinanz- und Weltwirtschafts-Krisis 2007/08 ff. deutlich übertrifft“ (Stapelfeldt 2020, S. 5), verschärfen sich die gesellschaftlichen Widersprüche ebenfalls um ein Vielfaches: Gewalt greift noch stärker als sonst um sich; restriktive und repressive Maßnahmen des Staates werden trotz teils berechtigter Kritik und gegen den rechten und ‚querdenkenden‘ Widerstand erweitert; Armutslagen verschärfen sich unter Bedingungen, in denen verhältnismäßig weniger öffentliche und infrastrukturelle Ressourcen zu ihrer Bewältigung bereitstehen. Frauen*häuser, Obdachlosen- und Geflüchtetenunterkünfte sowie zahlreiche andere, soziale Einrichtungen, die aufgrund der Hygienemaßnahmen und Abstandsregeln ihre Kapazitäten auf ein Minimum zu reduzieren haben, erleben die Entfremdung der Menschen nun nicht mehr als Zusammenschluss in dem Sinne, dass sie nicht anders können, als sich gegenseitig auf den Leib zu rücken (vgl. Adorno 2003b, S. 45). Manifeste soziale Ausschließung, d. h. Menschen, die vor den Türen der Einrichtungen erfrieren oder in Situationen von häuslicher Gewalt gefangen sind, weil sie nirgends sonst eine Zuflucht finden, ist zentrales Charakteristikum aktueller Entfremdungsphänomene unter der Anrufung des social distancing. Die Brüchigkeit der Logik des Systems wird an den Rändern seiner Öffentlichkeit sichtbar, die diese eben nicht mehr zu integrieren vermag. Und die Grenzen dieser Systemlogik halten mit dem „Nichtidentischen“, wie es Ritsert (2009, S. 169) umreißt, eben nicht nur progressive Möglichkeiten offen: Die Risse der vermeintlichen Totalität können immer auch im negativen Sinne die Bruchstellen des zivilisatorischen Fortschritts aufdecken.

Soziale Arbeit in der Krise: Dauerhaft distanzgemindert?

Die gegenwärtig offenliegenden, gesellschaftlichen Widersprüche lassen für die Soziale Arbeit eine Situation entstehen, in der es einerseits wie kaum zuvor möglich erscheint, diese Widersprüche auf den Begriff zu bringen und die eigene Kritik einer breiten Öffentlichkeit darstellbar zu machen – einer Öffentlichkeit, deren Mitglieder die unmittelbar erfahrbaren Widersprüche aktiv ausblenden müssten, weil auch in der medialen Berichterstattung beispielsweise über die Zunahme von häuslicher Gewalt oder der Zahl der Kältetoten berichtet wird. Indem Soziale Arbeit unmittelbar in der Bearbeitung der stark zunehmenden, sozialen Probleme gefordert ist, wird im Krisen- und Überlastungsmodus allerdings eine reflexive Distanzierung vom Alltagsgeschäft noch schwieriger als sonst. Und das in doppelter Hinsicht: Weder die physische Distanz zu den Nutzer*innen ist möglich, ohne dass dabei das professionelle Selbstbild Schaden nähme, noch sich aufgrund desselben von den gesellschaftlichen Anrufungen zu befreien. Was hindert nun die Soziale Arbeit daran, diese gesellschaftlichen Widersprüche wirklich nutzbar machen zu können? Während – wie anhand der Stellungnahmen vom DBSH und AKS HH ersichtlich – den Akteuren der Sozialen Arbeit diese Widersprüche bewusst sind, wenn sie beim Blick auf die Lebens- und Versorgungslage der Adressat*innen als soziale Probleme markiert werden, scheint die eigene Position innerhalb dieses widersprüchlichen Verhältnisses deutlich weniger klar.

Gegenüber dem Mythos der liberalen Systemunabhängigkeit fällt an der stark berufspolitisch argumentierenden Position des DBSH hinsichtlich der Systemfrage auf, dass sie in der dauerhaft professionellen Bearbeitung der Krise durch Sozialarbeiter*innen – selbst dort, wo sie sich auf Systemveränderung bezieht – noch eine Stabilitätsabsicherung für „unser soziales Netz“ (DBSH 2020) anvisiert. Im einseitig positiven Bezug auf das System steckt nicht nur ein harmonisch-kohäsiver Gesellschaftsbegriff, sondern sogleich (zumindest unbewusst) ein Verständnis von Sozialer Arbeit als Herrschaftssicherung, die sogleich für ihre Nutzer*innen zum Erhalt des (Hilfe‑)Systems beiträgt. Nun ist diese Rhetorik nur vor dem Hintergrund der Interessenpolitik, d. h. der Ressourcenknappheit im Reproduktionsbereich, der Abhängigkeit der Sozialverbände von staatlichen Finanzmitteln und konkret der systemischen Eingebundenheit des DBSH als Berufsverband und ‑gewerkschaft in die staatlichen Strukturen zu verstehen (etwa bei Tarifkommissionen oder Expert*innenrunden zu Gesetzesreformen). Die Position des DBSH spiegelt somit idealtypisch eine sozialreformerische (bzw. traditionell sozialdemokratische) Kritikposition wider, die sich schon längst mit den Verhältnissen gemein gemacht hat, die sie nur symbolisch-appellativ, quasi wörtlich in der Fußnote zu verändern vorgibt.

