Stay woke?

Bastian Bredtmann

In seinem Buch »After Woke« nimmt Jens Balzer das Selbstbild der »woken« Linken beim Wort. Warum, fragt er, zeigt sich ausgerechnet das intellektuelle Milieu, das sich unter der Fahne des Progressiven versammelt, seit dem 7. Oktober so empfänglich für regressive Denkmuster?

Der Evergreen, die Trumpfkarte, die oft – vielleicht sehr oft – ausgespielt wird, heißt Antizionismus. Dieser exklusiv linke Beitrag zur Gegenaufklärung vollbringt – häufig beschrieben und analysiert – nicht bloß das intellektuelle Kunststück, nicht mehr so genau sagen zu müssen, was man meint, und aggressiv zu meinen, was offiziell tabu ist, sondern er verpasst dem Ressentiment geradezu das Antlitz der gerechten Sache. Dass sich ein großer Teil der mittlerweile alt gewordenen Neuen Linken einst anschickte, unterm humanistischen Banner, ganz ehrbar und mit allerhand Groß- und Sehnsuchtsbegriffen ausgestattet, das Geschäft ihrer Widersacher zu übernehmen, hat Jean Améry bereits in den Siebzigern rauf- und runterbuchstabiert. Im Antizionismus der Genoss:innen sah Améry damals nicht weniger als eine aktualisierte, mit hochgeistigem Make-up versehene Version des alten, des »Spießer-Antisemitismus«, wie er es nannte. Jenen Linken, die das Existenzrecht des unwahrscheinlichen Staates infrage stellten, attestierte er: Sie seien entweder zu dumm, um einzusehen, dass sie an einer Art »Über-Auschwitz« mitwirkten. Oder sie täten dies ganz bewusst. Entsetzt, fast schon beschwörend rief er ihnen hinterher: »Es kann nicht, darf nicht sein, dass die Nachfahren der Heine und Börne, der Marx und Rosa Luxemburg, Erich Mühsam, Gustav Landauer es sind, die den ehrbaren Antisemitismus verbreiten.«

Die Linke, die heute den Ton angibt – unüberhörbar jedenfalls in Akademia, im Kunst- und Kulturbetrieb, in der Clubkultur, nicht zuletzt auf der Straße – hat, so scheint’s, bloß ihre Hausgötter ausgetauscht. Ansonsten macht sie dort weiter, wo Améry schon kaum noch Gehör fand, nur diesmal nicht mehr antiimperialistisch verkleidet, sondern im Sound postmoderner Theorie. Was bleibt: die Kufiya als fashion item Nummer eins und ein antizionistisches Weltbild, das offenbar derart verpanzert und abgehärtet ist, dass nicht einmal der 7. Oktober es auch nur ein klitzekleines bisschen ins Wanken bringt. Im Gegenteil, schon kurz nachdem dieses Verbrechen gegen die Menschheit bekannt wurde, waren da bereits: Hohn, Verherrlichung, Furor. So einige Stars am Szenehimmel hielten mit ihrer Begeisterung nicht hinterm Berg. Ob da wieder mal heftig Werk und Autor:in getrennt werden muss? Den einen erscheint das Grauen als Befreiungskampf, die anderen sehen es im Kontext und deshalb gar nicht mehr. Man protestiert, besetzt, zertrümmert und boykottiert, was das Zeug hält. Und ist so beschäftigt damit, den Genozid zu beweisen und Revolution zu simulieren, dass man gar nicht mitbekommen hat, dass die Menschen in Gaza, derentwillen man das ganze Tamtam doch vorgeblich veranstaltet, mittlerweile zu Hunderten, vielleicht Tausenden der Hamas die Pest an den Hals wünschen.

Für Jens Balzer dagegen war der 7. Oktober eine Zäsur, eine Erschütterung. Er fragt: »Wie kann es sein, dass jemand, der sich selbst als Protagonistin der politischen Emanzipation versteht, keinerlei Mitgefühl mit den Opfern eines Massakers hat? Und – als wäre es damit noch nicht genug – dabei auch noch eine Gruppe von Terrorist:innen als Protagonist:innen eines ›revolutionären Kampfs‹ idolisiert, die ein zutiefst patriarchales, misogynes, homo- und transfeindliches Weltbild pflegt?«

Die Rede ist von der »woken«, der postkolonialen, queerfeministischen, identitätspolitischen Linken. Ihr bescheinigt Jens Balzer einen »moralischen Bankrott« angesichts dessen, was sich seit dem 7. Oktober Bahn bricht. Was aber tun, wenn das Unternehmen »Woke« moralisch pleite ist? Die Insolvenzverschleppung anprangern, Schnäppchen aus der Konkursmasse schlagen? Oder gleich alles entsorgen? So einfach und undialektisch will es sich Jens Balzer nicht machen. Das utopische Denken lässt er sich nicht abmarkten. »After Woke«, so der Titel seines furiosen Essays, ist nicht der soundsovielte Aufguss wohlfeilen Woke-Bashings, kein intellektuelles Schattenboxen, das, meist schlecht verkleidet, den neurechten Kulturkampf munitioniert. Wenn Balzer dagegen, wie er schreibt: »die Wokeness gegen die Wokeness« zu denken versucht, sie also beim Wort nimmt, ist das Kritik durchaus im buchstäblichen Sinn. Er unterscheidet. Und er versucht, den Kerngedanken jener Bewegung zu verteidigen – nicht bloß gegen das Triumphgeschrei von rechts, sondern auch gegen ihre heutigen Lautsprecher auf der linken Seite.

