Aspekte des neuen Rechtsradikalismus


Der 1967 gehaltene Vortrag Theodor W. Adornos – Aspekte des neuen Rechtsradikalismus – wurde neu herausgegeben. Mathias Beschorner über den Band und Kontinuitäten zu zeitgenössischen rechten Diskursen.
Dass die Person Theodor W. Adorno, seine Biografie und Œuvre ob seines 50. Todestages vermehrt durch das Feuilleton rauschen, ist kaum verwunderlich, braucht die bürgerliche Gesellschaft doch ihre Jubiläen und ‚kritischen Intellektuellen‘, die immer dann einzugemeinden sind, wenn es wieder einmal zu brennen scheint. Im zeitgenössischen Kontext, in dem die Erfolge rechtspopulistischer Parteien offensichtlich sind, avanciert nun auch Adornos neu herausgegebene Rede Aspekte des neuen Rechtsradikalismus zum Bestseller. Adorno für Erklärungsversuche hinsichtlich solcher Phänomene und politischen Entwicklungen zu befragen, ist ja nun einmal nicht grundsätzlich verkehrt. Dass es in dieser Gesellschaft jedoch permanent an allen Ecken und Enden brennt, ja Adorno selbst schärfster Kritiker ebenjener bürgerlichen Gesellschaft war und damit eben nicht so einfach einzugemeinden ist, wird in diesem Diskurs einmal mehr unter den Teppich gekehrt. Damit wird zugleich das Existenzialurteil Kritischer Theorie, nämlich, dass man es nach wie vor mit einer falsch eingerichteten Gesellschaft zu tun hat, die Phänomene wie den Rechtspopulismus und damit das Umschlagen in Faschismus und Barbarei eben zwangsläufig mit sich bringt, mindestens verwaschen.
Zur Aktualität des Vortrages     
Entgegen diesem Potpourri naiver Würdigungen, die zumeist mit bloßen Versatzstücken der Kritischen Theorie daherkommen und eben diese auf den berühmten Satz der Minima Moralia »Es gibt kein richtiges Leben im falschen« herunterbrechen, ist es Volker Weiß zweifelsfrei zu verdanken, Adornos bisher unveröffentlichte Rede Aspekte des neuen Rechtsradikalismus herausgegeben und mit einem ausführlichen Nachwort versehen zu haben. Liest man das schmale Bändchen und folgt Adornos Argumentationsgang, so ist es tatsächlich frappierend, dass, wie Weiß schreibt, »ein Kommentar zu aktuellen Entwicklungen« vorzuliegen scheint. In dem am 6. April 1967 vor Wiener Studenten des Verbands Sozialistischer Studenten Österreichs gehaltenen Vortrag, seziert Adorno zwar recht ephemer, aber doch messerscharf die deutsche Ideologie und den Nazismus im Kontext seines Wiedererstarkens in der Bundesrepublik der 60er Jahre, was sich zugleich in den damaligen Wahlerfolgen der NPD konkretisierte. Bereits Adornos einleitende Worte verbieten jedoch die simple Eingemeindung als ‚kritischen Intellektu-ellen‘, macht dieser doch mit Verweis auf seinen Vortrag Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit dezidiert deutlich, »daß die gesellschaftlichen Voraussetzungen des Faschismus nach wie vor fortbestehen«. In der Folge rückt Adorno damit die fortwährende, vom Kapital produzierte soziale Deklassierung und Abstiegsangst derjenigen in den Fokus, die im Produktionsprozess weit unten stehen und als »potentielle Arbeitslose« ob des drohenden »Gespenst[es] der technologischen Arbeitslosigkeit nach wie vor« einiges zu befürchten haben; die im Sinne des Rechtsradikalismus jedoch nicht die kapitalistische »Apparatur« angreifen, sondern Linke, Intellektuelle sowie sexuelle und ethnische Minderheiten. Dieser Gedanke mag nun nicht sonderlich originell erscheinen und wurde bereits lange vor Adorno von Karl Marx im Zusammenhang der Maschinenstürmer des 19. Jahrhunderts beobachtet. Auch für das Verständnis des heutigen Rechtsradikalismus und Nazismus ist der Aspekt sozialer Deklassierung relevant. Angesichts der gegenwärtigen Austeritätspolitik dürfte dieser Aspekt an Relevanz gewonnen haben. An der Deklassierung konnte allerdings auch der in den 60er Jahren noch einflussreiche Keynesianismus kaum rütteln, wie Adorno bemerkte.
Gerade wegen der Inanspruchnahme der freudschen Psychoanalyse seitens der Vertreter der Kritischen Theorie verwehrt sich Adorno stets individualpsychologisch verstandener Interpretationen gesellschaftlicher Phänomene, was auch in diesem Vortrag unterstrichen wird – eine Methode, durch die im heutigen Kontext die simple Pathologisierung Einzelner am Beispiel rechtsextremer oder islamistischer Attentäter betrieben wird. Eine Erkenntnis über gesellschaftliche Phänomene wie das des Rechtsradikalismus kommt damit nicht ohne eine historisch-materialistische Theorie aus, in der Individuum und Gesellschaft als vermittelt betrachtet werden: Der Nährboden für den Rechtsradikalismus ist mit Adorno damit in seiner »objektive[n] Basis«, d.h. ausschließlich in der bürgerlichen Gesellschaft und der damit verbundenen Produktionsweise selbst zu verorten, was auch erklärt, warum »die Anhänger des Alt- und Neufaschismus heute [1967] quer durch die Gesamtbevölkerung verteilt sind«.
Radikalisierung, Methode und Propaganda des Rechtsradikalismus
Zudem sieht Adorno in der Angst vor dem sozialen Abstieg, die sich aus rationalen und irrationalen Motiven speist, zugleich etwas »Zentrales«, das in den apokalyptischen Untergangsphantasien, die sich zu dem »Gefühl der sozialen Katastrophe« hinzugesellen, zu sich komme. Das ist der Nährboden für die Ideologie des Rechtsradikalismus, den Adorno zugleich als Ausprägung und als »Narben einer Demokratie« begreift – einer Demokratie, die ihre eigenen Versprechen um den Pursuit of Happiness nie einzulösen vermochte. Besonders drastisch kommt dies allerdings in der »verspäteten Nation« (Hellmuth Plessner) zum Tragen, wenngleich die Demokratie an sich im Ganzen bloß »formal« geblieben sei. Ob faschistische Ideologien tatsächlich mit einer »Theorielosigkeit« einhergehen und ob es im »Faschismus nie eine wirklich durchgebildete Theorie« gegeben habe, wie Adorno konstatiert, ist fraglich, wussten doch die damaligen Kader des Nazismus und Faschismus – ebenso wie die der Neuen Rechten – ihre Schmitts, Heideggers und Paretos durchaus zu würdigen. Im heutigen Kontext genügt ein flüchtiger Blick in das neurechte Magazin Sezession um Götz Kubitscheks Institut für Staatspolitik, um Adorno in diesem Punkt in Frage zu stellen. Fraglos scheint indes, dass, wie Adorno weiter markiert, die »Propaganda« des Rechtsradikalismus selbst »die Substanz [einer solchen] Politik ausmacht«, die Form den Inhalt überwiege und als Mittel perfektioniert werde. Auffallend aktuell erscheinen auch Adornos Bemerkungen über das Durchsetzen immer radikalerer Positionen in rechten Parteien, was er an der historischen NSDAP und zeitgenössischen NPD beobachtete. Das lässt auch die aktuelle Situation der AfD in einem helleren Licht erscheinen. Fraglos, Geschichte wiederholt sich nicht einfach und schon gar nicht wird sie von Individuen gemacht, aber eine auffallende Analogie ist allein anhand der Riege der Parteivorsitzenden der AfD allzu offenkundig, bei der, ähnlich wie Adorno dies für die damalige NPD konstatiert, der »harte oder radikale Flügel gesiegt« zu haben scheint: Bernd Lucke und Frauke Petry, denen man wohl noch rechtskonservative und neoliberale Positionen nachsagen konnte, wurden schließlich ‚abgesägt‘. Die aktuellen Parteivorsitzenden, Jörg Meuthen und Alexander Gauland, kokettieren dagegen immer offener mit dem völkischen »Flügel« um Björn Höcke und scheinen zusehends bereit, die einstmals neoliberale Agenda der AfD für eine völkische Interpretation der sozialen Frage hintanzustellen. Dass der »Flügel« um Björn Höcke so offensiv die soziale Frage aufwerfen kann und damit bei allerlei Wählerschaft punkten kann, scheint zudem dem Versagen von Linken und Liberalen geschuldet, die sich in exorbitanter Weise in Debatten um kulturelle Überbauphänomene flüchten, nicht einmal zu keynesianischen Positionen fähig sind und das Proletariat damit zusehends der politisch Rechten überlassen. Wer diese Entwicklung noch einmal ausführlicher nachvollziehen möchte, der möge einen Blick in Didier Eribons Rückkehr nach Reims werfen.
Auch die Melange sich wiederholender Versuche von Diskursverschie-bungen gen rechts, gespickt mit Lügen und Versatzstücken von Wahrheit, die auch die heutige Politik und Propaganda der AfD maßgeblich kennzeichnet, analysiert Adorno bereits am damaligen Rechtsradikalismus. Unter Bezugnahme auf die Authoritarian Personality und die empirische Kategorie des »manipulativen Typs« macht Adorno in der rechtsradikalen Propaganda eine schlagkräftige Methode aus, für die auch die zeitgenössischen Subjekte sehr anfällig zu sein scheinen. In der Propaganda vereinigen sich zudem Antiintellektualismus, Antiamerikanismus und Antisemitismus, deren Sujets Adorno bereits am Beispiel der National-Zeitung und des Studenten-Anzeigers ideologiekritisch herausschält. Schon diese Zeitungen sprachen mit einer perfiden, aber stets unterschwelligen Konkretion genau jene an, die aufgrund sozialer Deklassierung empfänglich seien, jedoch durchaus wüssten, worauf und auf welche Feindbilder immer wieder angespielt werde.
Was der kritische Theoretiker Adorno gegen all dies ins Feld führt, bleibt schließlich unkonkret, endet aber doch mit einem Bekenntnis zu Wahrheit, Vernunft und Aufklärung. Einen Punkt macht Adorno allerdings durchaus konkret: mit einem blanken Appell an Humanität kann man diesem Denken nicht begegnen. Dagegen gelte es, die tatsächlichen und »potentiellen Anhänger des Rechtsradikalismus« konsequent »vor dessen eigenen Konsequenzen« zu warnen und aufzuklären, dass der Bezug auf eine vermeintlich »wahre Demokratie« rechter Demagogie entspringe und schlussendlich gegen ihre eigenen materiellen Interessen gerichtet sei. Inwieweit eine solche Aufklärung gelingen kann, bleibt fraglich; schon Marx wies in Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte – einem Text, der als frühe Faschismusanalyse betrachtet werden kann – auf das ‚merkwürdige‘ Verhalten kleinbürgerlicher und proletarischer Schichten hin, die gegen ihr eigenes Interesse handeln und diejenigen Repräsentanten wählen, von denen sie sich Vorteile erhoffen. So kann auch im Zeitalter nach den großen Nationalstaaten der Nationalismus die soziale Frage stets verdrängen, denn, wie Adorno auch ausführt, sind es gerade Ideologien in ihrem Untergang, die nochmal sehr wirkmächtig werden können.
Angesichts der aktuellen Entwicklungen um AfD und Rechtspopulismus ist Adornos Rede tatsächlich von hohem aktuellem Wert. Denn auch Volker Weiß fasst im Nachwort bündig, dass »[z]u einer Historisierung Kritischer Theorie« »kein Anlass« bestehe, da »[g]egenwärtig« »die Berührungsängste der Mitte mit dem rechten Rand« »schwinden«. Adornos Text und Denken kommen im Vortrag jedenfalls aktuell und recht präzise daher. Freilich sind Adornos Gedanken nicht 1:1 auf den zeitgenössischen Kontext zu übertragen. Im Ganzen verweist der Vortrag jedoch ideologiekritisch auf Kontinuitäten zu zeitgenössischen rechten Diskursen und hilft vor allem, deren Sujets zu entschlüsseln. Zugleich ist der Band nicht nur allen jenen ans Herz zu legen, die Ideologie und Erstarken rechtspopulistischer Parteien zu begreifen versuchen, sondern auch als nüchterner Einstieg in die Kritische Theorie zu empfehlen.