Anders verhält es sich mit dem Versuch des AKS HH, eine radikalere, systemverändernde Position in die Debatte einzubringen. Dass dessen Stellungnahme mit dem Begriff des Systems spielt, indem sie ihn durch die Erweiterung um den Begriff der „Transformation“ in ihrem Kern zu verschieben versucht, verweist bereits auf eine Form immanenter Kritik, welche sich mit den im System zur Verfügung stehenden Mitteln und seiner inneren Logik nicht ganz zufriedengibt und sich davon abzugrenzen versucht. Dass dabei allerdings nicht der Begriff des Systems als solcher kritisiert, seziert und auf seinen Sinngehalt hin analysiert, sondern durch einen Gegenbegriff ersetzt wird, lässt nicht nur auf eine verkürzte Form der Begriffsarbeit, sondern eben auch auf die besondere Bedeutung schließen, die der Sprache im Kontext von Gesellschaftskritik beigemessen wird. Einen Ansatzpunkt, die praktische in eine gesellschaftstheoretische Kritik zu überführen, sieht der AKS HH im Arbeitsbegriff:

„Mit dem Begriff der Systemrelevanz ist die Frage aufgeworfen: Was ist gesellschaftlich relevante Arbeit? Die gegenwärtige Krise betrifft alle und wir als in der Sozialen Arbeit Tätigen sollten es darauf anlegen, progressiver aus ihr ‚rauszugehen‘ als wir ‚reingegangen‘ sind. Deshalb: system-überwindungs-relevant statt system-erhaltungs-relevant. Wir schlagen daher vor, den präziseren Begriff der „Systemtransformationsrelevanz“ als Maßstab für die grundlegende Veränderung aller gesellschaftlichen Sphären in Richtung auf Kooperation und Emanzipation zu nehmen.“