Da ist zum einen das Anliegen der Emanzipation. Ein, wie Balzer bemerkt, zutiefst demokratisches Ideal: dass nämlich Menschen mit unterschiedlichen Biografien gleichermaßen gehört und gesehen werden. Insofern ist es kein Zufall, dass die schrillsten – nun ja – Kritiker der sogenannten Wokeness Trump, Putin, Orbán oder Krah heißen. Im trumpistischen Amerika kann man aktuell beobachten, was es bedeutet, wenn die Grundlagen einer mehr oder weniger liberalen Gesellschaft um- und abgebaut werden: Gleichschaltung statt Gleichstellung. Und auch – zum Beispiel – die CSU setzt voll auf den Anti-woke-Trend, wenn sie in ihrem Grundsatzprogramm die bayerische Lebensart – was auch immer das genau sein soll – als Gegensatz zum vermeintlich woken Zeitgeist beschwört. Zum anderen ist da der krasse Widerspruch: dass die Awareness jener Leute offenbar dort endet, wo es Jüdinnen und Juden an den Kragen geht. Dass Leute, die sonst feinfühlig wie gekonnt noch den unscheinbarsten Mikroaggressionen nachspüren, in Raserei verfallen, wenn’s um Israel geht. Die sich in safer spaces empowern, aber den Schutzraum Israel from the river to the sea verschwinden lassen wollen. Schließlich, schreibt Balzer: »Schließlich muss man sich angesichts der aktuellen Entwicklungen tatsächlich fragen, was schiefgelaufen ist in einem intellektuellen Milieu, das sich seit dem 7. Oktober in antisemitischen Stereotypen und in einem manichäischen Weltbild verrennt.«

»After Woke« beantwortet diese Frage im Modus einer »dialektischen Reformulierung« des intellektuell an die Wand gefahrenen Projekts. Heißt: Die Streitschrift will hinter die Gegenwart zurück zu den anfänglichen Impulsen. Dabei im Mittelpunkt: der Verfall des postkolonialen Denkens. Das ist einst angetreten, schreibt Balzer, um die Welt der vielen zu ermöglichen, das koloniale Erbe des Westens auf die Tagesordnung zu setzen, die Kolonialgeschichte aufzuarbeiten und die eine oder andere Korrektur in der Geschichtsschreibung – Geschichte wird, man weiß es, von den Siegern geschrieben – vorzunehmen. Übrig geblieben davon ist kaum mehr als das akademische Modewörtchen »post« und das Wort Kolonialismus. Und dieses wird, reichlich enthistorisiert und abgelöst von realen Ereignissen und Konflikten, auf alles Mögliche draufgeklebt wie eine Schablone, vor allem auf den sogenannten Nahostkonflikt, die Projektionsfläche dieser Tage schlechthin.

Anschaulich und mit Verve geschrieben, zeigt Balzer, wie sich der Postkolonialismus in ein »Wahrheitsregime« und dadurch in eine »quasi-religiöse Praxis« transformiert. Was nach Balzer eine recht verstandene Wokeness ausmacht – man könnte das auch einfach ein offenes Denken nennen –, ist hier nicht mehr anzutreffen. Stattdessen verschließt und verhärtet sich alles zum Standpunkt, von dem aus man, unverrückbar, aber schon ein bisschen verrückt, die Menschen entlang eines groben Freund-Feind-Schemas klassifiziert und die darin aufgespannte Weltpolitik überblickt. Das Wahrheitsregime kennt nur noch Gut und Böse, Unschuldig und Schuldig, Unterdrückte und Unterdrücker, Schwarz und Weiß. Seine Anhänger:innen entscheiden, wer zu den »Priester:innen« gehören darf und wer zu den »Büßer:innen« gehören muss. Herauszutreten aus dieser vorgefertigten Wahl, was man Kritik nennen könnte, ist nicht vorgesehen. Die bereits festgelegten Weltbilder müssen nur noch passend ausgemalt werden. Und Schwarz-Weiß-Denken ist wörtlich gemeint. Balzer: »Im postkolonialen Wahrheitsregime, in dem Menschen strikt ›along the color line‹ in Schwarz und Weiß eingeteilt werden, werden jüdische Menschen als privilegierte weiße Menschen betrachtet und damit auf die Seite der Unterdrücker und Kolonialisten gestellt – worin sich übrigens auch ein alter Standard der antisemitischen Ideologie zeigt, denn dieser galten ›die Juden‹ ja schon immer als jenes Volk, das mit geheimen oder offensichtlichen Privilegien die Geschicke der Welt leitet.« »Stay woke« kann hier nur noch heißen, auf der richtigen Seite zu stehen, wobei es keinen Ausweg gibt, wenn man das Pech hatte, sich auf der falschen zu befinden; allenfalls noch die abzulegende Beichte der Gesinnung bleibt in diesem Fall übrig.

In einem kleinen Abstecher in die Begriffsgeschichte erinnert Balzer daran, dass die Formel »stay woke« seit bald 90 Jahren in unterschiedlichen Richtungen kursiert. Erstmals verwendet wurde sie Ende der Dreißigerjahre in einem Blues-Song von Leadbelly; hier noch nicht als politisches Programm verstanden, sondern als Warnung an Schwarze, einen großen Bogen um Alabama zu machen. Die »Scottsboro Boys«, wie der Titel des Songs lautet, könnten schließlich ein Lied von der rassistischen Verfolgung singen, die dort drohe. Auch in jüngerer Zeit, etwa in Erykah Badus Song »Master Teacher«, geht es darum, wachsam zu bleiben gegenüber den Gefahren der rassistisch geprägten Gesellschaft. Es geht ihr jedoch nicht nur um die eigene Diskriminierungserfahrung, sondern auch darum, die Diskriminierung anderer wahrzunehmen – eine Fähigkeit zur Selbstreflexion, die auf dem Höhepunkt der woken Bewegung, den Black-Lives-Matter-Protesten, vollkommen abhandengekommen ist.