Von Mathias Beschorner

Der Text ist zuerst in der Versorgerin #124 (Dezember/2019) erschienen.
Adorno, Theodor W. (2019): Aspekte des neuen Rechtsradikalismus. Ein Vortrag (1967). Mit einem Nachwort von Volker Weiß. Suhrkamp, Berlin, 89 Seiten, 10 Euro.

Roboterkommunismus – nur eine Utopie?


Mathias Beschorner über Aaron Bastani: Fully Automated Luxury Communism.
»The fact is, that civilisation requires slaves. The Greeks were quite right there. Unless there are slaves to do the ugly, horrible, uninteresting work, culture and contemplation become almost impossible. Human slavery is wrong, insecure, and demoralising. On mechanical slavery, on the slavery of the machine, the future of the world depends. […] Is this Utopian? A map of the world that does not include Utopia is not worth even glancing at, for it leaves out the one country at which Humanity is always landing. And when Humanity lands there, it looks out, and, seeing a better country, sets sail. Progress is the realisation of Utopias.«
Oscar Wilde: The Soul of Man under Socialism, 1891
Aaron Bastani ist Politikwissenschaftler und Mitbegründer von Novara Media. Bastani stellt eine starke Stimme innerhalb der britischen Linken dar und tritt oft als politischer Kommentator im Fernsehen auf. Einige seiner Ansichten zum Antisemitismusproblem innerhalb der Labour-Partei sowie dem Staat Israel sind äußerst fragwürdig und zu kritisieren. In Fully Automated Luxury Communism erörtert Bastani jedoch Ansätze einer postkapitalistischen Gesellschaft, in der die Güterproduktion zum überwiegenden Teil von künstlicher Intelligenz, Automatisierung und von Robotern organisiert würde.
»Communism is luxurious – or it isn’t communism«
Mit Hegel und Marx lässt sich konstatieren, dass das »Reich der Freiheit« erst da beginnt, wo das »Reich der Notwendigkeit« drastisch eingeschränkt ist. Wie Andreas Arndt in Geschichte und Freiheitsbewusstsein weiter argumentiert, ist die Entwicklung des Freiheitsbewusstseins der Notwendigkeit jedoch nicht äußerlich – das wäre idealistischer Unfug –, sondern steht vermittelt daneben, was freilich nach einem entsprechenden »politischen Rahmen« »verlangt«.[i] Die Linke hat das mit der Freiheit, der Notwendigkeit und dem »politischen Rahmen« nie richtig verstanden: im Realsozialismus wurden Arbeit, Elend und Klasse vergöttert und die Marx‘sche Losung »Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!« kollektivistisch pervertiert. Zwar haben Neue Marx-Lektüre und Postmarxismus derartigem Denken zarte Risse versetzt; vollends emanzipiert hat sich die Linke davon jedoch nicht. Stephan Grigat hat das auch in der Versorgerin ausgeführt[ii] und entsprechend auf dissidente Stimmen verwiesen. Erfreulicherweise bezieht sich Bastani mitunter auch auf Oscar Wilde. Communism benutzt Bastani zudem in Abgrenzung zum Realsozialismus; er stellt sich dagegen in die Tradition Marx‘ selbst, der damit eine Welt vor Augen hatte, »in which work is eliminated, scarcity replaced by abundance«.
Ein Ende vom Ende der Geschichte?
Auch nach dem von Francis Fukuyama postulierten Ende der Geschichte fällt der Linken dagegen kaum etwas ein, was sinnig über das Bestehende hinausweisen könnte: Postwachstumstheorien fallen z.B. deutlich hinter kapitalistische Vergesellschaftung zurück und bedienen das Bedürfnis nach naivem Idealismus, Verzichtsethik sowie Autoritarismus.[iii] Liefert Bastani einen diskussionswürdigen Entwurf, der das Freiheitsbewusstsein im Sinne eines Hegelmarxismus weiterentwickeln könnte?
Bastani widmet sich zunächst kritisch den Thesen Fukuyamas und moniert zurecht deren Deutungshoheit. Fukuyama postulierte nicht das Ende der Zeit, sondern den Siegeszug der westlich und kapitalistisch verfassten Demokratie, die die finale Vergesellschaftungsform der Menschheit darstelle, ein postideologisches Ende eingeleitet hätte und in welcher keinerlei fundamentalen neuen politischen Ideen mehr aufkämen. Jedoch, so Bastani, zeugten Klimawandel und die soziale Frage von der Naivität dieser Thesen, obwohl sie als »sacrosanct« und »common sense« betrachtet würden. Bastani hebt fünf fundamentale Krisenproblematiken globalen Ausmaßes hervor: Klimawandel und globale Erwärmung, Ressourcenknappheit, alternde und rasant steigende Bevölkerung, durch technische Innovation verursachte Arbeitslosigkeit und Armut. Diese fünf Krisen untergraben laut Bastani die Fähigkeit des Kapitals ‚sich selbst zu heilen‘. Dennoch sei es im Sinne Fukuyamas »easier to imagine the end of the world than the end of capitalism«. Doch was hat Bastani dieser Deutungshoheit entgegenzusetzen?
FALC – »A world beyond jobs, profit and even scarcity«
Bastani zeigt sich als ausgesprochener Kenner der politischen Ökonomien von Smith, Ricardo, Malthus und Keynes; darüber hinaus liefert er im Sinne des Untertitels des Kapitals eine überzeugende Kritik der politischen Ökonomie. Zudem bietet Bastani einen außerordentlich umfangreichen Überblick über technologische Innovationen und Wandlungsprozesse innerhalb der Moderne sowie der vergangenen Dekaden. Vor allem das 2. Kapitel überzeugt hierbei mit einer Fülle an Beispielen, die vom Energiesektor über das Gesundheitswesen bis hin zu den Potenzialen der Raumfahrt aufzeigen, dass eine postkapitalistisch strukturierte Gesellschaft mit Güterüberfluss möglich sei.
Hervorzuheben ist hierbei, dass Bastani keiner idealistischen Träumerei anhängt, sondern mit einer minutiösen Beobachtung von gesellschaftlichen Strukturen und technischen Entwicklungen arbeitet. Schon Marx sperrte sich dagegen, konkret auszumalen, wie eine befreite Gesellschaft aussehen könnte. Bastani liefert also keine absurde Science-Fiction, sondern empirisch fundierte Beobachtungen von staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren. In Abgrenzung zur Malthusianischen Bevölkerungsfalle[iv] und zu Keynes, führt er zudem ein Szenario an, in dem Güterknappheit besiegt sei. Mit Marx und gegen den Keynesianismus argumentiert er überzeugend, dass das kapitalistische System »politically contested« sei.
Das Buch bietet auf 288 Seiten einen roten Faden, der immer wieder um die auch in der Sozialwissenschaft breit diskutierte These des jobless growth kreist. D.h., dass durch technische Rationalisierungen und Automatisierungsprozesse zusehends weniger menschliche Arbeitskraft im Produktionsprozess benötigt werde. Schon heute wird immer mehr physische und kognitive Arbeit von Robotern und Maschinen verrichtet. Tendenz steigend. Die Informationstechnologie wird damit zum Produktionsfaktor Nummer 1 und Roboter, Drohnen und Maschinen könnten in absehbarer Zeit die Ware menschliche Arbeitskraft vollends ersetzen. Dahingehend verweist Bastani darauf, dass Marx entgegen ‚falscher‘ Lesarten ausdrücklich die vom Kapitalverhältnis entfesselten Produktivkräfte in den höchsten Tönen lobte und verdeutlicht dies anhand eines Bezugs auf das »Maschinenfragment« aus den Grundrissen, das entgegen der exorbitanten Bedeutung des Manifests der Kommunistischen Partei kaum wahrgenommen werde. Schon in den Grundrissen verweist Marx jedoch auf die steigende Bedeutung von Informationen im Produktionsprozess.
Jedoch dienen Informationstechnologie und Automatisierung von Produktion in einer kapitalistisch strukturierten Gesellschaft nicht menschlichen Bedürfnissen, sondern zum überwiegenden Teil der »Verwertung des Werts«. In Kombination mit einem Arbeitsfetischismus, den man quer durch alle politischen Lager antrifft, entstehen heute immer mehr sogenannte »Bullshit-Jobs« (David Graeber). Folgt man Marx, so kann die Entwicklung der Produktivkräfte jedoch Produktionsverhältnisse revolutionär sprengen, woraus neue Formen von Vergesellschaftung resultieren können. Die Weiterentwicklung der Produktivkräfte bildete damit schon bei Marx die grundlegende Voraussetzung zur Einschränkung des »Reichs der Notwendigkeit« und damit die Bedingung zur Emanzipation von menschlicher Arbeit. Dahingehend stellt Bastani das rationelle Ausnützen der Produktivkräfte unter einer damit einhergehenden Veränderung der Produktionsverhältnisse, einen Zugewinn an freier Zeit, Selbstbestimmung, Individualismus sowie Luxus für breite Bevölkerungsschichten in Aussicht. Bastanis Analyse des Status quo sowie die sich durch technische Innovationen ergebenden Möglichkeiten für eine potenziell postkapitalistische Gesellschaft machen den Hauptteil des Buches aus und lesen sich recht überzeugend.
»Luxury Populism«
Im abschließenden dritten Teil erläutert Bastani politische Strategien und entwirft in Abgrenzung zu einem rechten Populismus das Modell eines »Luxury Populism«. Damit richtet sich Bastani zugleich gegen Postwachstumstheorien und pocht stattdessen auf die materiellen Bedürfnisse breiter Bevölkerungsschichten. Eine politische Strategie jedoch, die nicht »red and green« sei, und damit nicht Individualismus einfordere sowie die Bedrohungen durch den Klimawandel reflektiere, sei zum Scheitern verurteilt; zudem hätte sie sich im Gegensatz zur traditionellen Arbeiterbewegung gegen die Arbeit an sich zu richten. Hierzu bedürfte es mitunter der Forderung umfassender Veränderungen im Transportwesen und öffentlicher Güterversorgung, womit Bastani auch ein bedingungsloses Grundeinkommen anführt.
Wie bei allen technologischen Revolutionen in der Geschichte – Bastani streicht die neolithische, den Buchdruck und die industrielle Revolution heraus -, werden auch bei dieser die Veränderungen Jahrzehnte brauchen. Aber, so Bastani abschließend, es gehe nicht um die Zukunft, sondern um »a present which is already here«. In wieweit Bastanis politische Perspektiven und Strategien überzeugen, sei der Leserin überlassen.
Kritisch hervorzuheben sind mindestens jedoch zwei Punkte: 1. Bastanis Auseinandersetzung mit dem Neoliberalismus gerät bisweilen in ein simples Elitenbashing und vergisst, dass auch die herrschenden Klassen im Sinne Marx ‚lediglich‘ als »Charaktermasken« fungieren und damit nur bedingt intentionales Handeln vorliegt. 2. Bei allem Fortschrittsoptimismus hinsichtlich technischer Innovationen – Bastani verfällt hin und wieder recht deutlich in versteckte und offene teleologische Erwägungen – bleibt mit der kritischen Theorie zu reflektieren, dass technische Errungenschaften nicht zwangsläufig zu einem besseren gesellschaftlichen Zustand, sondern auch zu neuen Herrschaftsformen führen können.
Darüber hinaus gelte es auch mit feministischen Ansätzen soziale Beziehungen, Care-Arbeit und das Verhältnis Mensch/Natur stärker zu hinterfragen, denn das bleibt Bastani deutlich schuldig. Ein vernunftgeleitetes Eingedenken von Erster und Zweiter Natur im Sinne der kritischen Theorie müsste dagegen die Grundlage bilden. Dass Bastani dies nicht reflektiert, ist offenkundig, und dennoch bleibt abschließend zu sagen, dass das Buch einige Ansätze bietet, die der Utopie eines Müßiggangs im Sinne Theodor W. Adornos zuträglich sein könnten: »auf dem Wasser liegen und friedlich in den Himmel schauen, ‚sein, sonst nichts, ohne alle weitere Bestimmung und Erfüllung‘ könnte an Stelle von Prozeß, Tun, Erfüllen treten und so wahrhaft das Versprechen der dialektischen Logik einlösen, in ihren Ursprung zu münden.«[v]

