Samuel Salzborns neues Buch Globaler Antisemitismus als Plädoyer für einen antimissionarischen Universalismus.
Der derzeitig am Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin als Gastprofessor arbeitende Politikwissenschaftler Samuel Salzborn gilt als einer der renommiertesten Experten zum Thema Antisemitismus. Sein neues Buch bietet eine strukturanalytische und weltgeschichtliche Perspektive, die einerseits pointiert den Stand der theoretischen Antisemitismusforschung widerspiegelt, andererseits schlüssig das Phänomen des Antisemitismus zu erhellen in der Lage ist. Er schafft dies anhand einer ideengeschichtlichen Verortung, die Konstanten, Variablen und Transformationsprozesse antisemitischen Denkens aufzeigt. Auf 257 Seiten und in drei Abschnitten gegliedert kann er den eigenen Anspruch – den Gegenstand vor allem theoretisierend zu durchdringen – einlösen.
Antisemitismus als Basisstruktur moderner Vergesellschaftung
Salzborn begreift Antisemitismus kaum einfach als rassistisches Vorurteil; dieser ist mehr aufgrund der „Halbierung der Aufklärung“ als maßgebliche Struktur moderner Vergesellschaftung zu fassen. Zwar begann sich die Aufklärung im Sinne einer „Entzauberung der Welt“ (Max Weber) vom göttlichen Allmachtsanspruch zu lösen, sie inthronisierte jedoch einen neuen Glauben an Wissenschaft und eine Hybris des Menschen, die zu neuem Ausschluss und szientistischem Rasseglauben führte. Damit lehnt sich Salzborn an die kritische Theorie, insbesondere die Dialektik der Aufklärung, sowie die auf der Marxschen Fetischkritik basierende AS-Theorie Moishe Postones an.[1] Antisemitismus ist demnach als eine der bürgerlichen Vergesellschaftung immanent entspringende „Logik, die strukturell Antisemitismus produzieren muss“ zu begreifen, da sie auf der Wert- und Warenform basiert. Weiter bildet Antisemitismus im Gegensatz zum Rassismus eine umfassende Welterklärung, die abstraktes Denken negiert und auf Konkretion und physische Vernichtung jüdischen Lebens drängt. Aufgrund dieser strukturellen Verortung ist Antisemitismus nicht nur in der politischen Rechten manifest, sondern ebenso in linken Kontexten, sowie der bürgerlichen Mitte verankert; darüber hinaus auch in islamischen Zusammenhängen.
Demokratisierungswellen und Gegenwellen
Innerhalb seiner globalen Perspektive fungiert 9/11 für Salzborn als „historische[r] Kristallisationspunkt“, der mit der Gefahr einer „antisemitischen Revolution“, die sich mit allerlei gegenaufklärerischen Bewegungen verbinden könne, einhergehe. Zentraler Angelpunkt bildet Samuel P. Huntingtons Clash of Civilizations. Dieser Rückgriff stellt jedoch einen kritischen dar, der zudem versucht, Huntington der deutschen Rezeption, die mit allerlei Essentialisierungen aufwarte, zu ‚entreißen‘ und einige seiner Grundpositionen wieder fruchtbar macht. Salzborn geht chronologisch von drei zentralen Demokratisierungswellen aus, auf die immer eine Gegenwelle folge. Demnach befinde man sich nach Nationalsozialismus und Antiimperialismus in einer dritten Gegenwelle, in der der islamische Antisemitismus das „Zentrum der dritten antisemitischen Revolution“ darstelle. Aus einer historisierenden Perspektive mag man dieser (Re-)Konstruktion Grobschlächtigkeit vorwerfen. Jedoch sind globalisierungstheoretische Annahmen notwendigerweise immer mit einer gewissen Ausblendung des Besonderen verbunden; zudem ist sich Salzborn dieses Problems bewusst und räumt ein, dass er diese Generalisierung als „analytische Deutung“ versteht, die „streitbar“ und nicht unfehlbar sei. Sie ist eher als Interpretationsangebot zu fassen. Den zeitgenössischen (gegenaufklärerischen) Bewegungen attestiert er, die Versprechen der „halbierten Aufklärung“ nicht auszuweiten – wie noch Feminismus, Antikolonialismus und Sozialismus – sondern Aufklärung in toto negieren zu wollen. Auch die Arabellion, die sich letztlich alles andere als aufklärerisch und freiheitsbefördernd herausgestellt habe, führt Salzborn beispielhaft an. Das Banner und die sie einigende Klammer sei allzu oft antisemitisches Denken und ein damit verbundener Hass auf die Dialektik von Freiheit und Gleichheit. Schon der Begründer der Politologie, Alexis de Tocqueville, machte diese Spannung von Freiheit und Gleichheit im 19. Jahrhundert als zentrales Charakteristikum moderner Vergesellschaftung aus. Analog zu Eric Hobsbawm (Das Gesicht des 21. Jahrhunderts) geht Salzborn davon aus, dass sich die gegenwärtigen Konflikte kaum noch als Kampf zwischen Staaten und Nationen fassen lassen, sondern zunehmend von informelleren Gruppen getragen werden, die sich „kollektivistisch und identitär gegen Zivilist(inn)en“ richteten. 9/11 sei damit nicht nur als Angriff auf die USA zu betrachten, sondern als antisemitischer „Anschlag auf die Aufklärung und die Moderne“.
