Stay woke?

Bastian Bredtmann

In seinem Buch »After Woke« nimmt Jens Balzer das Selbstbild der »woken« Linken beim Wort. Warum, fragt er, zeigt sich ausgerechnet das intellektuelle Milieu, das sich unter der Fahne des Progressiven versammelt, seit dem 7. Oktober so empfänglich für regressive Denkmuster?

Der Evergreen, die Trumpfkarte, die oft – vielleicht sehr oft – ausgespielt wird, heißt Antizionismus. Dieser exklusiv linke Beitrag zur Gegenaufklärung vollbringt – häufig beschrieben und analysiert – nicht bloß das intellektuelle Kunststück, nicht mehr so genau sagen zu müssen, was man meint, und aggressiv zu meinen, was offiziell tabu ist, sondern er verpasst dem Ressentiment geradezu das Antlitz der gerechten Sache. Dass sich ein großer Teil der mittlerweile alt gewordenen Neuen Linken einst anschickte, unterm humanistischen Banner, ganz ehrbar und mit allerhand Groß- und Sehnsuchtsbegriffen ausgestattet, das Geschäft ihrer Widersacher zu übernehmen, hat Jean Améry bereits in den Siebzigern rauf- und runterbuchstabiert. Im Antizionismus der Genoss:innen sah Améry damals nicht weniger als eine aktualisierte, mit hochgeistigem Make-up versehene Version des alten, des »Spießer-Antisemitismus«, wie er es nannte. Jenen Linken, die das Existenzrecht des unwahrscheinlichen Staates infrage stellten, attestierte er: Sie seien entweder zu dumm, um einzusehen, dass sie an einer Art »Über-Auschwitz« mitwirkten. Oder sie täten dies ganz bewusst. Entsetzt, fast schon beschwörend rief er ihnen hinterher: »Es kann nicht, darf nicht sein, dass die Nachfahren der Heine und Börne, der Marx und Rosa Luxemburg, Erich Mühsam, Gustav Landauer es sind, die den ehrbaren Antisemitismus verbreiten.«

Die Linke, die heute den Ton angibt – unüberhörbar jedenfalls in Akademia, im Kunst- und Kulturbetrieb, in der Clubkultur, nicht zuletzt auf der Straße – hat, so scheint’s, bloß ihre Hausgötter ausgetauscht. Ansonsten macht sie dort weiter, wo Améry schon kaum noch Gehör fand, nur diesmal nicht mehr antiimperialistisch verkleidet, sondern im Sound postmoderner Theorie. Was bleibt: die Kufiya als fashion item Nummer eins und ein antizionistisches Weltbild, das offenbar derart verpanzert und abgehärtet ist, dass nicht einmal der 7. Oktober es auch nur ein klitzekleines bisschen ins Wanken bringt. Im Gegenteil, schon kurz nachdem dieses Verbrechen gegen die Menschheit bekannt wurde, waren da bereits: Hohn, Verherrlichung, Furor. So einige Stars am Szenehimmel hielten mit ihrer Begeisterung nicht hinterm Berg. Ob da wieder mal heftig Werk und Autor:in getrennt werden muss? Den einen erscheint das Grauen als Befreiungskampf, die anderen sehen es im Kontext und deshalb gar nicht mehr. Man protestiert, besetzt, zertrümmert und boykottiert, was das Zeug hält. Und ist so beschäftigt damit, den Genozid zu beweisen und Revolution zu simulieren, dass man gar nicht mitbekommen hat, dass die Menschen in Gaza, derentwillen man das ganze Tamtam doch vorgeblich veranstaltet, mittlerweile zu Hunderten, vielleicht Tausenden der Hamas die Pest an den Hals wünschen.