von Mathias Beschorner

Diese Buchbesprechung ist zuerst in der Versorgerin #123 (September/2019) erschienen.
Das Buch ist am 11. Juni bei Versobooks erschienen.
Bastani, Aaron (2019): Fully Automated Luxury Communism. Versobooks. New York und London, 288 Seiten, 20,99 Euro.
[i] Arndt, Andreas: Geschichte und Freiheitsbewusstsein. Zur Dialektik der Freiheit bei Hegel und Marx, Berlin 2015, S. 100ff.
[ii] Grigat, Stephan: Die Arbeit nieder! In: Versorgerin Nr. 117.
[iii] Siehe hierzu auch die vierte Ausgabe des Distanz-Magazins unter: http://distanz-magazin.de/magazin/4-postwachstumskritik/.
[iv] Die von Thomas Malthus entwickelte Theorie der Bevölkerungsfalle hat große Bedeutung für Postwachstumstheorien und wird dort affirmativ verwendet. Hat diese Theorie für vorkapitalistische Gesellschaften noch gewisse Berechtigung, blamiert sie sich vor der Realität und den Möglichkeiten moderner Produktivkräfte.
[v] Adorno, Theodor W.: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben: Sur l‘eau. Digitale Bibliothek Band 97: Gesammelte Schriften, S. 1953-1955 (vgl. GS 4, S. 179).

Eine sexistische Aktion feministisch lesen? Eine Kritik an Heide Oestreichs Kolumne ›Sechs Brüste für Teddy. Das „Busenattentat“ auf Adorno.