Bemerkenswerterweise bleibt dabei die Frage, was gesellschaftlich relevante Arbeit sei, im weiteren Verlauf der Stellungnahme unbeantwortet. Zwar wird im darauffolgenden Abschnitt vage auf die bedrohte „gesellschaftliche Infrastruktur, kollektive und öffentliche Güter“ hingewiesen, die als notwendig erachtet werden, um ein „gutes Leben“ zu realisieren. Anstelle einer Antwort auf die Frage wird einerseits auf politische Akteure (Parteien, Gewerkschaften und soziale Bewegungen) verwiesen, andererseits dringend angeraten, „in unserem beruflichen Handeln die Perspektive der Systemtransformation als Handlungsorientierung immer im Blick [zu] behalten.“ In diesem Gedankensprung, der von der Reflexion der eigenen (Lohn‑)Arbeit absieht, deutet sich die Schwierigkeit an, die Soziale Arbeit in der bestehenden Krise als Politik oder „Pädagogik des Sozialen“ (Kunstreich 1994) bzw. „Arbeit am Sozialen“ (Kunstreich & May 1999) zu entfalten. Im voreiligen Gegenentwurf einer systemtransformationsrelevanten Sozialen Arbeit, die sich nolens volens auf die richtige, die ‚soziale‘ Seite der Arbeit stellt, wird eine Kritikposition eröffnet, die einen ‚konstruktiven‘ Vorschlag vom eigenen Standpunkt aus präsentieren will. Eine wertkritische Analyse dieses Arbeitsbegriffs, wie sie etwa von Postone (2003) entwickelt wurde, kann an dieser Stelle zwar nicht geleistet werden. Für die hier behandelte Frage ist jedoch ohnehin nur entscheidend, dass es für den AKS HH wie auch für kritische Praktiker*innen im Allgemeinen in Anbetracht gegenwärtiger sozialer Verwerfungen kaum vorstellbar scheint, sich von der Unverzichtbarkeit dieser gesellschaftlich notwendigen Sozialen Arbeit (gedanklich) zu distanzieren, was das Sichtfeld des „Maßstab[s] für die grundlegende Veränderung“ (AKS HH 2020) deutlich einschränkt. Eine Kritik an der Systemrelevanz Sozialer Arbeit kann kaum die Relevanz dieser gesellschaftlich notwendigen Arbeit als solche bestreiten, sofern die Bezugsgröße dieser Kritik stets dieses System zu sein hat. Während bei Marx der Begriff der „gesellschaftlich notwendigen Arbeit“ untrennbar mit der jeweiligen gesellschaftlichen Formation, also dem Kapitalismus mitsamt seiner Logik der Verwertung des Werts verbunden ist, wird vom AKS HH die Soziale Arbeit als Arbeit begriffen, von welcher aus, einem Brandbeschleuniger im Sinne einer konfliktorientierten Zuspitzung gleich, dieses System überwunden werden könne. Dies verkennt, dass im Marx’schen Arbeitsbegriff das durch diese Arbeit fetischisierte Bewusstsein „notwendig“ am Gegenstand klebt. Hingegen ist bei Sozialarbeiter*innen dieser Kitt i. d. R. notwendig stärker, da ihr Selbstbild, als Löser*innen sozialer Probleme zu fungieren und Menschen in Not zu helfen, was in systemaffirmativen Fachkreisen gern in der Metapher des Feuerlöschers beschrieben wird, insbesondere in Krisenzeiten quasi unerschöpfliche Anrufungen erfährt: Die Entfremdung vom ‚Produkt‘ sozialer Dienstleistungen – d. h. dem gelingenden Leben der Adressat*innen Sozialer Arbeit – ist kaum im selben Maße möglich wie etwa vom Industrieprodukt. Wenn jedoch keine Distanzierung von der vermeintlichen oder tatsächlichen Notwendigkeit der erbrachten Arbeit geschieht oder sie schlicht nicht möglich erscheint, dann bleibt entweder die Option, auf die Grenzen und immanenten Widersprüche der kapitalistischen Verwertungslogik hinzuweisen, was der AKS HH mithilfe einer Brennglasmetapher unternimmt: Die Pandemie mache „nun zugespitzt deutlich, dass diese Art der gesellschaftlichen Reproduktion notwendigerweise die Existenzgrundlage für immer mehr Menschen immer prekärer macht.“ Oder aber es wird ein Umweg über eine andere Logik bzw. den Sprung in eine externe Perspektive gesucht. Gegenüber der trennenden und instrumentellen Konkurrenzlogik wird (ganz im Habermas’schen Sinne) vom AKS HH versucht, eine eigene, verbindend-kommunikative zu entwerfen, die der Sozialen Arbeit selbst näherstehe und für die sie eine Ressource darstellt:

„Soziale Arbeit als Infrastruktur-Angebot, das auf die Unterstützung und Erhaltung aller gesellschaftlich wichtigen Kompetenzen und Tätigkeiten zielt – Pflege und Kindererziehung, aber auch künstlerische, sportliche und kulturelle Tätigkeiten –, wird in und nach der Krise beweisen müssen, dass sie nicht zu weiteren Spaltungen beiträgt, sondern zu deren Überwindung.“

Soziale Arbeit ist hier also nicht mehr die Arbeit am Widersprüchlichen des Sozialen, sondern einseitig aufgelöst in Sorge- und emanzipatorische Bildungstätigkeit. Das in Bezug auf soziale Probleme wirksame Allzuständigkeitspostulat dient hier nicht etwa dazu, sich von politischen Anrufungen und Zugriffsweisen abzugrenzen, um die ohnehin mehr als prekär ausgestattete soziale Infrastruktur nicht weiter zu strapazieren, sondern primär zur Selbstlegitimation der Berufsidentität: Da Soziale Arbeit quasi überall zuständig ist, kann sie, so die Annahme, sinnvoller Weise auch überall auf einen politischen Transformationsprozess hinwirken.

Doch wie sieht diese andere Logik aus und wie kommt sie zustande? Die früher noch sozialpolitischen und später zu jenen der kritischen Sozialen Arbeit umbenannten Arbeitskreise stehen in der Tradition der Neuen Sozialen Bewegungen der 1960er und 70er Jahre. Sie erleben seit der letzten Weltfinanzkrise um 2008 ein Revival (vgl. Steinacker 2013). Aufgrund der eigenen Geschichte ist ihnen ein Selbstverständnis entwachsen, welches die bis in diese sozialreformerische und kulturrevolutionäre Phase der Bundesrepublik vorherrschenden, disziplinierenden und sozialintegrativen Vorstellungen des Berufsfeldes sukzessive durch ein solidarisch-parteiliches ablöste. Die neue Logik, welche nicht mehr nur für die, sondern in einer wechselseitigen Konstitution mit den Nutzer*innen Sozialer Arbeit ein „transversales Handlungsmuster“ für den Hilfeprozess zu gestalten versucht, „welches quer zu den herrschenden Institutionen liegende[] Kommunikations- und Kooperationsgeflechte” (Kunstreich 2001, S. 409) meint, findet sich auch im „Zwischenruf“ des AKS HH. Der letzte Abschnitt endet damit, dass es

