Bastian Bredtmann
In seinem Buch »After Woke« nimmt Jens Balzer das Selbstbild der »woken« Linken beim Wort. Warum, fragt er, zeigt sich ausgerechnet das intellektuelle Milieu, das sich unter der Fahne des Progressiven versammelt, seit dem 7. Oktober so empfänglich für regressive Denkmuster?
Der Evergreen, die Trumpfkarte, die oft – vielleicht sehr oft – ausgespielt wird, heißt Antizionismus. Dieser exklusiv linke Beitrag zur Gegenaufklärung vollbringt – häufig beschrieben und analysiert – nicht bloß das intellektuelle Kunststück, nicht mehr so genau sagen zu müssen, was man meint, und aggressiv zu meinen, was offiziell tabu ist, sondern er verpasst dem Ressentiment geradezu das Antlitz der gerechten Sache. Dass sich ein großer Teil der mittlerweile alt gewordenen Neuen Linken einst anschickte, unterm humanistischen Banner, ganz ehrbar und mit allerhand Groß- und Sehnsuchtsbegriffen ausgestattet, das Geschäft ihrer Widersacher zu übernehmen, hat Jean Améry bereits in den Siebzigern rauf- und runterbuchstabiert. Im Antizionismus der Genoss:innen sah Améry damals nicht weniger als eine aktualisierte, mit hochgeistigem Make-up versehene Version des alten, des »Spießer-Antisemitismus«, wie er es nannte. Jenen Linken, die das Existenzrecht des unwahrscheinlichen Staates infrage stellten, attestierte er: Sie seien entweder zu dumm, um einzusehen, dass sie an einer Art »Über-Auschwitz« mitwirkten. Oder sie täten dies ganz bewusst. Entsetzt, fast schon beschwörend rief er ihnen hinterher: »Es kann nicht, darf nicht sein, dass die Nachfahren der Heine und Börne, der Marx und Rosa Luxemburg, Erich Mühsam, Gustav Landauer es sind, die den ehrbaren Antisemitismus verbreiten.«
Die Linke, die heute den Ton angibt – unüberhörbar jedenfalls in Akademia, im Kunst- und Kulturbetrieb, in der Clubkultur, nicht zuletzt auf der Straße – hat, so scheint’s, bloß ihre Hausgötter ausgetauscht. Ansonsten macht sie dort weiter, wo Améry schon kaum noch Gehör fand, nur diesmal nicht mehr antiimperialistisch verkleidet, sondern im Sound postmoderner Theorie. Was bleibt: die Kufiya als fashion item Nummer eins und ein antizionistisches Weltbild, das offenbar derart verpanzert und abgehärtet ist, dass nicht einmal der 7. Oktober es auch nur ein klitzekleines bisschen ins Wanken bringt. Im Gegenteil, schon kurz nachdem dieses Verbrechen gegen die Menschheit bekannt wurde, waren da bereits: Hohn, Verherrlichung, Furor. So einige Stars am Szenehimmel hielten mit ihrer Begeisterung nicht hinterm Berg. Ob da wieder mal heftig Werk und Autor:in getrennt werden muss? Den einen erscheint das Grauen als Befreiungskampf, die anderen sehen es im Kontext und deshalb gar nicht mehr. Man protestiert, besetzt, zertrümmert und boykottiert, was das Zeug hält. Und ist so beschäftigt damit, den Genozid zu beweisen und Revolution zu simulieren, dass man gar nicht mitbekommen hat, dass die Menschen in Gaza, derentwillen man das ganze Tamtam doch vorgeblich veranstaltet, mittlerweile zu Hunderten, vielleicht Tausenden der Hamas die Pest an den Hals wünschen.