Für Jens Balzer dagegen war der 7. Oktober eine Zäsur, eine Erschütterung. Er fragt: »Wie kann es sein, dass jemand, der sich selbst als Protagonistin der politischen Emanzipation versteht, keinerlei Mitgefühl mit den Opfern eines Massakers hat? Und – als wäre es damit noch nicht genug – dabei auch noch eine Gruppe von Terrorist:innen als Protagonist:innen eines ›revolutionären Kampfs‹ idolisiert, die ein zutiefst patriarchales, misogynes, homo- und transfeindliches Weltbild pflegt?«

Die Rede ist von der »woken«, der postkolonialen, queerfeministischen, identitätspolitischen Linken. Ihr bescheinigt Jens Balzer einen »moralischen Bankrott« angesichts dessen, was sich seit dem 7. Oktober Bahn bricht. Was aber tun, wenn das Unternehmen »Woke« moralisch pleite ist? Die Insolvenzverschleppung anprangern, Schnäppchen aus der Konkursmasse schlagen? Oder gleich alles entsorgen? So einfach und undialektisch will es sich Jens Balzer nicht machen. Das utopische Denken lässt er sich nicht abmarkten. »After Woke«, so der Titel seines furiosen Essays, ist nicht der soundsovielte Aufguss wohlfeilen Woke-Bashings, kein intellektuelles Schattenboxen, das, meist schlecht verkleidet, den neurechten Kulturkampf munitioniert. Wenn Balzer dagegen, wie er schreibt: »die Wokeness gegen die Wokeness« zu denken versucht, sie also beim Wort nimmt, ist das Kritik durchaus im buchstäblichen Sinn. Er unterscheidet. Und er versucht, den Kerngedanken jener Bewegung zu verteidigen – nicht bloß gegen das Triumphgeschrei von rechts, sondern auch gegen ihre heutigen Lautsprecher auf der linken Seite.

Da ist zum einen das Anliegen der Emanzipation. Ein, wie Balzer bemerkt, zutiefst demokratisches Ideal: dass nämlich Menschen mit unterschiedlichen Biografien gleichermaßen gehört und gesehen werden. Insofern ist es kein Zufall, dass die schrillsten – nun ja – Kritiker der sogenannten Wokeness Trump, Putin, Orbán oder Krah heißen. Im trumpistischen Amerika kann man aktuell beobachten, was es bedeutet, wenn die Grundlagen einer mehr oder weniger liberalen Gesellschaft um- und abgebaut werden: Gleichschaltung statt Gleichstellung. Und auch – zum Beispiel – die CSU setzt voll auf den Anti-woke-Trend, wenn sie in ihrem Grundsatzprogramm die bayerische Lebensart – was auch immer das genau sein soll – als Gegensatz zum vermeintlich woken Zeitgeist beschwört. Zum anderen ist da der krasse Widerspruch: dass die Awareness jener Leute offenbar dort endet, wo es Jüdinnen und Juden an den Kragen geht. Dass Leute, die sonst feinfühlig wie gekonnt noch den unscheinbarsten Mikroaggressionen nachspüren, in Raserei verfallen, wenn’s um Israel geht. Die sich in safer spaces empowern, aber den Schutzraum Israel from the river to the sea verschwinden lassen wollen. Schließlich, schreibt Balzer: »Schließlich muss man sich angesichts der aktuellen Entwicklungen tatsächlich fragen, was schiefgelaufen ist in einem intellektuellen Milieu, das sich seit dem 7. Oktober in antisemitischen Stereotypen und in einem manichäischen Weltbild verrennt.«

»After Woke« beantwortet diese Frage im Modus einer »dialektischen Reformulierung« des intellektuell an die Wand gefahrenen Projekts. Heißt: Die Streitschrift will hinter die Gegenwart zurück zu den anfänglichen Impulsen. Dabei im Mittelpunkt: der Verfall des postkolonialen Denkens. Das ist einst angetreten, schreibt Balzer, um die Welt der vielen zu ermöglichen, das koloniale Erbe des Westens auf die Tagesordnung zu setzen, die Kolonialgeschichte aufzuarbeiten und die eine oder andere Korrektur in der Geschichtsschreibung – Geschichte wird, man weiß es, von den Siegern geschrieben – vorzunehmen. Übrig geblieben davon ist kaum mehr als das akademische Modewörtchen »post« und das Wort Kolonialismus. Und dieses wird, reichlich enthistorisiert und abgelöst von realen Ereignissen und Konflikten, auf alles Mögliche draufgeklebt wie eine Schablone, vor allem auf den sogenannten Nahostkonflikt, die Projektionsfläche dieser Tage schlechthin.