„kritische und solidarische Mitarbeiter-Teams [brauche], die sich organisieren. Und wenn nötig die aktuell geltenden Regeln aus guten Gründen brechen und alternative Handlungsweisen erfinden, um in den veränderten Situationen Lösungen zu entwickeln, die für möglichst alle Beteiligten eine echte Chance und Neuorientierung ermöglichen. Wir sollten uns wieder stärker daran orientieren, was unsere Nutzerinnen und Nutzer brauchen und wollen. Es geht also um gemeinsame Aufgabenbewältigung.“

Selbst wenn die Perspektive der betroffenen Nutzer*innen bei der gemeinsamen Aufgabenbewältigung stärker „repräsentiert“ wäre, viel mehr als eine differenziertere Aussage über ihre Lebenslage wäre damit kaum verbunden. Zudem bleibt an dieser Stelle unklar, welche Aufgaben hier gemeinsam bewältigt werden sollen: die der gelingenden Lebensbewältigung im Krisenmodus der Pandemie oder gleich die der Systemtransformation? Die Grundannahme, dass ausgerechnet die Adressat*innen Sozialer Arbeit, die dem täglichen Kampf ums Überleben häufig wie kaum jemand sonst ausgesetzt sind, eine privilegierte Position zur Formulierung einer transformatorischen Kritik der Gesellschaft innehaben sollen, birgt das Risiko, ihre Perspektive für die eigenen Emanzipationshoffnungen zu instrumentalisieren. Dieser Aspekt wird noch verstärkt durch die implizite Annahme, dass die Nutzer*innen selbst per se an einer emanzipatorischen Systemtransformation Interesse zeigen würden, diese grundlegende Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse also auch „brauchen und wollen“ (AKS HH 2020). Dieser Gedankengang unterliegt in zweifacher Weise einem logischen Sprung: Zum einen, indem vom realen Subjekt in einer Form abstrahiert wird, die es in einer idealisierten Vorstellung auflöst. Zum anderen wird durch die Ausblendung der Systemzwänge sozialarbeiterischer Praxis die eigene Position in eine Stellung gebracht, der nur dadurch mit Blick auf das Ganze, die gesellschaftliche Totalität, eine transformatorische Kraft zugeschrieben werden kann. Die Rede von einer als Chance zu begreifenden Krise (zur Kritik: Dörre 2020) ist vielmehr Ausdruck einer Ohnmacht als ihrer realen Bewältigungsoptionen. Die auf theoretischer Ebene vollzogenen Umwege des AKS HH, der in subjektivistischer Wendung eine Systemtransformation von unten versucht, müssen dabei selbst als verstellte Vermittlung von Individuum und Gesellschaft begriffen werden. Das Vermittlungsproblem wird unter Absehung von der gesellschaftlichen Realität mit einem Satz nach vorn – in die ‚kritische‘ und solidarische, sozialpädagogische Praxis – zu überwinden versucht und zurrt dabei die eigene Verstricktheit nur noch enger, indem sie sich primär in den Dienst der imaginierten Anderen, also der Adressat*innen stellt. Dieser theoretische Distanzmangel ist nur die Verdopplung einer Realitätsabwehr, die die eigenen Maßstäbe sowohl in Richtung der Anvertrauten als auch der eigenen Wirkmacht innerhalb ‚des Systems‘ aus den Augen verloren hat. Dieser distanzgeminderte Versuch, der Ohnmacht zu entfliehen, ist dabei allerdings kein Ausdruck von Dummheit, sondern aufgrund des Handlungserfordernisses der Sozialen Arbeit wiederum systemimmanent – mehr denn je in einer Krise, welche sie als professionelle Löserin sozialer Probleme adressiert, deren Status sie sich in den letzten Jahrzehnten erst mühsam zu erkämpfen hatte. Soziale Arbeit wäre keine, würde ihre Theoriebildung sich selbst nicht immer auch zugleich als Reflexion begreifen, die in dieser Praxis ihren Ausgangspunkt hat. Das ist nicht despektierlich zu verstehen, entzieht ihr doch die Konfrontation mit dem Elend häufig jeglichen idealistischen Schein, der anderen wissenschaftlichen Disziplinen so oft zu eigen ist.