Für Jens Balzer dagegen war der 7. Oktober eine Zäsur, eine Erschütterung. Er fragt: »Wie kann es sein, dass jemand, der sich selbst als Protagonistin der politischen Emanzipation versteht, keinerlei Mitgefühl mit den Opfern eines Massakers hat? Und – als wäre es damit noch nicht genug – dabei auch noch eine Gruppe von Terrorist:innen als Protagonist:innen eines ›revolutionären Kampfs‹ idolisiert, die ein zutiefst patriarchales, misogynes, homo- und transfeindliches Weltbild pflegt?«
Die Rede ist von der »woken«, der postkolonialen, queerfeministischen, identitätspolitischen Linken. Ihr bescheinigt Jens Balzer einen »moralischen Bankrott« angesichts dessen, was sich seit dem 7. Oktober Bahn bricht. Was aber tun, wenn das Unternehmen »Woke« moralisch pleite ist? Die Insolvenzverschleppung anprangern, Schnäppchen aus der Konkursmasse schlagen? Oder gleich alles entsorgen? So einfach und undialektisch will es sich Jens Balzer nicht machen. Das utopische Denken lässt er sich nicht abmarkten. »After Woke«, so der Titel seines furiosen Essays, ist nicht der soundsovielte Aufguss wohlfeilen Woke-Bashings, kein intellektuelles Schattenboxen, das, meist schlecht verkleidet, den neurechten Kulturkampf munitioniert. Wenn Balzer dagegen, wie er schreibt: »die Wokeness gegen die Wokeness« zu denken versucht, sie also beim Wort nimmt, ist das Kritik durchaus im buchstäblichen Sinn. Er unterscheidet. Und er versucht, den Kerngedanken jener Bewegung zu verteidigen – nicht bloß gegen das Triumphgeschrei von rechts, sondern auch gegen ihre heutigen Lautsprecher auf der linken Seite.
Da ist zum einen das Anliegen der Emanzipation. Ein, wie Balzer bemerkt, zutiefst demokratisches Ideal: dass nämlich Menschen mit unterschiedlichen Biografien gleichermaßen gehört und gesehen werden. Insofern ist es kein Zufall, dass die schrillsten – nun ja – Kritiker der sogenannten Wokeness Trump, Putin, Orbán oder Krah heißen. Im trumpistischen Amerika kann man aktuell beobachten, was es bedeutet, wenn die Grundlagen einer mehr oder weniger liberalen Gesellschaft um- und abgebaut werden: Gleichschaltung statt Gleichstellung. Und auch – zum Beispiel – die CSU setzt voll auf den Anti-woke-Trend, wenn sie in ihrem Grundsatzprogramm die bayerische Lebensart – was auch immer das genau sein soll – als Gegensatz zum vermeintlich woken Zeitgeist beschwört. Zum anderen ist da der krasse Widerspruch: dass die Awareness jener Leute offenbar dort endet, wo es Jüdinnen und Juden an den Kragen geht. Dass Leute, die sonst feinfühlig wie gekonnt noch den unscheinbarsten Mikroaggressionen nachspüren, in Raserei verfallen, wenn’s um Israel geht. Die sich in safer spaces empowern, aber den Schutzraum Israel from the river to the sea verschwinden lassen wollen. Schließlich, schreibt Balzer: »Schließlich muss man sich angesichts der aktuellen Entwicklungen tatsächlich fragen, was schiefgelaufen ist in einem intellektuellen Milieu, das sich seit dem 7. Oktober in antisemitischen Stereotypen und in einem manichäischen Weltbild verrennt.«
»After Woke« beantwortet diese Frage im Modus einer »dialektischen Reformulierung« des intellektuell an die Wand gefahrenen Projekts. Heißt: Die Streitschrift will hinter die Gegenwart zurück zu den anfänglichen Impulsen. Dabei im Mittelpunkt: der Verfall des postkolonialen Denkens. Das ist einst angetreten, schreibt Balzer, um die Welt der vielen zu ermöglichen, das koloniale Erbe des Westens auf die Tagesordnung zu setzen, die Kolonialgeschichte aufzuarbeiten und die eine oder andere Korrektur in der Geschichtsschreibung – Geschichte wird, man weiß es, von den Siegern geschrieben – vorzunehmen. Übrig geblieben davon ist kaum mehr als das akademische Modewörtchen »post« und das Wort Kolonialismus. Und dieses wird, reichlich enthistorisiert und abgelöst von realen Ereignissen und Konflikten, auf alles Mögliche draufgeklebt wie eine Schablone, vor allem auf den sogenannten Nahostkonflikt, die Projektionsfläche dieser Tage schlechthin.