Black Lives Matter: Das war, so Balzer, einerseits ein eindrucksvolles Statement gegen den Würgegriff des Rassismus. Andererseits: des Antisemitismus voll. Was dort im antizionistischen Jargon zu hören war, drängte zur Praxis. In Los Angeles etwa wurden jüdische Geschäfte geplündert und die Statue von Raoul Wallenberg geschändet. Und nicht wenige aus der Bewegung waren nach dem 7. Oktober auch ganz aus dem Häuschen. Gegenstimmen? Fehlanzeige. Es nimmt kaum wunder, dass Theoretiker wie Henry Louis Gates Jr., Paul Gilroy und Stuart Hall – Balzers Gewährsleute, aus deren Arbeiten er ausgiebig zitiert – heute weniger zum postkolonialen Kanon gehören. Bei ihnen reimte sich Postkolonialismus noch nicht auf Antisemitismus. Die antizionistische Schlagseite der Bürgerrechtsbewegung war für sie kein Blindfleck. Die Ressentiments auch unter den Verdammten dieser Erde waren ihnen bewusst. Und vor allem war diesen Theorien noch bewusst, dass man den Zumutungen der Gegenwart nicht durch die Flucht in die Vergangenheit entkommt.

Dass der Ursprung verstellt bleibt, diese Erfahrung der Diaspora als Folge des europäischen Kolonialismus und Imperialismus, galt einmal als ausgemacht. »Identität« wurde als etwas Offenes, Zukünftiges gedacht. Das aber, zeigt Balzer, wurde abgelöst durch den Kult und die Faszination vom Ursprünglichen und Authentischen, nicht selten romantisch verklärt und symbolisch überhöht. Hochkonjunktur hat das sogenannte Indigene. Sie definieren sich wieder über Identitäten, sie re-essenzialisieren alles. Und die Befreiung der Welt, sie wird erhofft im Vormodernen, irgendwo vor der Zivilisation. Das Schablonen-Denken hat’s ihnen dabei wahrlich angetan. Es ist nicht nur das reichlich simple Schwarz-Weiß-Denken – Juden sind in dieser abenteuerlichen Vorstellung »die Weißen« (und schon deshalb schuldig) und Palästinenser »die Schwarzen« –, sondern das Schema erweitert sich um den alles entscheidenden Gegensatz: modern versus ursprünglich. Und dieser Gegensatz wird fast schon eschatologisch aufgeladen: Als würde gerade die letzte große Schlacht zwischen dem Globalen Süden und Norden stattfinden. Hier die zweckrationale, kalte, entfremdete Zivilisation. Dort die warme, ehrliche, einfache, selbstbestimmte Ursprünglichkeit. Hier edle Wilde, dort böse Imperialisten und Kolonialistinnen. Und was einem noch so einfällt, Siedler vielleicht. Was auch immer geht: Eliten.

Wollte man nicht, wie Balzer bemerkt, die »Feier der Vielheit, des kulturellen Patchworks und der unendlichen Rekombinationen«? Und jetzt landet man doch wieder bei der Identität, der Scholle, letztlich: dem völkischen Denken. Damit reiht sich die Linke freilich in eine allgemeine Tendenz der Nostalgie ein. Wo die Gegenwart zu komplex erscheint, sehnt man sich offenbar nach vermeintlich einfacheren Zeiten, nach dem warmen und wohligen Gefühl der Tradition. Der Spleen mit der Herkunft und die Fantasie einer geschlossenen Kultur sind dabei gewiss nicht die einzigen Übereinstimmungen mit der Neuen Rechten. Am deutlichsten ist wohl die Parole »Free Palestine from German Guilt«, die ihr Echo hat im »Schuldkult« und der »erinnerungspolitischen Wende um 180 Grad«. Und da spuken, fast möchte man sagen: natürlich, noch allerhand Gespenster und recycelte Mythen herum – vom ausgedachten Palästinenserkollektiv, das die eigene Entlastung garantiert und zugleich als ausgelagertes revolutionäres Subjekt herhalten muss, bis zur Täter-Opfer-Umkehr.

Was Balzer macht, erinnert aus der Ferne ein wenig an ein anderes, aber dann doch ähnliches Vorgehen. In den Zwanzigerjahren des vorigen Jahrhunderts – der Marxismus muss ziemlich im Eimer gewesen sein damals – haben undogmatische Marxisten wie Georg Lukács und Karl Korsch nicht weniger unternommen, als den vorherrschenden Materialismus gegen sich selbst zu lesen und auf sich selbst anzuwenden. Am Ende dieser Selbstkritik stand immerhin eine linke Gesellschaftstheorie, die die Erfahrung der Barbarei bis ins Innerste der eigenen Theoriebildung aufgenommen hat. Ob sich wenigstens verwirrte Wokies noch mal berappeln und zur Besinnung durchringen können?