Societal Distancing – Ein Plädoyer für systemische Irrelevanz

Wie lässt sich nun aber ein Ausweg aus der besagten Ohnmacht finden, ohne sogleich die kritische Distanz zur Gesellschaft aufzugeben, die auch in der Krise notwendig bleibt? Wie müsste also solch eine Kritik beschaffen sein, die nicht das antagonistische Moment durch die Affirmation ihrer Begriffe verdeckt und dabei selbst nicht irrelevant bleibt? Trotz der semantischen Spannung, die mit dem Begriff der Systemtransformationsrelevanz erzeugt werden soll, verdeckt und verdrängt dieser doch nur die gesellschaftlichen Antagonismen. Die Vorstellung einer Systemtransformation, bei der das Moment von Selbstreflexion und ‑distanzierung ausbleibt, gleicht dann mehr dem Versuch eines Systemupdates, bei dem die Prozesse nur optimiert anstatt grundsätzlich in Frage gestellt werden. Eine theoretische Reflexion, die Gesellschafts– durch Systemkritik ersetzt, verfängt sich selbst in der Betriebsamkeit, aus der sie sprunghaft auszubrechen versucht. In dem, was ihr als Begriffsarbeit gilt, verdoppelt sie lediglich die sowohl ohnmächtige als auch kritisch intendierte Praxis und weist sie nolens volens als transformierenden Zwischenruf aus. Dabei wäre eine Fokussierung auf praktische Transformation dezidiert von der Intervention zu unterscheiden. Während die Intervention als ‚Eingriff‘ in das Bestehende, also ganz im Sinne Benjamins (2010) als Notbremse für laufende Prozesse verstanden werden müsste, bringt der Transformationsbegriff, indem er am Horizont immer schon auf eine andere Ordnung verweist, primär eine Veränderung dieser Prozesse mit sich, ohne sie jedoch unterbrechen zu wollen. Es wäre stattdessen also zunächst am disruptiven Moment der Intervention festzuhalten, eben weil sie (zunächst) keine konstruktive Lösung in Hinblick auf den kapitalistischen Normalvollzug bietet. Diese Unterbrechung soll allerdings nicht heißen, dass die sozialpädagogische – und erst recht nicht die ‚kritische‘ – Praxis ausgesetzt werden könnte, ohne die sich das Elend im gegebenen Krisen-Modus ins Unermessliche steigern würde. Sie sollte nur aufhören, sich selbst und ihr Gegenüber noch dadurch zu überfordern, dass sie dem Negativen noch etwas Positives abzugewinnen versucht, was letztlich den krisenbedingten Bruch in der Ordnung nur verdeckt.

