Medikamentenknappheit. Anatomie einer Mangelwirtschaft

Als im Oktober 2016 im ostchinesischen Jinan eine Explosion die örtliche Fabrik des Pharma-Subunternehmens Qilu stilllegte, waren die Folgen bald darauf weltweit zu spüren. In dem Werk fand ein großer Teil der weltweiten Produktion von Piperacillin/Tazobactam statt. Auch in Deutschland kam es daraufhin über einen großen Teil des folgenden Jahres zu Lieferengpässen für das Medikament.
Dabei ist Piperacillin/Tazobactam kein Nischenprodukt. Im Gegenteil gehört das Breitbandantibiotikum zu den Standardmedikamenten, die weltweit Anwendung finden und bei vielen bakteriellen Infekten gehört es zu den Mitteln der ersten Wahl. Weil es nicht lieferbar war, wurde in vielen Kliniken auf alternative Antibiotika, auch aus anderen Wirkstoffklassen, zurückgegriffen. Das will man aber eigentlich vermeiden, denn teils sind die Alternativen weniger gut verträglich und nebenwirkungsreicher, teils hält man sie aber auch bewusst in der Reserve, um die weitere Verbreitung gefährlicher Resistenzen zu vermeiden.

Kein Einzelfall

Obwohl der Auslöser für den Versorgungsengpass bei Piperacillin/Tazobactam ein Unfall war, die eigentlichen Gründe dafür, dass dieser so weitreichende Konsequenzen nach sich ziehen konnte, sind systembedingt. Daher handelt es sich bei den Lieferschwierigkeiten auch nicht um einen Einzelfall, sondern um ein markantes Beispiel für einige grundlegende Probleme der pharmazeutischen Industrie im Kapitalismus. Lieferengpässe häufen sich auch bei anderen Medikamenten und das Thema hat es längst auf die Agenda der medizinischen Funktionseliten geschafft.
So war 2017 nicht bloß eines der meistverwandten Antibiotika nicht mehr lieferbar. Zwischen April und Mai ging vielerorts das wichtige Narkosemittel Remifentanil, aus, teils mussten bereits geplante Operationen verschoben werden. 2016 war der Entzündungshemmer Betamethason, der z.B. bei Frühchen mit nicht voll ausgereifter Lunge Verwendung findet, zeitweise nicht mehr zu bekommen. 2015 war es das bewährte Krebsmedikament Melphalan. Diese Auswahl an Beispielen ist wiederum nur die Spitze des Eisberges. In den USA, wo die Bundesbehörde FDA in einem Zentralregister über Lieferengpässe der Pharma-Unternehmen berichtet, waren es allein 2011 ganze 267 Medikamente, bei denen es mindestens zwischenzeitlich Versorgungsschwierigkeiten gab.

Ein Ethanokessel explodierte am 10.10.2016 in der Fabrik Qilu in Jinan

Langanhaltende Ausfälle bei der Lieferung von Medikamenten wie im Fall Piperacillin/Tazobactam sind überhaupt erst möglich, weil sich die Produktion im Zuge der Globalisierung zunehmend zentralisiert. Oft sind es dann Subunternehmen, wie das erwähnte Qilu, die in Billiglohnländern für den Weltbedarf produzieren. Die Konzentrierung in einigen wenigen Produktionsstandorten lohnt sich, weil es sich in aller Regel von vornherein um kapitalintensive, großtechnische Verfahren handelt. Kommt es zu Schwierigkeiten in einem Werk, lässt sich das nicht mehr kompensieren.
Dazu trägt auch bei, dass sich große Reservelager für die Firmen nicht rentieren. Das betrifft sowohl Rohstoffe für die Produktion, wie auch das eigentliche Produkt selbst. Die Fortschritte in Logistik und Telekommunikation der letzten Jahrzehnte haben auch in der pharmazeutischen Industrie den Trend zur just-in-time Produktion angefeuert. Vorräte, aus denen bei Engpässen der Bedarf nach Medikamenten bedient werden könnte, sind ein Kostenfaktor, der wegrationalisiert wurde. Das heißt aber auch, dass die Versorgung mit teils lebenswichtigen Medikamenten anfällig geworden ist für bereits mäßige Störungen in der Produktionskette.
Das haben aber primär die Patienten auszubaden. Denn, Ironie an der Geschichte: der pharmazeutische Markt ist inzwischen stark monopolisiert. Einige wenige Firmen teilen sich die weltweite Produktion der meisten gängigen Medikamente. So ist zum Beispiel die Produktion des erwähnten Narkosemittels Remifentanil zu deutlich über 50% in der Hand von Glaxo Smith Kline. In der Folge kann es vorkommen, dass ein Medikament, auf das bei Lieferengpässen dann ausgewichen wird, vom selben Hersteller stammt. „Der Markt regelt das schon,“ wird zur zynischen Lüge, wenn Ärzte und Patienten gezwungen sind, auf weniger effektive und nebenwirkungsreichere Alternativen zurückzugreifen, die vom selben Hersteller geliefert werden – und dabei durchaus mal das mehrfache vom eigentlich präferierten Pharmazeutikum kosten.