Vielleicht, aber nur vielleicht hätte es auch anders kommen können. Zumindest eine Irritation, ein Innehalten wäre denkbar gewesen, meint Balzer, und der 7. Oktober hätte zur Selbstkritik drängen können. Man hätte auf die Idee kommen können, dass da irgendwas nicht stimmen kann. Mit der eigenen Sicht, den theoretischen Voraussetzungen und dem hypermoralischen Standpunkt, von dem aus die Welt in unten und oben aufgeteilt wird. Man hätte bemerken können, dass die Romantisierung ausgerechnet des politischen Islams, mit der im Vorbeigehen das Geschlechterverhältnis wieder zum bloßen Nebenwiderspruch zusammengestampft wird, nur immer weiter in den Verblendungszusammenhang hineinführt. Man hätte zumindest erahnen können, dass man den ehrbaren Antisemitismus der Siebzigerjahre unter anderen Vorzeichen nur immer weitertreibt. Man hätte die Irritation und Verunsicherung zulassen können, wie sehr man im Widerspruch mit sich selbst ist. Wer A sagt, muss schließlich nicht B sagen, sondern könnte auch … – aber das mag Balzer dann selbst nicht so recht glauben. Und solche Überlegungen werden ohnehin schnell von der Wirklichkeit überholt. Die Pro-Palästina-Linke ist längst eine Pro-Hamas-Bewegung geworden – vielleicht war sie das immer schon –, die sich ihre Parolen, ihre Symbole und Codes, ja ihren ganzen Aktionismus von der Terrororganisation vorgeben lässt. Hier sind längst alle Begriffe und Kategorien durcheinandergewirbelt, und selbst die banalsten und einfachsten Dinge, die mit einigem Recht mal »links« genannt wurden, scheinen nicht mehr zu gelten.

Weil Balzer aber zu einem positiven Begriff von »woke« gelangen will bzw. dessen »positiv-emanzipatorischen Kern« nicht aufgeben mag, verlässt er die immanente Kritik für einen Moment. Und greift im Bücherregal in eine ganz andere Ecke: zu Jürgen Habermas. Der hat, nachdem er sich seiner materialistischen Vorläufer erfolgreich entledigt hatte, mit »Diskursethik« Karriere gemacht. Diese habe, so zitiert ihn Balzer, jene Themen in sich aufgenommen, die einmal ihren Ort in der Marx’schen Revolutionstheorie hatten. So, mit Habermas, schreibt Balzer, könne Wokeness als ein Verfahren gedacht werden, das ein Gegenentwurf sein könne zur identitären Rechten, die sich weltweit gerade dranmacht, alles zu übernehmen. Eindrucksvoll zeigt Balzer, wo das postkoloniale Denken falsch abbiegt und wie sich die Linke der Rechten ähnlich macht. Nur ist die Ausfahrt, die Balzer zu nehmen vorschlägt, mit einigen Fallstricken verbunden. Die alte Frage, warum die Menschheit in Barbarei versinke, schiebt Habermas, und zwar konstitutiv für seine Theorie, souverän beiseite. Antisemitismus aber, ob er nun von links kommt, aus der sogenannten Mitte oder von rechts außen, ist nicht Kraft des besseren Arguments via herrschaftsfreien Diskurs aus der Welt zu schaffen. Das weiß Balzer natürlich auch. Wenn aber Antisemitismus aus der antisemitischen Gesellschaft zu erklären ist, dann kommt man mit Habermas nicht viel weiter. Vielleicht wäre, statt auf Habermas zu setzen, ans Motto der Gesellschaftstheorie zu erinnern: nicht einen richtigen Zustand auspinseln – da kommt meist eh nur die schlechte Kopie des Bestehenden raus –, sondern den falschen erkennen und präzisieren. Zumal – mit Adorno gesprochen – die Erkenntnis des Falschen bereits Index eines möglichen Besseren ist. Und das sollte gewiss weder ein waches Auge für Diskriminierungen aller Art ausschließen noch die Bereitschaft, auch eigene Vorurteile zu überprüfen.

Jens Balzer, »After Woke«, Matthes & Seitz Berlin 2024, 105 Seiten, 12 Euro

Besprechung von Vojin Saša Vukadinović (Hg.): Freiheit ist keine Metapher. Antisemitismus, Migration, Rassismus, Religionskritik

Nach den Sammelbänden Feministisch streiten und Beißreflexe, die hohe Wellen in den Debatten linker, feministischer und akademischer Provenienz schlugen1, legt der Berliner Querverlag einen neuen Sammelband auf, der vom Historiker Vojin Saša Vukadinović herausgegeben wird und thematisch anschließt. Vukadinović war bereits als Autor an Beißreflexe beteiligt, tritt als scharfer Kritiker der Gender Studies und queerem Aktivismus hervor und schrieb unter anderem für Emma und Jungle World eingreifende Kritiken. Insgesamt zeichnet sich der Band durch ein breites Themenspektrum aus, das sich in 38 Beiträgen um die dem Untertitel entsprechenden Kategorien entfaltet und in 7 Sektionen untergliedert ist.

Vukadinović leitet den mit fast 500 Seiten recht voluminösen Essayband damit ein, dass „[d]er Genderfeminismus, der Antirassismus und der Queerfeminismus“ „Karikaturen geschlechter-, migrations- und sexualpolitischer Emanzipationsregungen“ seien. Diesen „pessimistischen Befund“ nimmt der Band „zum Ausgangspunkt, um über den Verrat an der Mündigkeit nachzudenken“. Das Spektrum der Kritik reicht von den nach „Euphemismen für Genitalverstümmelung“ suchenden AkademikerInnen über die fatale Deutungshoheit von Sprechort- und Kollektivierungskategorien, die mit der „Akzeptanz noch für die absurdesten Identitätsentwürfe“ zusammenfallen, bis zum Ausblenden und Marginalisieren von Antisemitismus. Weiter wird konstatiert, dass die Gender Studies unfähig seien, sich kritisch zum Jihadismus zu positionieren und dieser Disziplin nolens volens jeder „Bezug zur Wirklichkeit“ abhanden gekommen sei, während „Nizza, Berlin und Barcelona“ offenkundig die reale Wirkmächtigkeit des Jihadismus aufzeigten. Hierbei stellt Vukadinović Thomas Maul, Fathiyeh Naghibzadeh sowie Philippe Witzmann als Dissidenten heraus: diese ehemaligen Studenten der Gender Studies hätten bereits seit den 2000ern auf „Fehlentwicklung in Wissenschaft und Aktivismus“ hingewiesen, wobei deren „harsche, aber notwendige Kritik“ jedoch „ignoriert“ oder schlichtweg als Rassismus gebrandmarkt werde. Vukadinović schließt mit einer Klage an die der postmodernen Theorie entsprungenen Postcolonial und verwandten Gender Studies: so kennen diese nur noch „’Wahrheiten’“ und würden sich im höchsten Maß am „Verfall des Denkens“ beteiligen. Wie Vukadinović an anderer Stelle ausführt, ist ihm an einem Paradigmenwechsel gelegen, der sich wieder vermehrt aus der Tradition der zweiten Frauenbewegung speist.2