Bevor also die handlungsleitende Frage einer kritischen Praxis überhaupt gestellt werden kann, müsste zunächst die gegenwärtig akute Brüchigkeit der scheinbar total integrierten Gesellschaft und ihres doppelt integrierten Individuums – das ins Kollektiv eingegliedert wird und das seine Prinzipien in der Subjektstruktur verinnerlicht hat (Adorno 1979, S. 18) – als narzisstische Kränkung reflektiert werden: Der ernüchternden Erkenntnis, doch nicht im erhofften Maße relevant für die Transformation des Systems, also eben doch ‚nur‘ systemrelevant zu sein, was sich schlecht mit einem kritischen Selbstverständnis vereinbaren lässt, läge wiederum die tiefere Einsicht zugrunde, als Sozialarbeiter*in qua eigener gesellschaftlicher Stellung keinen ausreichenden politischen Einfluss zu haben. Dass Soziale Arbeit etwa in der öffentlichen Wahrnehmung mitunter in gleicher Weise marginalisiert wird wie ihre Adressat*innen, hat in Referenz auf den DBSH nicht nur aufmerksamkeitsökonomische Gründe. Vielmehr noch liegen sie in der patriarchalen Abwertung des Reproduktionsbereichs und den Erkenntnisgrenzen, die die Trennung von Hand- und Kopfarbeit mitsamt ihrer sozialen Hierarchisierungen ‚notwendig‘ mit sich bringen. Der Frage, wie sich (nicht nur) aus berufspolitischer Perspektive eine Bedeutsamkeit überhaupt denken, geschweige denn realisieren ließe, in der die gesellschaftlichen Strukturmaximen transzendierend gedacht werden, müsste zunächst eine radikale Selbstreflexion vorgeschaltet werden, die sich die eigene Abhängigkeit und Befangenheit einzugestehen vermag. Der Anspruch, systemtransformationsrelevant zu sein, lässt sich dabei überhaupt nur denken in bestimmten gesellschaftlichen Funktionsbereichen und qua dieser Verstricktheit. Während etwa die staatliche Administration oder der privatwirtschaftliche Dienstleistungssektor, der den Umgang mit den ‚Klient*innen‘ bzw. ‚Kund*innen‘ per se als Verwaltungsakt begreift, gar keinen normativ-positiven Begriff zu entwickeln vermögen, welcher qualitativ über die bestehende Systemlogik kapitalistischer Vergesellschaftung hinausweist, übersetzt sich im Reproduktionsbereich (und v. a. in den Arbeitsfeldern Sozialer Arbeit) das Kapitalverhältnis dialektisch vermittelt in jenes von Hilfe und Kontrolle (Hünersdorf 2010): Sozialpädagog*innen befinden sich immer zugleich aufseiten jener, die im kapitalistischen Verwertungsprozess ihre Arbeitskraft – mehr oder weniger erfolgreich – bereitzustellen gezwungen sind, als auch aufseiten des Kapitals resp. des Staates, in dessen Auftrag sie die Integrationsleistung zu erbringen haben. Diese Dialektik ermöglicht überhaupt erst die besagten transformatorischen Öffnungsmomente. Die seit Beginn der Krise des Fordismus in den 1970er Jahren sukzessiv zugenommene Delegation von immer mehr Aufgabenbereichen an die Soziale Arbeit, wie sie sich im Allzuständigkeitspostulat manifestiert, verschleiert jedoch durch staatliche Verantwortungsübertragung (resp. professioneller ‑übernahme) bei rationalisierter Mittelvergabe eben jene Abhängigkeit – sowohl vom Souverän als auch von den systemisch bedingten Krisen. Vor dem Hintergrund der neoliberalen Umstrukturierung, ihrer inneren Landnahmen (Dörre 2009) im Reproduktionsbereich und der einhergehend vermeintlichen „Normalisierung“ Sozialer Arbeit seit den 1980er Jahren (vgl. Wagner 2011) wäre klassentheoretisch ihr Aufstieg in immer mehr gesellschaftlich relevante Funktionsbereiche zu reflektieren. Die Crux liegt hierbei in Anlehnung an Adorno (1979, S. 388-391) eben darin, dass sich seitens der Sozialarbeiter*innen nicht automatisch mit der Akkumulation von Herrschaftswissen und mit dem materiellen Potential, das sie durch ihre politische wie ökonomische Bedeutung erlangen, sogleich eine Aussage über ihr reales, gesellschaftspolitisches Potential zur Systemtransformation getroffen ist. Durch die Anhebung des eigenen Lebensstandards und ihren gesellschaftlichen Statusgewinn, durch den sie sich zunehmend (auch in sprachlicher Hinsicht) von der Lebenswelt der Nutzer*innen entfernen, verfallen sie sogleich noch stärker dem Trugbild der Autonomie. Nun bringt die Corona-Krise für Sozialarbeiter*innen eine Situation hervor, in der unter erhöhter gesellschaftlicher Anrufung nicht nur eine neuartige Konkurrenz um Ressourcen und symbolischen Status zwischen den verschiedenen Sektoren im Reproduktionsbereich, sondern durch die geteilte Erfahrung, als systemrelevant im System eingeschlossen zu sein, zugleich eine verschärfte Ausschließung jener entsteht, die eben nicht als funktional für den Systemerhalt gelten. Zugleich sind es diese gesellschaftlich marginalisierten und ‚irrelevanten‘ Adressat*innen, ohne die Soziale Arbeit selbst überhaupt nicht existieren könnte, auf die sie also ‚systemisch‘ angewiesen ist, was das zwiespältige Verhältnis der systemisch bedingten Distanzminderung umreißt. Der in der Systemtransformationsrelevanz manifestierte, logische Umweg des AKS HH impliziert – gleich der Systemrelevanz des DBSH – einen kohäsiven Gesellschaftsbegriff und muss als Kompromissbildung verstanden werden: Er symbolisiert im Abhängigkeitsverhältnis eine Positionsbestimmung, bei der die Soziale Arbeit zwischen Selbstlegitimation und ‑verleugnung oszilliert, ohne sich dabei (entgegen dem professionellen Auftrag) ‚selbst überflüssig machen‘ zu wollen.

Dieses schwierige Nähe-Distanz-Verhältnis hat durch die akute und potenziell fast jede*n betreffende Bedrohung der körperlichen Unversehrtheit in der Corona-Krise zudem eine leibliche Seite, auf der sich das Unbehagen mit der physischen und sozialen Natur einschreibt.

„Wenn darin [in der Negativen Dialektik] Nichtidentisches namhaft gemacht wird, betrifft es immer die Physis, an ihr allein erkennt das Bewusstsein, dass es unaufhebbar das eines Einzelnen ist. Das Individuum erfährt, was sein Begriff bedeutet: unteilbar zu sein, auch wenn Gesellschaft immer perfekter darin wird, alles teilbar zu machen, damit das Kapital sich verwertet. Der Leib ist so gesehen auf der Ebene des individuellen Lebens, was die Krise auf der Ebene des gesellschaftlichen darstellt“ (Scheit 2011, S. 19f.).