Anschaulich und mit Verve geschrieben, zeigt Balzer, wie sich der Postkolonialismus in ein »Wahrheitsregime« und dadurch in eine »quasi-religiöse Praxis« transformiert. Was nach Balzer eine recht verstandene Wokeness ausmacht – man könnte das auch einfach ein offenes Denken nennen –, ist hier nicht mehr anzutreffen. Stattdessen verschließt und verhärtet sich alles zum Standpunkt, von dem aus man, unverrückbar, aber schon ein bisschen verrückt, die Menschen entlang eines groben Freund-Feind-Schemas klassifiziert und die darin aufgespannte Weltpolitik überblickt. Das Wahrheitsregime kennt nur noch Gut und Böse, Unschuldig und Schuldig, Unterdrückte und Unterdrücker, Schwarz und Weiß. Seine Anhänger:innen entscheiden, wer zu den »Priester:innen« gehören darf und wer zu den »Büßer:innen« gehören muss. Herauszutreten aus dieser vorgefertigten Wahl, was man Kritik nennen könnte, ist nicht vorgesehen. Die bereits festgelegten Weltbilder müssen nur noch passend ausgemalt werden. Und Schwarz-Weiß-Denken ist wörtlich gemeint. Balzer: »Im postkolonialen Wahrheitsregime, in dem Menschen strikt ›along the color line‹ in Schwarz und Weiß eingeteilt werden, werden jüdische Menschen als privilegierte weiße Menschen betrachtet und damit auf die Seite der Unterdrücker und Kolonialisten gestellt – worin sich übrigens auch ein alter Standard der antisemitischen Ideologie zeigt, denn dieser galten ›die Juden‹ ja schon immer als jenes Volk, das mit geheimen oder offensichtlichen Privilegien die Geschicke der Welt leitet.« »Stay woke« kann hier nur noch heißen, auf der richtigen Seite zu stehen, wobei es keinen Ausweg gibt, wenn man das Pech hatte, sich auf der falschen zu befinden; allenfalls noch die abzulegende Beichte der Gesinnung bleibt in diesem Fall übrig.
In einem kleinen Abstecher in die Begriffsgeschichte erinnert Balzer daran, dass die Formel »stay woke« seit bald 90 Jahren in unterschiedlichen Richtungen kursiert. Erstmals verwendet wurde sie Ende der Dreißigerjahre in einem Blues-Song von Leadbelly; hier noch nicht als politisches Programm verstanden, sondern als Warnung an Schwarze, einen großen Bogen um Alabama zu machen. Die »Scottsboro Boys«, wie der Titel des Songs lautet, könnten schließlich ein Lied von der rassistischen Verfolgung singen, die dort drohe. Auch in jüngerer Zeit, etwa in Erykah Badus Song »Master Teacher«, geht es darum, wachsam zu bleiben gegenüber den Gefahren der rassistisch geprägten Gesellschaft. Es geht ihr jedoch nicht nur um die eigene Diskriminierungserfahrung, sondern auch darum, die Diskriminierung anderer wahrzunehmen – eine Fähigkeit zur Selbstreflexion, die auf dem Höhepunkt der woken Bewegung, den Black-Lives-Matter-Protesten, vollkommen abhandengekommen ist.
Black Lives Matter: Das war, so Balzer, einerseits ein eindrucksvolles Statement gegen den Würgegriff des Rassismus. Andererseits: des Antisemitismus voll. Was dort im antizionistischen Jargon zu hören war, drängte zur Praxis. In Los Angeles etwa wurden jüdische Geschäfte geplündert und die Statue von Raoul Wallenberg geschändet. Und nicht wenige aus der Bewegung waren nach dem 7. Oktober auch ganz aus dem Häuschen. Gegenstimmen? Fehlanzeige. Es nimmt kaum wunder, dass Theoretiker wie Henry Louis Gates Jr., Paul Gilroy und Stuart Hall – Balzers Gewährsleute, aus deren Arbeiten er ausgiebig zitiert – heute weniger zum postkolonialen Kanon gehören. Bei ihnen reimte sich Postkolonialismus noch nicht auf Antisemitismus. Die antizionistische Schlagseite der Bürgerrechtsbewegung war für sie kein Blindfleck. Die Ressentiments auch unter den Verdammten dieser Erde waren ihnen bewusst. Und vor allem war diesen Theorien noch bewusst, dass man den Zumutungen der Gegenwart nicht durch die Flucht in die Vergangenheit entkommt.