Wie Beißreflexe und Feministisch streiten trägt auch dieser Band berechtigte Kritik an postmodernen Ansätzen und am politischen Aktivismus queerer Provenienz vor. Dass hierbei kaum grundsätzlich neue Argumente verhandelt werden, könnte man nun wie folgt deuten: die linke (und feministische) Debatte scheint ziemlich auf der Stelle zu treten, was sich in der stetigen Veröffentlichung von einführenden Sammelbanden und Debattensammlungen, die zum überwiegenden Teil Zweitverwertung darstellen, äußert. Deshalb sei hier auch auf eine deutliche Schwäche verwiesen, die schon die beiden Vorgängerbände auszeichnete: Die AutorInnen jonglieren zwar mit Universalkategorien, wie Freiheit, Mündigkeit und Wahrheit, die jedoch großflächig unbestimmt und undialektisch sowie unvermittelt nebeneinander stehen bleiben. Gerade dadurch liefern sie sich allzu leicht einer (dann auch berechtigten) Kritik durch postmoderne Positionen aus. Manche Argumente erscheinen damit als verlängerter Arm Maulscher Restvernunft, die zwar mit Buzzwords wie ‚Freiheit‘ und ‚Mündigkeit‘ um sich wirft, aber längst zum bloßen Jargon verkommen ist – was nicht allzu untypisch für zeitgenössische Positionen aus dem Spektrum der antideutschen bzw. ideologiekritischen Szene ist. Das ist jedoch keine Absage an das Buch, denn en détail bleiben einige der darin verhandelten Beiträge, Ausführungen und Kritiken sehr lesenswert, andere hingegen sehr grobschlächtig und theoretisch vage, wodurch sich insgesamt ein ambivalenter Leseeindruck einstellt. Polemiker wie Maul und Witzmann mögen durchaus in einigen Punkten berechtigte Einwände erheben – darin ist auch Vukadinović zuzustimmen – dennoch bleibt auch zu reflektieren, dass Mauls ‚Kritik‘ an #MeToo unter anderem in die völlige Affirmation des Bestehenden umschlägt.3 Sehr kritikwürdig ist in diesem Kontext exemplarisch die Aussage Anastasia Iosselianis in dem Beitrag „Iranischer Imperialismus, antiimperialistischer Egalitarismus“, dass „Antiimperialismus – gleich welcher Form und Schule“ abzulehnen sei. Folgt man dem Sozialwissenschaftler Samuel Salzborn, so gälte es bezüglich Antiimperialismus und Antikolonialismus eher in „eine aufgeklärt-egalitäre, eine identitär-universalistische und eine – so paradox es klingen mag – selbst rassistische“ Variante zu unterscheiden.4

Es wäre zudem äußerst sinnvoll gewesen, den Queerfeminismus ideengeschichtlich richtig zu verorten. Erst so ließe sich eine überzeugende Fundamentalkritik auf die Füße eines historisch-materialistischen Feminismus stellen, dessen Begriff von Universalismus nicht so unvermittelt wäre, wie dies bisweilen in Freiheit ist keine Metapher erscheint. Einer der zentralen Blöcke von Freiheit ist keine Metapher „Sediment des Zeitgeists – Zur Popularität des unkritischen Werks von Judith Butler“, kommt dagegen allzu polemisch daher; so ersucht Marco Ebert in seinem Beitrag Butler mit Bezug zu Leo Löwenthal als Falsche Prophetin auszuweisen. Natürlich ist es geboten, Butlers Verharmlosungen und Relativierungen von Jihadismus im Allgemeinen sowie Hamas und Hizbollah im Besonderen scharf zu kritisieren, was auch Ebert in seinem Beitrag schafft; das gilt besonders für Butlers in der Theorie angelegten Antizionismus. Sie jedoch als ordinäre Faschistin vom Schlage eines William Dudley Pelley zu markieren, erscheint allzu leichtfertig und plump. Hinsichtlich Butlers Gender-Theorie sollte vielleicht auch noch einmal eine generelle Debatte darüber angestoßen werden, worin eigentlich tatsächlich ein kritischer Gehalt liegen könnte und was in der Rezeption daraus gemacht worden ist. Denn Butlers Theorie war von ihrer Stoßrichtung her explizit antiidentitär ausgerichtet und forderte nicht das Kategorisieren um des Kategorisieren willen; jedoch ist es im queeren Milieu längst Usus, Schublade um Schublade zu öffnen und jegliche Emotion, Charaktereigenschaft oder sexuelle Orientierung neu zu kategorisieren, was einem vom Anspruch her antiidentitären Denken ziemlich zuwider läuft. Dass ‚Freiheit‘ keine Metapher sei, bleibt insgesamt ob der begrifflichen Unschärfe zu vage, da genau dies laut dem – wohlgemerkt – didaktischen Anspruch des Titels verdient hätte, genauer ausgeführt zu werden. Kurzum: Dem Band fehlt damit deutlich ein einführender Beitrag, der sich den Kategorien von Freiheit, Mündigkeit, Wahrheit etc. annimmt. Man hätte diese in einer an Hegel angelehnten bestimmten Negation verorten können, die z.B. deutlicher den Ausschluss des ‚Weiblichen‘ zu fassen vermag und diese Begriffe und Kategorien im Sinne einer dialektischen Betrachtung beweglich und offen hält, anstatt sie – wie das partiell getan wird – so starr und ahistorisch gegen die zurecht kritisierten Dogmen der Postcolonial und Gender Studies anzuführen.