Wie also die gesellschaftliche Krise als vermeintlich äußerliche doch nur anzeigt, dass die Menschen als Getrennte aufs Engste miteinander verbunden sind, dass sich also das Soziale vielmehr als das Antisoziale entpuppt, erweisen sich auch die gut gemeinten Appelle, physical distancing sei mit social distancing nicht zu verwechseln, mit Blick auf die Nutzer*innen Sozialer Arbeit als Trugschluss. Während Adorno (2003b, S. 45) für den Fordismus noch festhielt, die Entfremdung an den Menschen erweise sich „gerade daran, dass die Distanzen fortfallen“, da sie sich „mit Geben und Nehmen, Diskussion und Vollzug, Verfügung und Funktion immerzu auf den Leib rücken“, werden die durch Lohnarbeit nicht verwertbaren Körper nun unter einem Zwang getrennt, der ihnen wie allen kritischen Beobachter*innen ihre gesellschaftliche Desintegration wie einen Spiegel vor Augen hält. Ob in Frauenhäusern, Obdachlosen- oder Geflüchtetenunterkünften: Waren die gedrängten Verhältnisse zuvor bereits Ausweis ihrer Entmenschlichung, wird ihre öffentliche Sichtbarkeit aufgrund der Unmöglichkeit, sich in den privaten Raum zurückzuziehen, nun zur generalpräventiven Sozialdisziplinierung, die den Restlichen in einer Krise, ‚die uns alle betrifft‘, schimmern lässt, dass dieses Leid auch dem eigenen Leib nicht allzu fern sein muss. Denn nicht nur Wohnungslose oder Adressat*innen der akzeptierenden Drogenhilfe erscheinen möglicherweise in der krisenbedingten Verknappung von finanziellen Ressourcen als irrelevant, sondern auch die damit verbundenen Angebote der Sozialen Arbeit. Autoritärer Etatismus im Neoliberalismus (Kannankulam 2008) reloaded heißt dabei Ausschließung als neue Form der Naturbeherrschung, deren Rationalität jetzt, wo erste und zweite Natur vermeintlich in eins fallen, das Soziale mit gleicher mathematischer Genauigkeit vermisst wie die politische Steuerung mittels des Inzidenzwerts die Infektionszahlen einzuhegen versucht. Neu ist dabei nicht die Logik, sondern der Wegfall ihrer Legitimationsnotwendigkeit.