Dass der Ursprung verstellt bleibt, diese Erfahrung der Diaspora als Folge des europäischen Kolonialismus und Imperialismus, galt einmal als ausgemacht. »Identität« wurde als etwas Offenes, Zukünftiges gedacht. Das aber, zeigt Balzer, wurde abgelöst durch den Kult und die Faszination vom Ursprünglichen und Authentischen, nicht selten romantisch verklärt und symbolisch überhöht. Hochkonjunktur hat das sogenannte Indigene. Sie definieren sich wieder über Identitäten, sie re-essenzialisieren alles. Und die Befreiung der Welt, sie wird erhofft im Vormodernen, irgendwo vor der Zivilisation. Das Schablonen-Denken hat’s ihnen dabei wahrlich angetan. Es ist nicht nur das reichlich simple Schwarz-Weiß-Denken – Juden sind in dieser abenteuerlichen Vorstellung »die Weißen« (und schon deshalb schuldig) und Palästinenser »die Schwarzen« –, sondern das Schema erweitert sich um den alles entscheidenden Gegensatz: modern versus ursprünglich. Und dieser Gegensatz wird fast schon eschatologisch aufgeladen: Als würde gerade die letzte große Schlacht zwischen dem Globalen Süden und Norden stattfinden. Hier die zweckrationale, kalte, entfremdete Zivilisation. Dort die warme, ehrliche, einfache, selbstbestimmte Ursprünglichkeit. Hier edle Wilde, dort böse Imperialisten und Kolonialistinnen. Und was einem noch so einfällt, Siedler vielleicht. Was auch immer geht: Eliten.
Wollte man nicht, wie Balzer bemerkt, die »Feier der Vielheit, des kulturellen Patchworks und der unendlichen Rekombinationen«? Und jetzt landet man doch wieder bei der Identität, der Scholle, letztlich: dem völkischen Denken. Damit reiht sich die Linke freilich in eine allgemeine Tendenz der Nostalgie ein. Wo die Gegenwart zu komplex erscheint, sehnt man sich offenbar nach vermeintlich einfacheren Zeiten, nach dem warmen und wohligen Gefühl der Tradition. Der Spleen mit der Herkunft und die Fantasie einer geschlossenen Kultur sind dabei gewiss nicht die einzigen Übereinstimmungen mit der Neuen Rechten. Am deutlichsten ist wohl die Parole »Free Palestine from German Guilt«, die ihr Echo hat im »Schuldkult« und der »erinnerungspolitischen Wende um 180 Grad«. Und da spuken, fast möchte man sagen: natürlich, noch allerhand Gespenster und recycelte Mythen herum – vom ausgedachten Palästinenserkollektiv, das die eigene Entlastung garantiert und zugleich als ausgelagertes revolutionäres Subjekt herhalten muss, bis zur Täter-Opfer-Umkehr.
Was Balzer macht, erinnert aus der Ferne ein wenig an ein anderes, aber dann doch ähnliches Vorgehen. In den Zwanzigerjahren des vorigen Jahrhunderts – der Marxismus muss ziemlich im Eimer gewesen sein damals – haben undogmatische Marxisten wie Georg Lukács und Karl Korsch nicht weniger unternommen, als den vorherrschenden Materialismus gegen sich selbst zu lesen und auf sich selbst anzuwenden. Am Ende dieser Selbstkritik stand immerhin eine linke Gesellschaftstheorie, die die Erfahrung der Barbarei bis ins Innerste der eigenen Theoriebildung aufgenommen hat. Ob sich wenigstens verwirrte Wokies noch mal berappeln und zur Besinnung durchringen können?