Anschaulich und mit Verve geschrieben, zeigt Balzer, wie sich der Postkolonialismus in ein »Wahrheitsregime« und dadurch in eine »quasi-religiöse Praxis« transformiert. Was nach Balzer eine recht verstandene Wokeness ausmacht – man könnte das auch einfach ein offenes Denken nennen –, ist hier nicht mehr anzutreffen. Stattdessen verschließt und verhärtet sich alles zum Standpunkt, von dem aus man, unverrückbar, aber schon ein bisschen verrückt, die Menschen entlang eines groben Freund-Feind-Schemas klassifiziert und die darin aufgespannte Weltpolitik überblickt. Das Wahrheitsregime kennt nur noch Gut und Böse, Unschuldig und Schuldig, Unterdrückte und Unterdrücker, Schwarz und Weiß. Seine Anhänger:innen entscheiden, wer zu den »Priester:innen« gehören darf und wer zu den »Büßer:innen« gehören muss. Herauszutreten aus dieser vorgefertigten Wahl, was man Kritik nennen könnte, ist nicht vorgesehen. Die bereits festgelegten Weltbilder müssen nur noch passend ausgemalt werden. Und Schwarz-Weiß-Denken ist wörtlich gemeint. Balzer: »Im postkolonialen Wahrheitsregime, in dem Menschen strikt ›along the color line‹ in Schwarz und Weiß eingeteilt werden, werden jüdische Menschen als privilegierte weiße Menschen betrachtet und damit auf die Seite der Unterdrücker und Kolonialisten gestellt – worin sich übrigens auch ein alter Standard der antisemitischen Ideologie zeigt, denn dieser galten ›die Juden‹ ja schon immer als jenes Volk, das mit geheimen oder offensichtlichen Privilegien die Geschicke der Welt leitet.« »Stay woke« kann hier nur noch heißen, auf der richtigen Seite zu stehen, wobei es keinen Ausweg gibt, wenn man das Pech hatte, sich auf der falschen zu befinden; allenfalls noch die abzulegende Beichte der Gesinnung bleibt in diesem Fall übrig.

In einem kleinen Abstecher in die Begriffsgeschichte erinnert Balzer daran, dass die Formel »stay woke« seit bald 90 Jahren in unterschiedlichen Richtungen kursiert. Erstmals verwendet wurde sie Ende der Dreißigerjahre in einem Blues-Song von Leadbelly; hier noch nicht als politisches Programm verstanden, sondern als Warnung an Schwarze, einen großen Bogen um Alabama zu machen. Die »Scottsboro Boys«, wie der Titel des Songs lautet, könnten schließlich ein Lied von der rassistischen Verfolgung singen, die dort drohe. Auch in jüngerer Zeit, etwa in Erykah Badus Song »Master Teacher«, geht es darum, wachsam zu bleiben gegenüber den Gefahren der rassistisch geprägten Gesellschaft. Es geht ihr jedoch nicht nur um die eigene Diskriminierungserfahrung, sondern auch darum, die Diskriminierung anderer wahrzunehmen – eine Fähigkeit zur Selbstreflexion, die auf dem Höhepunkt der woken Bewegung, den Black-Lives-Matter-Protesten, vollkommen abhandengekommen ist.

Black Lives Matter: Das war, so Balzer, einerseits ein eindrucksvolles Statement gegen den Würgegriff des Rassismus. Andererseits: des Antisemitismus voll. Was dort im antizionistischen Jargon zu hören war, drängte zur Praxis. In Los Angeles etwa wurden jüdische Geschäfte geplündert und die Statue von Raoul Wallenberg geschändet. Und nicht wenige aus der Bewegung waren nach dem 7. Oktober auch ganz aus dem Häuschen. Gegenstimmen? Fehlanzeige. Es nimmt kaum wunder, dass Theoretiker wie Henry Louis Gates Jr., Paul Gilroy und Stuart Hall – Balzers Gewährsleute, aus deren Arbeiten er ausgiebig zitiert – heute weniger zum postkolonialen Kanon gehören. Bei ihnen reimte sich Postkolonialismus noch nicht auf Antisemitismus. Die antizionistische Schlagseite der Bürgerrechtsbewegung war für sie kein Blindfleck. Die Ressentiments auch unter den Verdammten dieser Erde waren ihnen bewusst. Und vor allem war diesen Theorien noch bewusst, dass man den Zumutungen der Gegenwart nicht durch die Flucht in die Vergangenheit entkommt.