Da ist es wieder: Alle paar Jahre kann jemand im deutschen Feuilleton nicht an sich halten und muss nach eingehender Bettenschau seinen Unmut darüber kundtun, dass der dicke Professorenonkel aus Frankfurt mit den großen Brillengläsern und den schwierigen Texten beim Geschlechtsverkehr nicht das Licht ausmachte und Verhältnisse mit jüngeren Frauen hatte. Aber nicht nur das, Heide Oestreich behauptet in ihrer Kolumne im Deutschlandfunk vom 31.07.2019 zur 50. Jährung des berüchtigten Busen-Attentats allen Ernstes, eben jene Attacke auf Theodor W. Adorno sei ein »emanzipatorischer Akt« gewesen. Oestreich versammelt in ihrem Text allerhand Mythen, Halbwahrheiten, Kommentarspaltengeraune und Lügen über Adorno, die man so schon oft lesen musste. Man kennt es. In der Kritik an Adorno geht es im deutschen Feuilleton nur selten um sein Werk, umso häufiger aber stehen sein Sexualverhalten und seine Beziehungen zu Frauen im Fokus. Auch bei Oestreich findet man hinter der verkniffenen Zurschaustellung ihrer Ansicht, dass Adornos kritische Theorie obsolet sei, keine stichhaltigen Argumente. Mal wieder muss der Blick in Adornos Schlafzimmer herhalten, um ihn in süffisanter Weise (»Rest in Peace, Teddy«) zu erledigen. Insofern nicht anders angegeben, stammen alle folgenden Zitate aus dem Text von Oestreich.
Da ist zuerst der schlechte Versuch, Gretel Adornos Anteil an Adornos Werk herabzusetzen und gegen ihn zu wenden. Hierbei zeigt sich, dass sich Oestreich nicht die Mühe gemacht hat, den Sachverhalt zu ergründen. Statt die Zeugnisse der tiefen Verbundenheit, der nicht-monogamen Ehe und all der biographischen Schwierigkeiten und Widersprüche zur Kenntnis zu nehmen, liefert Oestreich eine flache Interpretation. Dass Gretel Adorno über die Affären ihres Mannes Bescheid wusste, ja es offenbar darüber Absprachen gab und auch Gretel Adorno ihre Affären hatte, das lässt Oestreich nicht gelten. Die Ehe der Adornos widersprach dem zur damaligen Zeit gängigen patriarchalen Klischee, das Oestreich hier ungeprüft als Maßstab anlegt. Gretel Adorno war eben nicht einfach die »ausgebeutete Gattin«, die zu Hause saß, dem Mann zum Abendbrot Tafelspitz servierte und seine Texte redigierte. Die Feministin und Kritische Theoretikerin Regina Becker-Schmidt berichtet ein ganz anderes Bild: »Ich war mit ihm und Gretel Adorno befreundet. Für mich war die Beziehung zwischen den beiden genau durch diese Spannung gekennzeichnet: Treue trotz allem, Zuverlässigkeit, eine fast symbiotische wechselseitige Bezogenheit auf der einen Seite und die Fähigkeit, sich die Freiheit zu lassen, auf der anderen. Beide sind für mich eigentlich die Vorbilder für die Gestaltung meiner eigenen persönlichen Beziehungen geblieben. Stellen aus der ›Minima Moralia‹ wie ›Moral und Zeitordnung‹ oder über die Ehe aus der ›Dialektik der Aufklärung‹ sind nicht einfach nur graue Theorie, sondern auch ein Stück gelebter Wirklichkeit« (Becker-Schmidt, in: Früchtl/Calloni, Erinnern an Adorno, 1991, S. 210f.).
Die Moral, die vom Kritiker bereits jenes Bessere verlangt, dass dieser mit seiner Kritik erst intendiert, ist ein schlechte. Adorno war ganz sicher nicht frei vom patriarchalen Denken und auch er verkörperte den rationalen männlichen Charakter, welchen er und Horkheimer in der ›Dialektik der Aufklärung‹ kritisieren. Adorno entsprach aber ganz sicher nicht dem Bild des sexistischen, seine Ehefrau unterdrückenden Patriarchen, zu dem ihn Oestreich in ihrem Text zurechtlügt.
Heide Oestreich weiß aber noch mehr zu berichten. Adorno, dieser schmutzige alte Professor, stand auf junge Dinger bzw. auf die »Dinger« jener jungen Frauen. Adorno sei »Spezialist für diese delikaten Körperteile« gewesen […]«, der »[d]ie Dialektik der Dinger studierte […], indem er seinen gelehrten Blick ausgiebig auf denselben ruhen ließ, heißt es von Zeitzeugen«. Mit ziemlicher Sicherheit bezieht sich Oestreich in Sachen Zeitzeugen hier auf einen kurzen Interviewausschnitt mit Rüdiger Safranski im zweiten Teil der Fernsehdokumentation ›Wer denkt ist nicht wütend‹. Safranski beschreibt in diesem Ausschnitt, wie Adorno in einer Vorlesung aus dem Stehgreif umfassende Gedankenketten entfaltete, zugleich doch dem Auditorium zugewandt gewesen sei und eine zu spät kommende, platzsuchende Studentin während der in sich gekehrten Rede mit den Blicken fixierte und kurzeitig verfolgte. Von Busen, die Adorno hier angeblich ausgiebig studierte, ist nicht die Rede. Dass Adorno mit dem Erscheinen der Studentin »immer noch ein Auge für solch ein erotisches Vorkommnis hatte« (Safranski), ist erst mal allein Safranskis Interpretation (und wohl auch Projektion). Oestreich macht daraus ein sabberndes Gieren Adornos nach den Brüsten junger Studentinnen. Wenn man nicht mehr hat, um das eigene Ressentiment zu stützen, müssen eben Interviewschnipsel aus einer schlechten Dokumentation herhalten.
Nun soll sich Adorno nicht nur an den Brüsten von Studentinnen vergangen haben, sondern Oestreich weiß auch: »Und der Fetischisierung des weiblichen Körpers kommt man natürlich am besten im Bordell auf die Spur. Adorno hat hier zahlreiche Selbstversuche gemacht. Und nun dies: Sein Studienobjekt macht sich selbstständig. Der Busen wird quasi Subjekt und treibt Schabernack mit ihm!«
Der Adorno war also im Puff? Dass das belegt sein soll, weiß man spätestens seit dem nicht weniger erbärmlichen Spiegel-Artikel über Adornos Privatleben von Johannes Saltzwedel (https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-28325126.html). Was da wie belegt ist und warum man das belegen müsste, lässt auch er offen. Aber Saltzwedel entblödet sich nicht, auch noch die private Notiz Adornos über die »Masochistin Carol« aufzutischen. Der verheiratete Adorno und die »unbekannte Dame« (Saltzwedel) vergnügten sich mit BDSM-Spielchen in einem Hotelzimmer. Bei solch »weniger edlen Eskapaden« müsse man ja vom großen Intellektuellen, der sich »virtuos als Vordenker und Gewissen der Nation [inszenierte]« (Saltzwedel), Abstand nehmen. Adorno hat sich nie als solches inszeniert. Dieser Blödsinn erwächst nur regelmäßig den unverständigen Hohlköpfen des deutschen Feuilletons, die einen vehementen Kritiker deutscher Ideologie als deutsches Kulturgut verbuchen wollen. Mehr noch, einem Denken und Auftreten wie dem Adornos, Inszenierung und Affektiertheit vorzuwerfen, ist lediglich antiintellektuelles Ressentiment und nichts weiter.
Man fragt sich bei all diesen Verklemmungen von Oestreich und Saltzwedel, was das mit Adornos kritischer Theorie zu tun haben soll? Auch hier ist nur jene verklemmte Moral am Werk, die mehr über den aussagt, der sie gegen das Privatleben des Kritikers wendet. Und Sätze von Oestreich wie die zuletzt zitierten sollen doch nur suggerieren, Adorno, der alte schmutzige Mann, hat sich an jungen Frauen vergangen und nun schlagen diese in der Busen-Aktion zurück. Daher kommt auch die fragwürdige Verknüpfung des Busen-Attentats mit der Metoo-Kampagne in der Einleitung des Textes.