Vielleicht, aber nur vielleicht hätte es auch anders kommen können. Zumindest eine Irritation, ein Innehalten wäre denkbar gewesen, meint Balzer, und der 7. Oktober hätte zur Selbstkritik drängen können. Man hätte auf die Idee kommen können, dass da irgendwas nicht stimmen kann. Mit der eigenen Sicht, den theoretischen Voraussetzungen und dem hypermoralischen Standpunkt, von dem aus die Welt in unten und oben aufgeteilt wird. Man hätte bemerken können, dass die Romantisierung ausgerechnet des politischen Islams, mit der im Vorbeigehen das Geschlechterverhältnis wieder zum bloßen Nebenwiderspruch zusammengestampft wird, nur immer weiter in den Verblendungszusammenhang hineinführt. Man hätte zumindest erahnen können, dass man den ehrbaren Antisemitismus der Siebzigerjahre unter anderen Vorzeichen nur immer weitertreibt. Man hätte die Irritation und Verunsicherung zulassen können, wie sehr man im Widerspruch mit sich selbst ist. Wer A sagt, muss schließlich nicht B sagen, sondern könnte auch … – aber das mag Balzer dann selbst nicht so recht glauben. Und solche Überlegungen werden ohnehin schnell von der Wirklichkeit überholt. Die Pro-Palästina-Linke ist längst eine Pro-Hamas-Bewegung geworden – vielleicht war sie das immer schon –, die sich ihre Parolen, ihre Symbole und Codes, ja ihren ganzen Aktionismus von der Terrororganisation vorgeben lässt. Hier sind längst alle Begriffe und Kategorien durcheinandergewirbelt, und selbst die banalsten und einfachsten Dinge, die mit einigem Recht mal »links« genannt wurden, scheinen nicht mehr zu gelten.
Weil Balzer aber zu einem positiven Begriff von »woke« gelangen will bzw. dessen »positiv-emanzipatorischen Kern« nicht aufgeben mag, verlässt er die immanente Kritik für einen Moment. Und greift im Bücherregal in eine ganz andere Ecke: zu Jürgen Habermas. Der hat, nachdem er sich seiner materialistischen Vorläufer erfolgreich entledigt hatte, mit »Diskursethik« Karriere gemacht. Diese habe, so zitiert ihn Balzer, jene Themen in sich aufgenommen, die einmal ihren Ort in der Marx’schen Revolutionstheorie hatten. So, mit Habermas, schreibt Balzer, könne Wokeness als ein Verfahren gedacht werden, das ein Gegenentwurf sein könne zur identitären Rechten, die sich weltweit gerade dranmacht, alles zu übernehmen. Eindrucksvoll zeigt Balzer, wo das postkoloniale Denken falsch abbiegt und wie sich die Linke der Rechten ähnlich macht. Nur ist die Ausfahrt, die Balzer zu nehmen vorschlägt, mit einigen Fallstricken verbunden. Die alte Frage, warum die Menschheit in Barbarei versinke, schiebt Habermas, und zwar konstitutiv für seine Theorie, souverän beiseite. Antisemitismus aber, ob er nun von links kommt, aus der sogenannten Mitte oder von rechts außen, ist nicht Kraft des besseren Arguments via herrschaftsfreien Diskurs aus der Welt zu schaffen. Das weiß Balzer natürlich auch. Wenn aber Antisemitismus aus der antisemitischen Gesellschaft zu erklären ist, dann kommt man mit Habermas nicht viel weiter. Vielleicht wäre, statt auf Habermas zu setzen, ans Motto der Gesellschaftstheorie zu erinnern: nicht einen richtigen Zustand auspinseln – da kommt meist eh nur die schlechte Kopie des Bestehenden raus –, sondern den falschen erkennen und präzisieren. Zumal – mit Adorno gesprochen – die Erkenntnis des Falschen bereits Index eines möglichen Besseren ist. Und das sollte gewiss weder ein waches Auge für Diskriminierungen aller Art ausschließen noch die Bereitschaft, auch eigene Vorurteile zu überprüfen.
Jens Balzer, »After Woke«, Matthes & Seitz Berlin 2024, 105 Seiten, 12 Euro