Dass der Ursprung verstellt bleibt, diese Erfahrung der Diaspora als Folge des europäischen Kolonialismus und Imperialismus, galt einmal als ausgemacht. »Identität« wurde als etwas Offenes, Zukünftiges gedacht. Das aber, zeigt Balzer, wurde abgelöst durch den Kult und die Faszination vom Ursprünglichen und Authentischen, nicht selten romantisch verklärt und symbolisch überhöht. Hochkonjunktur hat das sogenannte Indigene. Sie definieren sich wieder über Identitäten, sie re-essenzialisieren alles. Und die Befreiung der Welt, sie wird erhofft im Vormodernen, irgendwo vor der Zivilisation. Das Schablonen-Denken hat’s ihnen dabei wahrlich angetan. Es ist nicht nur das reichlich simple Schwarz-Weiß-Denken – Juden sind in dieser abenteuerlichen Vorstellung »die Weißen« (und schon deshalb schuldig) und Palästinenser »die Schwarzen« –, sondern das Schema erweitert sich um den alles entscheidenden Gegensatz: modern versus ursprünglich. Und dieser Gegensatz wird fast schon eschatologisch aufgeladen: Als würde gerade die letzte große Schlacht zwischen dem Globalen Süden und Norden stattfinden. Hier die zweckrationale, kalte, entfremdete Zivilisation. Dort die warme, ehrliche, einfache, selbstbestimmte Ursprünglichkeit. Hier edle Wilde, dort böse Imperialisten und Kolonialistinnen. Und was einem noch so einfällt, Siedler vielleicht. Was auch immer geht: Eliten.

Wollte man nicht, wie Balzer bemerkt, die »Feier der Vielheit, des kulturellen Patchworks und der unendlichen Rekombinationen«? Und jetzt landet man doch wieder bei der Identität, der Scholle, letztlich: dem völkischen Denken. Damit reiht sich die Linke freilich in eine allgemeine Tendenz der Nostalgie ein. Wo die Gegenwart zu komplex erscheint, sehnt man sich offenbar nach vermeintlich einfacheren Zeiten, nach dem warmen und wohligen Gefühl der Tradition. Der Spleen mit der Herkunft und die Fantasie einer geschlossenen Kultur sind dabei gewiss nicht die einzigen Übereinstimmungen mit der Neuen Rechten. Am deutlichsten ist wohl die Parole »Free Palestine from German Guilt«, die ihr Echo hat im »Schuldkult« und der »erinnerungspolitischen Wende um 180 Grad«. Und da spuken, fast möchte man sagen: natürlich, noch allerhand Gespenster und recycelte Mythen herum – vom ausgedachten Palästinenserkollektiv, das die eigene Entlastung garantiert und zugleich als ausgelagertes revolutionäres Subjekt herhalten muss, bis zur Täter-Opfer-Umkehr.

Was Balzer macht, erinnert aus der Ferne ein wenig an ein anderes, aber dann doch ähnliches Vorgehen. In den Zwanzigerjahren des vorigen Jahrhunderts – der Marxismus muss ziemlich im Eimer gewesen sein damals – haben undogmatische Marxisten wie Georg Lukács und Karl Korsch nicht weniger unternommen, als den vorherrschenden Materialismus gegen sich selbst zu lesen und auf sich selbst anzuwenden. Am Ende dieser Selbstkritik stand immerhin eine linke Gesellschaftstheorie, die die Erfahrung der Barbarei bis ins Innerste der eigenen Theoriebildung aufgenommen hat. Ob sich wenigstens verwirrte Wokies noch mal berappeln und zur Besinnung durchringen können?