Dass das anders geht, zeigt der bereits 1993 erschienene Sammelband, Der Streit um Differenz, in dem es Seyla Benhabib im Streitgespräch mit Judith Butler überzeugend gelang, eine universalistische Position, die sich in der kritischen Theorie verortet, zu beziehen. Die dort verhandelten Debatten zwischen Benhabib, Butler, Drucilla Cornell und Nancy Fraser können als Gespräch zwischen zweiter und dritter Welle des Feminismus gelesen werden und haben an Aktualität nichts eingebüßt. Sich gegen das vermeintlich offenkundige Bündnis von Postmoderne und Feminismus wendend, welches zeitgenössisch noch stärker als 1993 ausgeprägt sein dürfte, fragte Benhabib: „Feminismus oder Postmoderne?“ und unterstrich, dass „die postmodernen Positionen nicht nur das Spezifische der feministischen Theorie auslöschen, sondern sogar das Emanzipationsideal der Frauenbewegung schlechthin in Frage stellen“.5 Gegen Postfeminismus und Poststrukturalismus Butlerscher Provenienz, die auf dem Tod des Subjekts, der Geschichte und aller Metaphysik beruhen, plädiert Benhabib darin für eine schwache Version dieser „Tode“, die zugleich versucht das politische Subjekt der Frau zu erhalten. Wollte man dem selbst gesetzten didaktischen Anspruch daher gerecht werden, der explizit herauszuarbeiten hätte, was eben genau am Partikularismus und Kulturrelativismus postmoderner Provenienz und der damit verbundenen Absage an einen universalistischen Feminismus so problematisch sei, hätte man dies deutlicher anhand einer immanenten Kritik der feministisch-postmodernen Positionen herausarbeiten können. Recht unterbelichtet bleibt in Freiheit ist keine Metapher zudem das Konzept des Intersektionalismus. So bezieht sich Rocio Rocha Dietz in ihrem Beitrag zwar auf die Kritik durch die Sozialwissenschaftlerin Karin Stögner und streicht korrekt heraus, dass in der Trias von Race, Class und Gender der Antisemitismus nicht vorkomme bzw. lediglich unter der Kategorie Race subsumiert werde. Von Dietz ausgeblendet wird hierbei jedoch, dass Stögner sich vielmehr an einer rettenden Kritik des Intersektionalismus versucht, die Ideologien wie Antisemitismus, Sexismus und Rassismus in ihren Verstrickungen zur Gesamttotalität zu begreifen sucht und damit eine Vermittlung zur kritischen Theorie Horkheimers und Adornos anstrebt. Die Frage nach dem Intersektionalismus – gleich ob man sich affirmativ oder kritisch dazu positioniert – bleibt im Band kaum berührt, wenn dieser nicht nahezu vollends negiert und für unbrauchbar erklärt wird.6

Verbleibt der zeitgenössisch vorherrschende Begriff des Intersektionalismus tatsächlich unterkomplex, was das Verhältnis von Rassismus und Antisemitismus angeht, so weisen Sama Maani, Polina Kiourtidis und Hannah Kassimi mit Verweis auf die in der Tradition der kritischen Theorie stehenden Wissenschaftler Moishe Postone und Detlef Claussen auf eine notwendig vorzunehmende Unterscheidung beider Phänomene hin. Kiourtidis stellt hierbei auch heraus, dass es ein „Mythos“ sei, dass „zwischen Antisemitismus und Antizionismus“ eine „klare Trennung“ vorliege.

Schlussendlich hätte man auch Edward Saids Orientalism sowie dessen überbordende Rezeption in den Geisteswissenschaften, auf das mitunter weite Teile Butlers Argumentation rekurriert7, umfassend diskutieren müssen. Das Saidsche Gründungswerk des Postkolonialismus verfügt etwa in Ethnologie und Religionswissenschaft über maßgebliche Deutungshoheit und hat der politisch Linken über zahlreiche Multiplikatoren vermittelt die Fähigkeit zu einer Religionskritik – gleich ob im Voltaireschen, Feuerbachschen oder Marxschen Sinn – ausgetrieben.8 Bis auf wenige Ausnahmen – Ljiljana Radonić, Hannah Kassimi, Fathiyeh Naghibzadeh und Janina Marte – die sich rudimentär mit Said auseinandersetzen oder ihn als problematischen Angelpunkt der Postcolonial Studies zumindest benennen, lässt dies das Buch leider vermissen. Ungeachtet der mangelnden inhaltlichen Tiefe und diesen Versäumnis bleibt offenkundig, dass eine an den Postcolonial und Gender Studies angelehnte kulturrelativistische Haltung Kinderehen, Angriffe und Säureattacken auf Frauen sowie Vollverschleierung und Genitalverstümmelung schön redet bzw. gar verleugnet. Man reibt sich immer wieder verwundert die Augen über derartige Relativierungen und mag kaum glauben, dass sich als Feministen verstehende Subjekte derartig positionieren, aber diese Dinge sind evident und werden im Band anhand zahlreicher Beispiele veranschaulicht. Trotz der angesprochenen Schwächen soll hier eine Leseempfehlung stehen bleiben, die zugleich einfordert, sich umfassender mit den Ikonen der Gender und Postcolonial Studies auseinander zu setzen. Im Zentrum einer kritischen Auseinandersetzung mit postmodernen Dogmen hätten dabei unbedingt Saids Rassismus und „Israelkritik“ zu stehen, ohne das Theorem des Orientalismus vollends zu negieren, denn dieses gälte es im Sinne kritischer Theorie einem Zeitkern der Wahrheit nach entsprechend kritisch zu reflektieren. Die Kritik postkolonialer Theoriebildung im Allgemeinen und Saids sowie Butlers im Besonderen darf deshalb auch nicht darin umschlagen, die Geschichte des wissenschaftlichen Rassismus und Kolonialismus zu verleugnen. Das Problem besteht viel eher in der Dogmatisierung dieses Theorems sowie im Ausblenden Saids eigener rassistischer Perspektive, die alles westliche Denken negiert9 und jeglichen antiimperialistischen Bewegungen einen Freifahrtschein ausstellt, weil sie auf der Romantisierung des ‚Anderen‘ beruht. Ein gutes Beispiel für eine emanzipatorische Analyse liefert hingegen Dennis Schnittler in seinem Beitrag „Der ewige Neger“, in dem er eine umfangreiche materialistische Analyse des Rassismus und der Verschränkung von Produktivitätsgefällen mit kolonialer Geschichte vorlegt.