Oestreich vermittelt über die Hintergründe des Busen-Attentats ein Bild, als seien die Studierenden geschlossen gegen Adorno angetreten, dabei handelte es sich um eine radikale Minderheit – eine Gruppe, deren Wort- und Anführer mit wenigen Ausnahmen tatsächlich nur linke Macker und deren Verhalten gegenüber Genossinnen äußerst fragwürdig waren. Wie verschiedene Anwesende berichteten, brachte ein Großteil des Auditoriums bereits zu Beginn der Störung der Vorlesung am 22. April 1969 seinen Unmut gegen die Unterbrechung hervor und zeigte sich nach den körperlichen Zudringlichkeiten der entblößten Studentinnen schockiert (vgl. Müller-Doohm, Adorno. Eine Biographie, 2003, S. 722ff., S. 915f.)
Oestreich müht sich in ihrem Text nun ab, zwischen der Aktion von 1969 und dem Privatleben Adornos eine Verbindung herzustellen. Was sie uns anbietet ist inhaltlich kläglich und absurd. Schließlich ist bekannt, dass sich diese Aktion nicht gegen Adornos Verhalten gegenüber Frauen richtete. Vielmehr empfanden die Jedi-Ritter der Revolution Adornos Beharren auf das kritische Denken und einer daran geknüpften Praxis der unreglementierten Erfahrung als Verrat. Auf ihrer Flucht vor den gesellschaftlichen Widersprüchen in die wirkungslose Praxis und in den elitären Aktionismus wirkte Adornos Beharrlichkeit auf sie wie ein rotes Tuch. Dass die einige Monate zuvor erfolgte Räumung des besetzten Instituts für Sozialforschung durch die von Ludwig von Friedeburg und Walter Rüegg gerufene Polizei sofort der alleinigen Verantwortlichkeit Adornos zugeschrieben wurde, tat ihr Übriges dazu.
Adorno in Hinblick auf das autoritäre und zudringliche Verhalten der Studentinnen und Studenten zum Sexisten abzustempeln bzw. aus der Aktion »[f]eministisch betrachtet […] eine Urszene der sich selbst ermächtigenden Frau« zu machen, ist einfach nur grotesk. Ganz treffend hebt Becker-Schmidt in einem Interview hervor (auch in der besagten Dokumentation zu sehen): »Man kann Adorno auch in seinem Verhältnis zu Frauen eine ganze Menge vorwerfen, aber eins kann man überhaupt nicht ihm vorwerfen, dass er irgendwann mal sexistisch gewesen sei – und das [das Busen-Attentat] war sexistisch!«
Und zu Recht merkte Adorno in einem Spiegel-Interview an:
»Gerade bei mir, der sich stets gegen jede Art erotischer Repression und gegen Sexualtabus gewandt hat! Mich zu verhöhnen und drei als Hippies zurechtgemachte Mädchen auf mich loszuhetzen! Ich fand das widerlich. Der Heiterkeitseffekt, den man damit erzielt, war ja doch im Grunde die Reaktion des Spießbürgers, der Hihi! kichert, wenn er ein Mädchen mit nackten Brüsten sieht. Natürlich war dieser Schwachsinn kalkuliert. (Adorno, GS 20.1, 2003, S. 407).« Auch gegen das im Feuilleton beliebte und auch von Oestreich bediente Stereotyp, die Theorie Adornos hätte sich mit den aufbegehrenden Studierenden nun gegen ihn gewandt, nahm er bereits selbst Stellung: »Ein wirklich faßlicher Zusammenhang zwischen dem gegenwärtigen Aktionismus, den ich für höchst problematisch halte, und unseren Gedanken ist mir noch von keinem Menschen aufgezeigt worden. Irrationale Aktionen, von der Theorie abgelöst, die man verlästert, sind nie in unserem Sinn gewesen. Kritische Theorie schließt notwendig eben jene Analyse der Situation ein, die sich der Aktionismus erspart, um nicht der eigenen Hinfälligkeit innewerden zu müssen. Im Übrigen ist die These, wir hätten Ideen entwickelt, die sich gegen uns gewandt hätten, als sie in die Tat umgesetzt wurden, besonders beliebt bei denen, und wahrscheinlich von ihnen erfunden, welche die Freiheit des kritischen Gedankens mit der Geste des »Seht ihr’s« lähmen wollen. Ich habe so wenig Neigung, diesem Gestus mich zu beugen wie den Solidaritätszwängen der Aktionisten (Adorno, GS 20.1, 2003, S. 398f., Herv. i. O).«
Adorno war einfach nicht bereit, als Stichwortgeber für den autoritären Unsinn, den die Studierenden da veranstalteten, zu fungieren. Jene Beharrlichkeit des dialektischen Denkens scheint auch 50 Jahre später Heide Oestreich in Wut zu versetzen.
Dass es bei Oestreich mit der Auseinandersetzung mit Adornos Kritik nicht weit her ist, bezeugt auch folgende Passage: »Seine Theorie von der Totalität der kapitalistischen Vergesellschaftung beinhaltete auch, dass wir in diesem System zur Freiheit leider nicht fähig sind. Sein berühmtester Satz „Es gibt kein wahres Leben im falschen“ war von einer Erkenntnis mittlerweile zu einem Hindernis geworden. Jedenfalls für die jungen Leute, die sich mit derlei Fatalismus nicht abfinden wollten.«
Dass man aus Adornos Werk immer und immer wieder nur diesen Satz völlig entkontextualisiert und im Falle von Oestreich sogar falsch wiedergibt und diesen als Fatalismus interpretiert, sagt eigentlich nur etwas über ein feuilletonistisches Milieu aus, für das Adornos Begriff der Halbbildung ganz treffend ist. Warum verfasst jemand eine dreist verurteilende Kolumne über einen Denker und sein Werk, wo man offenkundig von der Materie nicht viel Ahnung hat? Dem Juden, der nach seiner Rückkehr aus dem Exil in Frankfurt mit gepackten Koffern wohnte, sogar Attentismus vorzuwerfen, wo Leute links wie rechts (zum Beispiel das Attentat auf Dutschke) wieder mit autoritären Mitteln zur politischen Tat schritten, kann man nur als ungehörig und dreist bezeichnen. Hier urteilt Oestreich über ein Werk und Leben, das sie offenkundig nicht mal im Ansatz durchdrungen hat. Andernfalls würde man vor dem Hintergrund eines Textes wie ›Marginalien zu Theorie und Praxis‹ und mit den Einsichten in Adornos Privatleben durch veröffentlichte Briefwechsel und Anderes nicht einfach behaupten, er hätte sich »gemütlich eingerichtet im falschen Leben«.
Helmuth Plessner hat nach dem Tod Adornos zu der Peinlichkeit der unpolitischen Aktion des Busen-Attentats im Grunde bereits alles gesagt:
»Seit Marx und den Umwälzungen in seinem Zeichen sind wir um viele Erfahrungen ärmer geworden. Darum sich in den Wartestand einer sogenannten bloßen Theorie flüchten wäre schlimmer, weil Verrat am Gedanken. Kritische Theorie ist ein Stück Praxis. Deshalb haben ihn die albernen Vorwürfe der Aktivisten, die es hätten besser wissen können, denn sie haben bei ihm gelernt, mit Recht verletzt. Und Mädchen mit oben nicht ganz ohne sind selbst im ganz entkleideten Zustand kein Argument (Plessner, Totale Reflexion. Zum Tode Adornos, in: ders.: Politik, Anthropologie, Philosophie. Aufsätze und Vorträge, 2001, S. 336).