Vielleicht, aber nur vielleicht hätte es auch anders kommen können. Zumindest eine Irritation, ein Innehalten wäre denkbar gewesen, meint Balzer, und der 7. Oktober hätte zur Selbstkritik drängen können. Man hätte auf die Idee kommen können, dass da irgendwas nicht stimmen kann. Mit der eigenen Sicht, den theoretischen Voraussetzungen und dem hypermoralischen Standpunkt, von dem aus die Welt in unten und oben aufgeteilt wird. Man hätte bemerken können, dass die Romantisierung ausgerechnet des politischen Islams, mit der im Vorbeigehen das Geschlechterverhältnis wieder zum bloßen Nebenwiderspruch zusammengestampft wird, nur immer weiter in den Verblendungszusammenhang hineinführt. Man hätte zumindest erahnen können, dass man den ehrbaren Antisemitismus der Siebzigerjahre unter anderen Vorzeichen nur immer weitertreibt. Man hätte die Irritation und Verunsicherung zulassen können, wie sehr man im Widerspruch mit sich selbst ist. Wer A sagt, muss schließlich nicht B sagen, sondern könnte auch … – aber das mag Balzer dann selbst nicht so recht glauben. Und solche Überlegungen werden ohnehin schnell von der Wirklichkeit überholt. Die Pro-Palästina-Linke ist längst eine Pro-Hamas-Bewegung geworden – vielleicht war sie das immer schon –, die sich ihre Parolen, ihre Symbole und Codes, ja ihren ganzen Aktionismus von der Terrororganisation vorgeben lässt. Hier sind längst alle Begriffe und Kategorien durcheinandergewirbelt, und selbst die banalsten und einfachsten Dinge, die mit einigem Recht mal »links« genannt wurden, scheinen nicht mehr zu gelten.

Weil Balzer aber zu einem positiven Begriff von »woke« gelangen will bzw. dessen »positiv-emanzipatorischen Kern« nicht aufgeben mag, verlässt er die immanente Kritik für einen Moment. Und greift im Bücherregal in eine ganz andere Ecke: zu Jürgen Habermas. Der hat, nachdem er sich seiner materialistischen Vorläufer erfolgreich entledigt hatte, mit »Diskursethik« Karriere gemacht. Diese habe, so zitiert ihn Balzer, jene Themen in sich aufgenommen, die einmal ihren Ort in der Marx’schen Revolutionstheorie hatten. So, mit Habermas, schreibt Balzer, könne Wokeness als ein Verfahren gedacht werden, das ein Gegenentwurf sein könne zur identitären Rechten, die sich weltweit gerade dranmacht, alles zu übernehmen. Eindrucksvoll zeigt Balzer, wo das postkoloniale Denken falsch abbiegt und wie sich die Linke der Rechten ähnlich macht. Nur ist die Ausfahrt, die Balzer zu nehmen vorschlägt, mit einigen Fallstricken verbunden. Die alte Frage, warum die Menschheit in Barbarei versinke, schiebt Habermas, und zwar konstitutiv für seine Theorie, souverän beiseite. Antisemitismus aber, ob er nun von links kommt, aus der sogenannten Mitte oder von rechts außen, ist nicht Kraft des besseren Arguments via herrschaftsfreien Diskurs aus der Welt zu schaffen. Das weiß Balzer natürlich auch. Wenn aber Antisemitismus aus der antisemitischen Gesellschaft zu erklären ist, dann kommt man mit Habermas nicht viel weiter. Vielleicht wäre, statt auf Habermas zu setzen, ans Motto der Gesellschaftstheorie zu erinnern: nicht einen richtigen Zustand auspinseln – da kommt meist eh nur die schlechte Kopie des Bestehenden raus –, sondern den falschen erkennen und präzisieren. Zumal – mit Adorno gesprochen – die Erkenntnis des Falschen bereits Index eines möglichen Besseren ist. Und das sollte gewiss weder ein waches Auge für Diskriminierungen aller Art ausschließen noch die Bereitschaft, auch eigene Vorurteile zu überprüfen.

Jens Balzer, »After Woke«, Matthes & Seitz Berlin 2024, 105 Seiten, 12 Euro

Neue, alte Normalität 

Eine linke Position zur Coronapandemie jenseits Virusverharmlosung und wohlfeiler Maßnahmen-Schelte: Grünen-Mitgründer Thomas Ebermann denunziert die Normalität der Gesellschaft unter Bedingungen der Pandemie. 