Dies bringt uns abschließend zur Ausgangsfrage zurück, nämlich was wir angesichts einer Krise, deren Ende noch immer nicht in Sicht und deren Ausmaß an Traumata und kollektiv angestauten Aggressionen noch längst nicht absehbar ist, überhaupt wissen, geschweige denn tun können. Theoretische Analyse und intervenierende Praxis fallen hier notwendigerweise auseinander, denn während man einerseits die Bedürftigen nicht schutzlos den Witterungs- und (falschen) ‚sozialen‘ Verhältnissen ausliefern kann, ist das Nachdenken über das Theorie-Praxis-Verhältnis wiederum im Vollzug einer kritisch intendierten Praxis kaum möglich. Kritische Intellektuelle lösen ihr Unbehagen, das häufig von der Einsicht herrührt, dass ihre Kritik wie ihre Selbstzweifel in ihrer systemischen Irrelevanz wiederum überaus systemrelevant sein könnten, gern durch den Rückzug auf Adornos vermeintliche Praxisferne und den Balsam aus seiner Flaschenpost-Metapher auf. Demgegenüber ist die narzisstische Kränkung jener, die etwa als kritische Streetworker in der Kälte unmittelbar mit dem Leid an den Verhältnissen konfrontiert sind, ungleich schwerer auszuhalten. Sie gehen einer systemrelevanten Erwerbstätigkeit nach, deren Ambivalenz sie tagtäglich am eigenen Leib spüren, um dann, in Abspaltung von der Lohnarbeits-Identität, sich unbezahlt in Gesellschaftskritik zu üben, die für sie nicht nur Gedankenspielerei ist, sondern in der Praxis zur unmittelbaren, gar leiblichen Erfahrung wird. Zwei bei Adorno entlehnte Gedanken, der Begriff der Intervention wie auch das viel (und oft falsch) verwendete Nichtidentische, könnten hier im negatorischen Sinne der Verweigerung zumindest temporäre (Haltungs‑)Perspektiven aus diesem ausweglos erscheinenden Widerspruch bieten. In seiner Aphorismensammlung Richtig falsch versucht Michael Hirsch (2019), eine Ausflucht aus dem Theorie-Praxis-Dilemma zu finden. Er verbindet die unnachgiebige Kritik am Bestehenden im inflationär zitierten Diktum Adornos, es gebe kein richtiges Leben im Falschen, mit einer Wendung auf die alltägliche Praxis, in der so zu handeln wäre, „als ob es tatsächlich auf mich ankäme“ (ebd., S. 152, Hervorh. i. O.). Diese intervenierende Als-Ob-Haltung würde allerdings versuchen, einen zentralen Gedanken aus der Negativen Dialektik (Adorno 2003d) einseitig aufzulösen, ginge sie davon aus, dass das eigene Handeln de facto eine Systemtransformation bewirke. Eine kritische (sozialpädagogische) Praxis müsste demgegenüber einerseits erprobt werden im Bewusstsein der eigenen, systemischen Irrelevanz und der Unmöglichkeit einer umfassenden Transformation, also darüber, dass sich allein durch sie keine transformatorische oder gar revolutionäre Situation herstellen lässt. Zugleich weiß sie, dass ohne falsche oder bestenfalls kritische Praxis Gesellschaftskritik unmöglich wäre, da ihr der Gegenstand fehlte. Andererseits muss sich solche Praxis stets im Bewusstsein halten, dass jedes Eingreifen auch dazu beitragen kann, dass sich der kritisierte Zustand noch verschärft. Sie muss bereit sein, die (auch sozialpädagogisch) entfachte Wut wieder zu zügeln, gegebenenfalls sogar dem frei galoppierenden Ressentiment intervenierend die Beine zu stellen. „Wer denkt, ist in aller Kritik nicht wütend: Denken hat die Wut sublimiert“ (Adorno 2003c, S. 799). Selbst wenn die Wut der Adressat*innen Sozialer Arbeit gegen ‚die da oben‘ oder gegen noch weniger Privilegierte aus einer sozialpädagogischen Perspektive zunächst noch nachvollziehbar erscheint, kann sie ihrem Inhalt nach niemals akzeptierbar sein, sondern ist als Resultat einer Zurichtung des Individuums durch dieses System zu verstehen. Hier erst setzt Gesellschaftskritik an, die über das reformatorische Verständnis für Systemzwänge hinausgeht. In diesem Sinne ein Plädoyer für systemische Irrelevanz zu formulieren heißt, im Modus des societal distancing am theoretischen Denken, das die krisenzyklisch reanimierten Begriffe kritisch prüft, gleichermaßen festzuhalten wie am Mut zur Selbstdistanzierung, welcher auch in der Corona-Krise dem eigenen Unbehagen an der zweiten Natur, dem ‚Sozialen‘, nachzuspüren vermag, ohne dieses Unbehagen blindlings durch transformatorische Praxis auflösen zu wollen. Ganz im Sinne einer kritischen Gesellschaftstheorie ist über das Erkenntnisvermögen zum Verhältnis von Individuum und Gesellschaft am Beispiel der Sozialen Arbeit dabei allerdings wenig Neues gesagt: Distanzminderung ist auch keine Lösung.

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Medikamentenknappheit. Anatomie einer Mangelwirtschaft

Als im Oktober 2016 im ostchinesischen Jinan eine Explosion die örtliche Fabrik des Pharma-Subunternehmens Qilu stilllegte, waren die Folgen bald darauf weltweit zu spüren. In dem Werk fand ein großer Teil der weltweiten Produktion von Piperacillin/Tazobactam statt. Auch in Deutschland kam es daraufhin über einen großen Teil des folgenden Jahres zu Lieferengpässen für das Medikament. Continue reading „Medikamentenknappheit. Anatomie einer Mangelwirtschaft“

Es war einmal in Groß-Ostasien

Am 9. September 1945 endete der zweite Weltkrieg. Nicht mit der Kapitulation Deutschlands, die den Krieg in Europa schon am 8. Mai des selben Jahres beendete. Auch nicht mit der berühmten Ansprache des japanischen Kaisers per Radio, der, nach den Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki und ohne das Wort Kapitulation je in den Mund zu nehmen, sich den Alliierten ergab. Nein, erst mit der Kapitulation der japanischen Truppen in China war der Krieg wirklich beendet. Es ist bezeichnend, wie wenigen Menschen außerhalb der betroffenen Länder dieser Kriegsschauplatz überhaupt bewusst ist. Dabei hatte der Weltkrieg hier begonnen, nicht mit Hitlers Überfall auf Polen, sondern mit dem zweiten japanisch-chinesischen Krieg.
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