von M. Schönwetter

 

Objektiver Jargon. Die Prophetie der ‚Ideologiekritiker‘

Das Wörtchen ‚objektiv‘ ist wegen seiner assoziierten Bedeutung schillernd. In der Wissenschaft der Moderne wird mit dem Objektiven das Gegenständliche bezeichnet, das unabhängig vom Bewusstsein des das Objekt wahrnehmenden in der Welt ist. Es steht für profunde Einsichtnahme und weist den Nutzer als Kenner des Gegenstands aus, über den er urteilt. Wer objektiv spricht, kennt die Facetten eines Dings, er konnte statt des ‚für sich‘ durch Hermeneutik, Falsifikation etc. das ‚an sich‘ erkennen. Er steht über den Dingen, kann sie klar und unverstellt erkennen.

Das Experiment mit dem Vogel in der Luftpumpe, Joseph Wright of Derby, 1768 (Wikicommons)

Der allzu optimistische Positivismus des frühen 20. Jahrhunderts hoffte noch auf die Einsichtsfähigkeit des Menschen, Begriffe über das Gegenständliche zu schaffen, die mit diesen Objekten identisch, folglich objektiv sind. Diese Hoffnung freilich stand auf tönernen Füßen: Die Einsicht in die Fehlbarkeit der Sprache und des Sprachvermögens feierte zur gleichen Zeit fröhliche Urstände. Der an Marx und Kant geschulte Adorno sah in der von identifizierendem Denken angetriebenen bürgerlichen Wissenschaft des Positivismus nur noch die zum Schematismus (Kant) verkommene Philosophie des deutschen Idealismus: Die objektive Welt wird in Begriffe portioniert, zurechtgebogen und in der positivistischen Sprache der Basissätze etc. nur die Eigene, die ideologische verstellte Wahrnehmung verdoppelt. Diese Perspektive kann nur vom Schein der Dinge sprechen, nicht aber zu ihrem ‚an sich‘ durchdringen. Es gelte dagegen im Modus negativer Dialektik diese falsche Identifikation der Welt mit dem falschen Selbst zu kritisieren, um die verstellte Wahrnehmung der Welt zu häuten und so irgendwann unverstellt auf die Welt blicken zu können und sich im revolutionären Akt anzueignen. Die Mutter aller falschen Identifikationen ist die falsche Identifikation des bürgerlichen Tauschs, dem Verkauf und der Ausbeutung der Arbeitskraft durch das Abschöpfen des Mehrwerts:

„Würde keinem Menschen mehr ein Teil seiner lebendigen Arbeit vorenthalten, so wäre rationale Identität erreicht, und die Gesellschaft wäre über das identifizierende Denken hinaus.“ (Adorno:Negative Dialektik, S.148)

Die Aporie, den kapitalistischen Tausch erst im revolutionären Akt aufheben zu können, wenn die Einsicht in eine wahrhafte (wahrhaft objektive), dem Menschen gerechte Gesellschaft möglich ist, und gleichsam diese Einsicht erst erhalten zu können, wenn die Tauschgesellschaft und damit das identifizierende Denken überwunden ist, ließ Adorno verbittern und Horkheimer frömmeln.
Wer sich dieser gnostischen Strömung marxistischen Denkens nicht hin- oder ergeben, aber dennoch akademisch und vor allem: kritisch bleiben wollte, konnte es mit dem angewandten Relativismus probieren, um als fröhlicher Positivist (Foucault) die Ordnung der Diskurs-, statt der Warenproduktion zu untersuchen. Objektivität zerfällt dann in ‚intersubjektive Überprüfbarkeit‘ und die vollends kommunikativ konstruierte Welt muss in zweiter Ordnung beobachtet werden. Adorno mag wohl, den Relativismus angesichts der Totalität kapitalistischer Produktion zurückweisend, statt in zweiter Ordnung lieber als Zaungast auf das falsche Ganze blicken. Ob Relativismus oder Totalitarismus, von Objektivität zu sprechen, hat seinen Glanz verloren, seitdem es dem Verdacht der Ideologieproduktion ausgesetzt wurde. Aber eine kleine Gruppe widersetzt sich diesem Diktat: die ‚Ideologiekritiker‘.
Von Thomas Maul erfahren wir, in der Stilblüte geschmückt, dass das „Zelebrieren christlicher Rituale […] objektiv zu einem Frontabschnitt der antifaschistischen Reconquista geworden“[1] sei. Die ‚ideologiekritischen Aktion‘ posaunt auf Twitter, dass der „Vernichtungsantizionist“ Jeremy Corbyn objektiv die Fortsetzung Hitlers sei. Der Accountbetreiber wittert freilich Zensur und lässt fragen, ob man erst warten müsse, bis Corbyn gemeinsam mit Iran und Konsorten den Holocaust wiederhole, um ihn so nennen zu dürfen.[2] In der Zeitschrift Bahamas weiß David Schneider zu berichten, dass der ehemalige Autor eben dieser Zeitschrift, Samuel Salzborn, den islamischen Antisemitismus „endgültig objektiv verharmlosend“ erfasst, wenn er die verschiedenen Formen grassierenden Antisemitismus als sekundären und strukturellen Antisemitismus einebne.[3]
Diesen Beispielen – und die Liste ließe sich beliebig verlängern – ist die Funktion der ‚Objektivität‘ zum einen als Artikulation vom Wahrheitsanspruch, zum anderen als Abkürzung der notwendigen Auseinandersetzung mit dem inkriminierten Gegenstand gemein. Mit anderen Worten: Es ist Jargon. Keine der zitierten Aussagen verlöre an Gehalt, striche man das ‚objektiv‘, doch sie verlören an ihrem Anspruch. Im Brustton der Überzeugung wissen die als Ideologiekritiker getarnten Idealisten mit der Floskel nichts anderes als Wahrheit zu verkünden. Schneider, dem die Bahamas mehr Platz gibt als Twitter der ‚ideologiekritischen Aktion‘, darf weiter ausführen:

„In Wahrheit dient Salzborns Argument ganz einfach dazu, die rational nachvollziehbare und unbedingt [!] begrüßenswerte Ablehnung islamischer Gewohnheiten durch große Teile der deutschen Bevölkerung, die sich als Produkt einer halbwegs gelungenen Reeducation erweist, als Ausdruck von Ressentiment zu diffamieren.“[4]

Die Anspruchshaltung gepaart mit der Verweigerung vertiefter Auseinandersetzung mit dem Objekt oder gar die falsche Verwendung des Begriffs[5] ist der Nexus der von Adorno gescholtenen Halbbildung, deren Träger genügend Wissen hat, um nicht mehr naiv, unverstellt auf die Welt zu blicken, aber zu wenig Wissen besitzt, um aus dem zum Schematismus geronnen Denken herauszutreten. Die Halbbildung ist als Gegenteil von Bildung bloße, autoritär vertretene Überzeugung und als ‚Meinung haben‘ der Modus, in dem sich die Linke in sozialen Netzwerken aufzuklären meint. Im Jargon der vermeintlichen ‚Objektivität‘ wird sie objektiv.
Ihren Ursprung hat der Jargon sicherlich weniger in der Halbbildung als vielmehr in den Schaugefechten mit fröhlichen Positivisten. Die Rede vom Objektiven sollte die Differenz zum Relativismus der postmodernen Erkenntnistheorie untermauern. Doch wer Ideologiekritik „und sonst nichts“ betreiben will[6], also von marxistischen Begriffen Abschied nimmt, mit deren Hilfe aber die totale Objektivität des Kapitalismus erst zu fassen ist, entnahm den Begriff ihren Sinn. Was bleibt, ist die Prophetie des Besserwissers.

von Hape Richter

 
[1] https://www.thomasmaul.de/2018/12/anlasslich-des-straburger-terrorakts.html Mit dem Frontabschnitt meint Maul den Weihnachtsmarkt, dessen Besuch er dem geneigten Leser (von Leserinnen mag er ideologiekritisch wohl lieber nicht schreiben) anempfiehlt. Eine Handlung (Zelebrieren) kann kein Ort (Frontabschnitt) sein. Aber was kümmert den Ideologiekritiker die Sprachkritik, wenn er in Mission gegen Islam im Internet unterwegs ist.
[2] https://twitter.com/idkritik/status/1103342667981864962.
[3] http://redaktion-bahamas.org/artikel/2018/80-kein-recht-auf-extreme-meinungen/.
[4] Ebd.
[5] Hier also das fehlende Objekt, auf das die objektive Aussage Bezug nimmt.
[6] Redaktion Bahamas, Ideologiekritisch und sonst nichts. In: http://www.redaktion-bahamas.org/auswahl/web57-2.html.
 

Antisemitismus und der Hass auf die „halbierte Aufklärung“

Samuel Salzborns neues Buch Globaler Antisemitismus als Plädoyer für einen antimissionarischen Universalismus.
Der derzeitig am Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin als Gastprofessor arbeitende Politikwissenschaftler Samuel Salzborn gilt als einer der renommiertesten Experten zum Thema Antisemitismus. Sein neues Buch bietet eine strukturanalytische und weltgeschichtliche Perspektive, die einerseits pointiert den Stand der theoretischen Antisemitismusforschung widerspiegelt, andererseits schlüssig das Phänomen des Antisemitismus zu erhellen in der Lage ist. Er schafft dies anhand einer ideengeschichtlichen Verortung, die Konstanten, Variablen und Transformationsprozesse antisemitischen Denkens aufzeigt. Auf 257 Seiten und in drei Abschnitten gegliedert kann er den eigenen Anspruch – den Gegenstand vor allem theoretisierend zu durchdringen – einlösen.
Antisemitismus als Basisstruktur moderner Vergesellschaftung
Salzborn begreift Antisemitismus kaum einfach als rassistisches Vorurteil; dieser ist mehr aufgrund der „Halbierung der Aufklärung“ als maßgebliche Struktur moderner Vergesellschaftung zu fassen. Zwar begann sich die Aufklärung im Sinne einer „Entzauberung der Welt“ (Max Weber) vom göttlichen Allmachtsanspruch zu lösen, sie inthronisierte jedoch einen neuen Glauben an Wissenschaft und eine Hybris des Menschen, die zu neuem Ausschluss und szientistischem Rasseglauben führte. Damit lehnt sich Salzborn an die kritische Theorie, insbesondere die Dialektik der Aufklärung, sowie die auf der Marxschen Fetischkritik basierende AS-Theorie Moishe Postones an.[1] Antisemitismus ist demnach als eine der bürgerlichen Vergesellschaftung immanent entspringende „Logik, die strukturell Antisemitismus produzieren muss“ zu begreifen, da sie auf der Wert- und Warenform basiert. Weiter bildet Antisemitismus im Gegensatz zum Rassismus eine umfassende Welterklärung, die abstraktes Denken negiert und auf Konkretion und physische Vernichtung jüdischen Lebens drängt. Aufgrund dieser strukturellen Verortung ist Antisemitismus nicht nur in der politischen Rechten manifest, sondern ebenso in linken Kontexten, sowie der bürgerlichen Mitte verankert; darüber hinaus auch in islamischen Zusammenhängen.
Demokratisierungswellen und Gegenwellen
Innerhalb seiner globalen Perspektive fungiert 9/11 für Salzborn als „historische[r] Kristallisationspunkt“, der mit der Gefahr einer „antisemitischen Revolution“, die sich mit allerlei gegenaufklärerischen Bewegungen verbinden könne, einhergehe. Zentraler Angelpunkt bildet Samuel P. Huntingtons Clash of Civilizations. Dieser Rückgriff stellt jedoch einen kritischen dar, der zudem versucht, Huntington der deutschen Rezeption, die mit allerlei Essentialisierungen aufwarte, zu ‚entreißen‘ und einige seiner Grundpositionen wieder fruchtbar macht. Salzborn geht chronologisch von drei zentralen Demokratisierungswellen aus, auf die immer eine Gegenwelle folge. Demnach befinde man sich nach Nationalsozialismus und Antiimperialismus in einer dritten Gegenwelle, in der der islamische Antisemitismus das „Zentrum der dritten antisemitischen Revolution“ darstelle. Aus einer historisierenden Perspektive mag man dieser (Re-)Konstruktion Grobschlächtigkeit vorwerfen. Jedoch sind globalisierungstheoretische Annahmen notwendigerweise immer mit einer gewissen Ausblendung des Besonderen verbunden; zudem ist sich Salzborn dieses Problems bewusst und räumt ein, dass er diese Generalisierung als „analytische Deutung“ versteht, die „streitbar“ und nicht unfehlbar sei. Sie ist eher als Interpretationsangebot zu fassen. Den zeitgenössischen (gegenaufklärerischen) Bewegungen attestiert er, die Versprechen der „halbierten Aufklärung“ nicht auszuweiten – wie noch Feminismus, Antikolonialismus und Sozialismus – sondern Aufklärung in toto negieren zu wollen. Auch die Arabellion, die sich letztlich alles andere als aufklärerisch und freiheitsbefördernd herausgestellt habe, führt Salzborn beispielhaft an. Das Banner und die sie einigende Klammer sei allzu oft antisemitisches Denken und ein damit verbundener Hass auf die Dialektik von Freiheit und Gleichheit. Schon der Begründer der Politologie, Alexis de Tocqueville, machte diese Spannung von Freiheit und Gleichheit im 19. Jahrhundert als zentrales Charakteristikum moderner Vergesellschaftung aus. Analog zu Eric Hobsbawm (Das Gesicht des 21. Jahrhunderts) geht Salzborn davon aus, dass sich die gegenwärtigen Konflikte kaum noch als Kampf zwischen Staaten und Nationen fassen lassen, sondern zunehmend von informelleren Gruppen getragen werden, die sich „kollektivistisch und identitär gegen Zivilist(inn)en“ richteten. 9/11 sei damit nicht nur als Angriff auf die USA zu betrachten, sondern als antisemitischer „Anschlag auf die Aufklärung und die Moderne“.
Salzborn stellt zudem eine Problematik von Weltanschauung linker Provenienz heraus: Die im Anschluss an postkoloniale Theorie gebildeten Perspektiven und Bewegungen begriffen Emanzipation nicht mit, sondern ausschließlich gegen die Aufklärung, was dazu führe, dass politische Aktivisten mit Islamisten und Nazis zusammenarbeiten. Auch wenn er postmodernen Positionen eine anfänglich berechtigte Kritik und „emanzipatorische[n] Anspruch“ einräumt, moniert er die einseitige Verwerfung der Aufklärung und verdeutlicht dies an zentralen Vordenkern wie Edward Said und Judith Butler. In diesen Diskursen erkennt er zugleich das Fehlen von Sachargumenten und ‚echten‘ Diskussionen; vielmehr seien sie vom Auflösen des Politischen in Sprechortkategorien und Kulturalisierungen geprägt:

 „Man kann sowohl die brutalen Praktiken des Kolonialismus kritisieren und trotzdem gleichzeitig betonen, dass eine regressive Gemeinschaftsstruktur, wie sie nicht selten von den Opfern des Kolonialismus verfolgt wurde, keine Alternative zur Aufklärung sein kann.“

Zudem weist er den Begriff der „Islamophobie“ zurück, mit dem jedwede Kritik an Religion mit antimuslimischem Rassismus vermischt werde. Salzborn unterstreicht dagegen, dass eine Kritik an Religion „zweifelsfrei eine Spielart von Rassismus sein [kann], sie kann aber auch einer liberalen, einer feministischen, einer aufklärerischen Haltung folgen“. Auch die wohltuend nüchtern vorgetragenen kritischen Einlassungen bezüglich der BDS-Bewegung und der Delegitimierung des israelischen Staates durch antisemitische Denkmuster überzeugen. Jedoch hätten diese Themen durchaus mehr Raum verdient, berühren sie doch zentrale Debatten des zeitgenössisch-politischen Kontexts.
Die Notwendigkeit eines antimissionarischen Universalismus
Im letzten Teil widmet sich Salzborn psychoanalytischen Deutungen und erläutert Verdrängungsleistungen sowie Schuldabwehrantisemitismus und kritisiert das Fehlen konkreter Aufarbeitung der Vergangenheit im Sinne Theodor W. Adornos. Exemplarisch fungieren die Beschneidungsdebatte, allerhand projektive Vorwürfe gegenüber Israel sowie die Rede Martin Walsers von 1998, die Salzborn als Indikator dafür betrachtet, dass sich Unsagbares wieder sagen lässt. Gegen jede Form von Antisemitismus und den damit verbundenen Hass auf die „halbierte Aufklärung“ führt Salzborn ein Plädoyer für kritischen, antimissionarischen Universalismus ins Feld; der die Ambivalenz moderner Vergesellschaftung aushält und im Modus einer (aufklärerischen) Selbstkritik die „Omnipotenzphantasie“ und Inthronisierung menschlicher Hybris kritisch zu reflektieren in der Lage wäre. Es ist ein Denken, das kritisch, aber bestimmt an Moderne, Aufklärung und Rationalismus festhält, Demut vor menschlicher Sterblichkeit aufnimmt und antisemitisch-konkretistisches Fühlen bekämpfen kann. Carl Schmitt als historisches sowie Enzo Traverso als zeitgenössisches Beispiel dienen Salzborn hingegen als Spielarten politischen Denkens, die die Ambivalenz moderner Gesellschaft zugunsten eines Kulturrelativismus, dem, „egal, ob er sich antiimperialistisch, postkolonial, völkisch, identitär oder islamistisch nennt“, keinerlei Zugeständnis zu machen wäre.
Mit Salzborn gibt es also keine Alternative: die Dialektik der Aufklärung ist auszuhalten und kritisch zu reflektieren, anstatt „identitär, postmodern oder völkisch“ zu negieren. Im zeitgenössischen Kontext, in dem zunehmend politische Strömungen Auftrieb erhalten, die sich mal mehr, mal weniger antisemitischer Stereotype bedienen, kann Globaler Antisemitismus helfen, antisemitische Denkfiguren aufzuschlüsseln. Darüber hinaus wäre die Voraussetzung zur Bekämpfung – wie Joseph Schuster (Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland) es im Vorwort formuliert – das Problem nicht weiter zu negieren, sondern als Angriff auf die gesamte Gesellschaft zu begreifen. Trotz der strukturanalytischen Einbettung der Subjekte, ist Globaler Antisemitismus immer auch ein Plädoyer dafür, Antisemitismus mit Sartre bis zu einem gewissen Grad als „freie Wahl“ zu begreifen. Es besteht also die Möglichkeit, sich derartiger Denkmuster zu entledigen – freilich nicht immer, manchmal nur graduell. Denn, so endet Salzborn, wenn der „Antisemitismus“ erst „das Individuum“ vollständig „emotional erfasst“ habe und „zum leidenschaftlichen Weltbild geronnen“ sei, bleibe als letzte Option nur noch die Möglichkeit „radikale[r] Bekämpfung“. Im Sinne einer wehrhaften Demokratie ist Salzborn unbedingt zuzustimmen und das inkludiert repressive und militärische Maßnahmen gegen Antisemitismus.

von Mathias Beschorner

Diese Buchbesprechung ist zuerst in der Versorgerin #121 (März/2019) erschienen.
Salzborn, Samuel (2018): Globaler Antisemitismus. Eine Spurensuche in den Abgründen der Moderne. Mit einem Vorwort von Josef Schuster. Beltz Juventa, Weinheim, 257 Seiten, 24,95.
[1] Vgl. Postone, Moishe (1982): Nationalsozialismus und Antisemitismus. Ein theoretischer Versuch. In: Dan Diner (Hrsg.): Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz. Frankfurt am Main 1988.