Das dritte Jahr der Pandemie zählt einerseits bis jetzt rund 138.000 Tote – weltweit über 6,2 Millionen exklusive Dunkelziffer der Elendsregionen –, unzählige Schwererkrankte und sogenannte Normalverläufe. Andererseits: Gelassenheit, Zuversicht und Entwarnungen – und stets das Mantra, man müsse nun mal mit dem Virus leben. Die Rückkehr zur Normalität – das Glücksversprechen pandemischer Zeiten – wurde, mal mit Mut, mal mit Sehnsucht garniert, geradezu allgegenwärtig beschworen. In der nunmehr fünften Coronawelle wurden zwar bis vor Kurzem beinahe täglich neue Infektionsrekorde vermeldet, Stimmen aber, die schärfere Maßnahmen forderten, sucht man inzwischen vergebens. So hat ein namhafter Virologe schon mal realitätsgerecht zu Protokoll gegeben, dass man in Zukunft die Diskussion wird führen müssen, »wie viele Coronatote pro Winter wir uns erlauben wollen«. Aber normal.  
Für den Dramaturgen und Publizisten Thomas Ebermann dagegen reimt sich Normalität keineswegs auf Glück, sondern auf entfremdete Arbeit und falsche Bedürfnisse. Er hat ein im Wortsinne radikales Buch zum Thema vorgelegt, das nur vordergründig eine Polemik gegen jegliche Verharmlosung der potenziell tödlichen Krankheit darstellt. Im Kern verhandelt die Schrift, wie das Ausnahmegeschehen von der Normalität der verwalteten Welt strukturiert wird, und wie wiederum die Ausnahmesituation jene Normalität verklären lässt. Vermessen wird nicht der Widerspruch von Anspruch und Umsetzung der Pandemiepolitik. Deren Anspruch und Ideal selbst stehen hier zur Kritik.

Pandemie als gesellschaftlich produzierte Naturkatastrophe 

Die Kritik? Das ist die an Marx geschulte, materialistisch ihrem Sinn nach, die danach trachtet, den Verhältnissen ihre eigene Melodie vorzuspielen. Ausgangspunkt von Ebermanns Analyse ist die Art und Weise gesellschaftlichen Produzierens. Mit scharfem Blick wird die sogenannte Normalität mit all ihren Zumutungen thematisiert. Und damit auch mögliche Ursachen der Pandemie. Diese, ist sich Ebermann mit dem politischen Virologen Rob Wallace einig, sind nicht abzutrennen von der fortschreitenden Naturbeherrschung und intensiven Landwirtschaft. Deutlichen Widerspruch erfährt der Talkshow-Dauerbrenner, die Pandemie sei eine Naturkatastrophe. 
Was, wenn die Pandemie nicht, wie landläufig behauptet, quasi schicksalhaft über die Menschheit gekommen ist, sondern ihren Ursprung letztlich in Produktion und Konsum hat? Wenn man sie also, analog zum Klimawandel, als etwas Menschengemachtes – Ebermann übersetzt: »von der kapitalistischen Produktionsweise Erzeugtes« – zu begreifen hat? Impliziert Normalität selbst die Katastrophe, wird man die gerufenen Geister freilich nicht so einfach wieder los. Und noch der beste Katastrophenplan, bemerkt Ebermann, hat dann etwas vom Kampf gegen Windmühlen. 
Ebermann weiß um und reflektiert die relative Wirkungslosigkeit dieser Position. Das ist sympathisch, bedenkt man, wie kraftmeierisch manch Publikation daherkommt, die ihre eigene Ohnmacht und Schwäche nicht selten mit ordentlich Tamtam zu kompensieren sucht. Wahrheitsgehalt ist für Ebermann das entscheidende Kriterium, nicht die Reichweite. Wer die Flaschenpost entkorkt, erfährt allerhand Wissenswertes in Sachen Gesellschaftstheorie. Reflexionen über die instrumentelle Vernunft des Spätkapitalismus etwa oder Überlegungen zur Ideologie und Verharmlosung des Todes, zur Kritik der Bedürfnisse, Gedanken über die historische Transformation von äußerem Zwang in Selbstzwang sowie Lehrreiches über das »Pathogene im Normalen«. Dabei sind Theodor W. Adorno und Herbert Marcuse gewiss nicht die schlechtesten Zitatgeber. 