Versagen als Chance

Für die Hersteller sind die sich häufenden Versorgungsschwierigkeiten freilich auf ein ganz anderes „Problem“ zurückzuführen: Medikamente seien in Deutschland zu billig, findet beispielsweise der Interessenverband Pro Generika. In der Folge sei man quasi gezwungen, die Produktion in Niedriglohnländern zu konzentrieren. Dass bei steigenden Preisen aber die Mehreinnahmen in größere Lager und redundante Produktionsketten investiert würden – von höheren Löhnen und besserer Arbeitssicherheit ganz zu schweigen – dürfte aber wohl ein naiver Wunsch bleiben. Für die pharmazeutische Industrie funktionieren just-in-time und Billigstandort ja, sich häufende Engpässe hin oder her.
Wer angesichts dessen höhere Preise fordert, womöglich auch mit Blick auf die Tatsache, dass bei Lieferschwierigkeiten zuerst der Meistbietende beliefert wird, hat vor der Gewalt des Bestehenden längst kapituliert. Der Gedanke, dass die Probleme ganz grundsätzlicher Art sind und demzufolge auch ganz grundsätzliche Lösungen erfordern, nämlich der Art, dass die Produktion lebenswichtiger Medikamente nicht in die Hände einer kapitalbasierten Wirtschaft gehören, kommt dann gar nicht mehr in den Sinn.
Unter höheren Preisen dürften am Ende vor allem die ärmsten der Armen leiden. Dabei stimmt es durchaus, dass sich die Produktion gerade der wirksamsten Medikamente oft kaum lohnt, da das Patent abgelaufen ist und die Marktführer fürchten, mit den Herstellern billiger Generika konkurrieren zu müssen. Auch die Krankenkassen sind bekanntlich den Zwängen des Kapitalismus ausgeliefert, haben wenig Interesse, mehr als unbedingt nötig für Medikamente auszugeben und machen ihrerseits Druck auf die Hersteller. Den Großteil ihres Umsatzes machen Pharma-Unternehmen daher meist mit Neuentwicklungen, die gehörig gemolken werden, solange das Patent gilt. Daran werden großzügigere Lieferverträge und staatlich abgesicherte höhere Preise aber wenig ändern.
Was aber das deutsche Versicherungswesen vielleicht noch leisten kann, dürfte für das Gesundheitswesen manch ärmeren Landes den Ruin bedeuten, und wo es keine oder nur eine unzureichende öffentliche Gesundheitsversorgung gibt, da kann ein Krebsmedikament, das plötzlich 990 Dollar statt 12 kostet (so berichtete 2012 das angelsächsische Fachmagazin CancerScope) den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeuten.
Dabei sind sämtliche genannten Probleme, welche die Versorgungssicherheit für Patienten weltweit untergraben, grundsätzlich vermeidbar. Überschußkapazitäten in der Produktion und Medikamentenreserven sind kein großes technisches Problem. Es ist die gewinnorientierte Grundstruktur und der Wettbewerb um Renditen für die Anleger, die hier als Hemmschuh wirken und verhindern, dass sich die Produktion pharmazeutischer Mittel so organisiert, wie es der Stand der Produktivkräfte eigentlich zuließe.

von Ole Nickel