Positiv hervorzuheben sind auch die Beiträge, die sich mit dem Iran und dem Jihadismus beschäftigen. So wird der totalitäre Charakter des theokratischen Regimes der Iranischen Republik bündig und prägnant analysiert. Dieser zeichnet sich dadurch aus, dass er auf der Sharia fußend die Negation einer Gewaltenteilung legitimiert und bis ins äußerste Privatleben durchgesetzt wird sowie als oberstes Ziel die Auslöschung des Staates Israel inne hat. Der politische Islam wird dabei als nicht mit den Grundsätzen universeller Menschenrechte und persönlicher Freiheit vereinbar charakterisiert. Dies wird von vielen westlichen Linken aufgrund der Dogmen des Kulturrelativismus und Antiimperialismus geleugnet und fußt auf einem unterkomplexen Weltbild (Unterdrücker versus Unterdrückte). Das führt mitunter dazu, dass koloniale Vergangenheit islamisch-arabischer Herrschaft ignoriert wird, bedienen sich derartige Perspektiven doch einem strikten Okzidentalismus (Ian Buruma und Avishai Margalit), der ausschließlich den Westen, nicht aber das imperialistische Regime in Teheran zu betrachten in der Lage ist. Richtig ist auch, dass dem Weltbild des postmodernen Antiimperialismus und Kulturrelativismus folgend, der imperialistische Charakter des Iranischen Regimes ignoriert wird, was in der Unterstützung des Al-Quds-Tages sowie der BDS-Kampagne durch Linke gipfelt. Beides hat seine Ursprünge im Iran.10

Hinsichtlich des Jihadismus analysiert der Psychoanalytiker Maani die klagende „Weltsicht aller Islamisten“, die den Verlust von „Würde“ und „Ehre“ und damit den Machtverlust des politischen Islam fürchten; Maanis Deutung nach identifiziere und sehne sich der Islamist nach einem goldenen Zeitalter des „frühen Islam“, was seinen „Wut und seinen Hass“ „radikalisieren“ und an den USA, Israel, Juden sowie dem Kapitalismus ausagieren lasse. Das Gezeter um die Mohammed-Karikaturen dient Maani hierfür als negatives Exempel, dem er das Beispiel vom 2011 aufgeführten Theaterstück The Book of Mormon entgegenhält, was nicht ansatzweise zu ähnlichen Reaktionen geführt habe, da im kollektiven Bewusstsein der Mormonen der Ehrbegriff nicht annähernd so verankert sei; vielmehr habe die mormonische Kirche lakonisch wie folgt reagiert: „Sie haben das Stück gesehen, lesen sie jetzt – das Buch“. Es bleibt zu hoffen, dass sich linke Gesellschaftskritik reformulieren lässt, die sich gegen die Neue Rechte positionieren kann, ohne die Kritik der Religion der Kritik des Rassismus zu opfern. Dass „Freiheit weder westlich, noch östlich, sondern universal“ sei, wie es iranische Feministinnen zuletzt Anfang 2018 forderten, bleibt damit an den Marxschen kategorischen Imperativ zu koppeln: „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“. Freiheit ist keine Metapher kann bei allen angesprochenen Kritikpunkten durchaus einige Argumente hierfür liefern.

von Mathias Beschorner

Vojin Saša Vukadinović (Hg.)

Freiheit ist keine Metapher. Antisemitismus, Migration, Rassismus, Religionskritik

Querverlag zu Berlin 2018

489 Seiten

20 Euro

1 Z.B. an der Reaktion Judith Butlers und Sabine Harks, bei der die Kritik von Beißreflexe in die Nähe der Neuen Rechten gerückt worden ist, ablesbar: Vgl. Butler, Judith; Hark, Sabine: Die Verleumdung. Denunzieren die „Emma“ und die Verfasser des Buches Beißreflexe die Gender-Theorie? Judith Butler und Sabine Hark finden die Angriffe infam und wehren sich. In: Zeit: https://www.zeit.de/2017/32/gender-studies-feminismus-emma-beissreflex, 2. August 2017, abgerufen am 16.10.2018.