Akzeptierte Opfer der Pandemie 

Seine »systemirrelevanten Betrachtungen« lesen sich wie eine theoretisch fundierte Kritik im Handgemenge der Pandemie und ihrer Verarbeitungsdiskurse. Skizziert wird ein Vorgang der »verordneten Schizophrenie«. Der private Bereich wurde eingeschränkt, während man die Welt der Lohnarbeit aufrechterhielt. Im Privaten sollte man vorsichtig sein und die Kontakte zählen und – wohl oder übel – risikobereit auf dem Weg zur Arbeit und im Büro, der Werkshalle oder Fabrik. Während Restriktionen das öffentliche Leben einschränkten – damit das zuvor unter Normalbetrieb kaputtgesparte Gesundheitssystem nicht kollabiert –, blieb die Wirtschaft beinahe unangetastet. 
So starben Menschen, die nicht hätten sterben müssen. Ebermann spricht in diesem Zusammenhang von einer »kontrollierten Durchseuchung«, von einer Gleichzeitigkeit von »Durchseuchung und Immunisierung durch Impfung«. Dieser »unauflösliche Zusammenhang von Lebensrettung und seiner Opferung« nehme Opfer billigend in Kauf. Opferbereitschaft werde eingefordert und das »Sterbenlassen« als Preis der Freiheit und des Wohlstands legitimiert. Für ihn zeichnet sich hier eine sozialdarwinistische Tendenz ab, die sich in Pandemiezeiten noch verstärkt – eine Gleichgültigkeit gegenüber den Opfern der Pandemie, die er als Fortführung einer allgemeinen Gleichgültigkeit deutet. 

Der Staat als Pandemiebekämpfer 

Hat der Staat also angesichts der vielen Toten versagt? Ist er womöglich eingeknickt vor »Querdenkern« oder Lockerungsdebatte? »Diskurs und faktische Lockerungen waren keineswegs nur Reflex auf Hygienedemos und ihr Potenzial«, lautet Ebermanns These, »sondern sie spiegeln kapitalistische Notwendigkeiten und sind Teil einer neuen Balance zwischen den Anforderungen der Wirtschaft und den zu akzeptierenden Opfern.« 
Ebermann erinnert daran, dass der Staat in der Pandemie vor allem eines tut – er funktioniert seinen Kernaufgaben entsprechend. Weder war ein Mangel an Arbeitskraft zu beklagen – es konnte also durchgehend produziert werden – noch mussten die für die Weltmarktkonkurrenz relevanten Bereiche stillgelegt werden. Die Akkumulation, auf deren Gelingen der Staat angewiesen ist, wurde in der Balance zwischen Lockerung und Lockdown nicht beschädigt. 
Das ist das Einmaleins materialistischer Staatskritik auf die Pandemie angewandt. Der moderne Staat ist demnach weder bloßes Herrschaftsinstrument noch neutrale Instanz. Er fungiere vielmehr als eine Art »ideeller Gesamtkapitalist«, der den Rahmen setze, Interessen ausgleiche und das Funktionieren des Ganzen zu gewährleisten habe. Zu betonen, dass der Staat in der Pandemie bestens funktioniere, seinen Aufgaben also gerecht werde, wiegt freilich ungleich schwerer als das Vorrechnen seiner organisatorischen Fehler und Versäumnisse. Der Zusammenbruch des Gesundheitssystems wird vermieden und das Sterben in geordneten Bahnen akzeptiert. Denn: »Der Staat organisiert den Tod und schützt das Leben.«

Recht auf unbeschädigtes Leben 

Mit der Parole von »der Feindschaft gegenüber dem Tod« wird deutlich, wie sehr Ebermanns Schrift als ein humanistisch gesinntes Plädoyer für das Recht auf Leben – das uneingeschränkt gute Leben – zu sehen ist. »Einvernehmen mit dem Tod«, zitiert er Marcuse, »ist Einvernehmen mit dem Herren über den Tod: der Polis, dem Staat, der Natur oder dem Gott.« So wird aus der banalen Tatsache, dass jede und jeder einmal sterben muss, das Einverständnis mit den Sachzwängen der verwalteten Normalität. 
Ein Anhänger der mittlerweile verstummten »Zero Covid«-Kampagne, die z.B. Schließungen von Betrieben forderte, ist er aber auch nicht. Ihr attestiert er vielmehr, sich in gut gemeinten, konstruktiven Vorschlägen zu verheddern. Von Ebermann ist dann auch kein Verbesserungsvorschlag und kein ausgetüfteltes Programm zu erwarten. Sein Programm ist die Negation. 
Wo Normalität mit Freiheit verwechselt wird und das Sterben zum Kollateralschaden gerät, hat Gesellschaftskritik einen schweren Stand. Wahre Freiheit aber, in der Gesundheit nicht länger stillschweigend mit Funktionstüchtigkeit gleichgesetzt wäre – das blitzt in Ebermanns Buch negativ immer wieder auf –, wäre erst jenseits bekannter Normalität denkbar. 