Salzborn stellt zudem eine Problematik von Weltanschauung linker Provenienz heraus: Die im Anschluss an postkoloniale Theorie gebildeten Perspektiven und Bewegungen begriffen Emanzipation nicht mit, sondern ausschließlich gegen die Aufklärung, was dazu führe, dass politische Aktivisten mit Islamisten und Nazis zusammenarbeiten. Auch wenn er postmodernen Positionen eine anfänglich berechtigte Kritik und „emanzipatorische[n] Anspruch“ einräumt, moniert er die einseitige Verwerfung der Aufklärung und verdeutlicht dies an zentralen Vordenkern wie Edward Said und Judith Butler. In diesen Diskursen erkennt er zugleich das Fehlen von Sachargumenten und ‚echten‘ Diskussionen; vielmehr seien sie vom Auflösen des Politischen in Sprechortkategorien und Kulturalisierungen geprägt:
„Man kann sowohl die brutalen Praktiken des Kolonialismus kritisieren und trotzdem gleichzeitig betonen, dass eine regressive Gemeinschaftsstruktur, wie sie nicht selten von den Opfern des Kolonialismus verfolgt wurde, keine Alternative zur Aufklärung sein kann.“
Zudem weist er den Begriff der „Islamophobie“ zurück, mit dem jedwede Kritik an Religion mit antimuslimischem Rassismus vermischt werde. Salzborn unterstreicht dagegen, dass eine Kritik an Religion „zweifelsfrei eine Spielart von Rassismus sein [kann], sie kann aber auch einer liberalen, einer feministischen, einer aufklärerischen Haltung folgen“. Auch die wohltuend nüchtern vorgetragenen kritischen Einlassungen bezüglich der BDS-Bewegung und der Delegitimierung des israelischen Staates durch antisemitische Denkmuster überzeugen. Jedoch hätten diese Themen durchaus mehr Raum verdient, berühren sie doch zentrale Debatten des zeitgenössisch-politischen Kontexts.
Die Notwendigkeit eines antimissionarischen Universalismus
Im letzten Teil widmet sich Salzborn psychoanalytischen Deutungen und erläutert Verdrängungsleistungen sowie Schuldabwehrantisemitismus und kritisiert das Fehlen konkreter Aufarbeitung der Vergangenheit im Sinne Theodor W. Adornos. Exemplarisch fungieren die Beschneidungsdebatte, allerhand projektive Vorwürfe gegenüber Israel sowie die Rede Martin Walsers von 1998, die Salzborn als Indikator dafür betrachtet, dass sich Unsagbares wieder sagen lässt. Gegen jede Form von Antisemitismus und den damit verbundenen Hass auf die „halbierte Aufklärung“ führt Salzborn ein Plädoyer für kritischen, antimissionarischen Universalismus ins Feld; der die Ambivalenz moderner Vergesellschaftung aushält und im Modus einer (aufklärerischen) Selbstkritik die „Omnipotenzphantasie“ und Inthronisierung menschlicher Hybris kritisch zu reflektieren in der Lage wäre. Es ist ein Denken, das kritisch, aber bestimmt an Moderne, Aufklärung und Rationalismus festhält, Demut vor menschlicher Sterblichkeit aufnimmt und antisemitisch-konkretistisches Fühlen bekämpfen kann. Carl Schmitt als historisches sowie Enzo Traverso als zeitgenössisches Beispiel dienen Salzborn hingegen als Spielarten politischen Denkens, die die Ambivalenz moderner Gesellschaft zugunsten eines Kulturrelativismus, dem, „egal, ob er sich antiimperialistisch, postkolonial, völkisch, identitär oder islamistisch nennt“, keinerlei Zugeständnis zu machen wäre.
Mit Salzborn gibt es also keine Alternative: die Dialektik der Aufklärung ist auszuhalten und kritisch zu reflektieren, anstatt „identitär, postmodern oder völkisch“ zu negieren. Im zeitgenössischen Kontext, in dem zunehmend politische Strömungen Auftrieb erhalten, die sich mal mehr, mal weniger antisemitischer Stereotype bedienen, kann Globaler Antisemitismus helfen, antisemitische Denkfiguren aufzuschlüsseln. Darüber hinaus wäre die Voraussetzung zur Bekämpfung – wie Joseph Schuster (Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland) es im Vorwort formuliert – das Problem nicht weiter zu negieren, sondern als Angriff auf die gesamte Gesellschaft zu begreifen. Trotz der strukturanalytischen Einbettung der Subjekte, ist Globaler Antisemitismus immer auch ein Plädoyer dafür, Antisemitismus mit Sartre bis zu einem gewissen Grad als „freie Wahl“ zu begreifen. Es besteht also die Möglichkeit, sich derartiger Denkmuster zu entledigen – freilich nicht immer, manchmal nur graduell. Denn, so endet Salzborn, wenn der „Antisemitismus“ erst „das Individuum“ vollständig „emotional erfasst“ habe und „zum leidenschaftlichen Weltbild geronnen“ sei, bleibe als letzte Option nur noch die Möglichkeit „radikale[r] Bekämpfung“. Im Sinne einer wehrhaften Demokratie ist Salzborn unbedingt zuzustimmen und das inkludiert repressive und militärische Maßnahmen gegen Antisemitismus.
von Mathias Beschorner
Diese Buchbesprechung ist zuerst in der Versorgerin #121 (März/2019) erschienen.
Salzborn, Samuel (2018): Globaler Antisemitismus. Eine Spurensuche in den Abgründen der Moderne. Mit einem Vorwort von Josef Schuster. Beltz Juventa, Weinheim, 257 Seiten, 24,95.
[1] Vgl. Postone, Moishe (1982): Nationalsozialismus und Antisemitismus. Ein theoretischer Versuch. In: Dan Diner (Hrsg.): Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz. Frankfurt am Main 1988.