2 Vgl. Vukadinović, Vojin Saša: Butler erhebt „Rassismus“-Vorwurf. In: Emma: https://www.emma.de/artikel/gender-studies-sargnaegel-des-feminismus-334569, 28. Juni 2017, abgerufen am 16.10.2018.
3 Exemplarisch hierfür: Maul, Thomas; Schneider, David: Asexuelle Belästigung. Warum #MeToo ein großangelegter Übergriff auf die Residuen bürgerlicher Zivilisation ist. In: Bahamas: Nr. 78, 2018.
4 Siehe Salzborn, Samuel: Kampf der Ideen. Die Geschichte politischer Theorie im Kontext, Baden-Baden 2015, S. 113ff.
5 Siehe Benhabib, Seyla: Feminismus und Postmoderne. Ein prekäres Bündnis. In: Benhabib, Seyla; Butler, Judith; Cornell, Drucilla; Fraser, Nancy (Hg.): Der Streit um Differenz. Feminismus und Postmoderne in der Gegenwart, Frankfurt am Main 1993, S. 9 bzw. 13.
6 Vgl. Pintul, Naida: Regressive Lifestyles bewerben. Queerfeminismus – das aktivistische Verfallsprodukt des Gender-Paradigmas, im vorliegenden Sammelband.
7 Vgl. Butler, Judith: Am Scheideweg. Judentum und die Kritik am Zionismus, Frankfurt am Main 2013.
8 Siehe Weiß, Volker: Dröhnendes Schweigen. Früher war Religionskritik die vornehmste aller marxistischen Tugenden. Doch zum Glaubensterror des islamischen Fundamentalismus hat die westliche Linke nichts zu sagen. In: Zeit: http://www.zeit.de/2015/15/religionskritik-linke-fundamentalismus-islamismus. 23. April 2015, Abgerufen am 16.10.18.
9 Vgl. Salzborn: Kampf der Ideen, S. 34 und S. 149.
10 Vgl. Markl, Florian: Der Ursprung der Israel-Boykottbewegung. In: Sans Phrase, Zeitschrift für Ideologiekritik, Nr. 11, 2017, S.49ff.

Zum regressiven Bedürfnis postwachstumsorientierter Kapitalismuskritik – wie die Linke der Rechten sekundiert

Der zu schwindelerregender Höhe aufgetürmte Wohlstand gleicht einem
Kartenhaus, das eine fatale Unvereinbarkeit heraufbeschwört: Zunehmende
Fallhöhe trifft auf zunehmende Instabilität. Je höher das Stockwerk, desto
tiefer der Fall, wenn alles zusammenstürzt.“1

Mit diesen apokalyptisch anmutenden Worten leitet Volkswirt und Attac-Mitglied Niko Paech sein postwachstumstheoretisches Werk, „Befreiung vom Überfluss“, ein. Darin predigt er ein Ideal vom „menschlichen Maß“, welches durch Konsumverzicht und Subsistenzwirtschaft gegen eine vermeintliche Katastrophe globalen Ausmaßes gewendet werden soll. Continue reading „Zum regressiven Bedürfnis postwachstumsorientierter Kapitalismuskritik – wie die Linke der Rechten sekundiert“

Der lange Arm der nationalsozialistischen Rechtsprechung. Über den Tod Philipp Auerbachs und die „zweite Schuld“ der Deutschen.

Am 16. April 1952 trat in München ein aus ehemaligen Nationalsozialisten bestehendes Gericht zu einer Verhandlung über Holocaustüberlebenden Philipp Auerbach zusammen. Den Vorsitz des dreiköpfigen Gerichts übernahm kurzfristig der ehemalige Pg. Josef Mulzer, der in der Zeit des Nationalsozialismus zum Oberkriegsgerichtsrat aufstieg. Auch einer der beiden Staatsanwälte sowie der psychiatrische Sachverständige, Wulf Ziehen, waren ehemalige Mitglieder der NSDAP. Ein Beisitzer des Gerichts war Mitglied der SA. Der Prozess wurde begleitet von einer antisemitisch gefärbten Kampagne gegen Philipp Auerbach. Der ungerechtfertigte Schuldspruch trieb ihn schließlich in den Suizid.
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Ihr wollt Fußball so wie früher? Kritik der politischen Ökonomie und traditionalistischer Affirmation des postmodernen Fußballs

Eine vitale Diskussion entwickelte sich in den vergangenen Jahren, zumal durch den Aufstieg des RB Leipzig, über die Kommerzialisierung des Fußballsports, vermeintliche Heuschrecken, verkürzte Kapitalismuskritik, Plastikmannschaften, echte Fans und nicht zuletzt die Frage, ob die Anhängerschaft eines Vereins denn nun „Links“ oder „Rechts“ wäre.

Emanzipierte Fußballfans, insbesondere Assoziierte der Ultra-Bewegung treten bei Mitgliederversammlungen selbstbewusst als politische Akteure auf und initiieren gesellschaftliche Projekte abseits des Stadions. Ein Beispiel hierfür ist die Vergegenwärtigung der jüdischen Wurzeln des FC Bayern München und insbesondere die ‚Wiederentdeckung‘ des ersten Bayern-Präsidenten und Naziopfers Kurt Landauer durch die Ultragruppierung ‚Schickeria München‘. Das seither jährlich stattfindende antirassistische Kurt-Landauer-Turnier der Schickeria entspringt eben jenem Denken, sich nicht nur samstags zwischen 15:30 Uhr und 17.15 Uhr mit seinem Verein zu identifizieren. Doch diese Identifikation wird auf eine harte Probe gestellt, wenn sich Ultras mit der kulturindustriellen Warenform des Profifußballs – in Form der Eventisierung des Stadionbesuchs etwa – konfrontiert sehen. Continue reading „Ihr wollt Fußball so wie früher? Kritik der politischen Ökonomie und traditionalistischer Affirmation des postmodernen Fußballs“