Thomas Ebermann, »Störung im Betriebsablauf. Systemirrelevante Betrachtungen zur Pandemie«, Konkret Verlag: Hamburg 2021, 134 Seiten, 19,50 Euro 

Bastian Bredtmann 

Aspekte des neuen Rechtsradikalismus


Der 1967 gehaltene Vortrag Theodor W. Adornos – Aspekte des neuen Rechtsradikalismus – wurde neu herausgegeben. Mathias Beschorner über den Band und Kontinuitäten zu zeitgenössischen rechten Diskursen.
Dass die Person Theodor W. Adorno, seine Biografie und Œuvre ob seines 50. Todestages vermehrt durch das Feuilleton rauschen, ist kaum verwunderlich, braucht die bürgerliche Gesellschaft doch ihre Jubiläen und ‚kritischen Intellektuellen‘, die immer dann einzugemeinden sind, wenn es wieder einmal zu brennen scheint. Im zeitgenössischen Kontext, in dem die Erfolge rechtspopulistischer Parteien offensichtlich sind, avanciert nun auch Adornos neu herausgegebene Rede Aspekte des neuen Rechtsradikalismus zum Bestseller. Adorno für Erklärungsversuche hinsichtlich solcher Phänomene und politischen Entwicklungen zu befragen, ist ja nun einmal nicht grundsätzlich verkehrt. Dass es in dieser Gesellschaft jedoch permanent an allen Ecken und Enden brennt, ja Adorno selbst schärfster Kritiker ebenjener bürgerlichen Gesellschaft war und damit eben nicht so einfach einzugemeinden ist, wird in diesem Diskurs einmal mehr unter den Teppich gekehrt. Damit wird zugleich das Existenzialurteil Kritischer Theorie, nämlich, dass man es nach wie vor mit einer falsch eingerichteten Gesellschaft zu tun hat, die Phänomene wie den Rechtspopulismus und damit das Umschlagen in Faschismus und Barbarei eben zwangsläufig mit sich bringt, mindestens verwaschen.
Zur Aktualität des Vortrages     
Entgegen diesem Potpourri naiver Würdigungen, die zumeist mit bloßen Versatzstücken der Kritischen Theorie daherkommen und eben diese auf den berühmten Satz der Minima Moralia »Es gibt kein richtiges Leben im falschen« herunterbrechen, ist es Volker Weiß zweifelsfrei zu verdanken, Adornos bisher unveröffentlichte Rede Aspekte des neuen Rechtsradikalismus herausgegeben und mit einem ausführlichen Nachwort versehen zu haben. Liest man das schmale Bändchen und folgt Adornos Argumentationsgang, so ist es tatsächlich frappierend, dass, wie Weiß schreibt, »ein Kommentar zu aktuellen Entwicklungen« vorzuliegen scheint. In dem am 6. April 1967 vor Wiener Studenten des Verbands Sozialistischer Studenten Österreichs gehaltenen Vortrag, seziert Adorno zwar recht ephemer, aber doch messerscharf die deutsche Ideologie und den Nazismus im Kontext seines Wiedererstarkens in der Bundesrepublik der 60er Jahre, was sich zugleich in den damaligen Wahlerfolgen der NPD konkretisierte. Bereits Adornos einleitende Worte verbieten jedoch die simple Eingemeindung als ‚kritischen Intellektu-ellen‘, macht dieser doch mit Verweis auf seinen Vortrag Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit dezidiert deutlich, »daß die gesellschaftlichen Voraussetzungen des Faschismus nach wie vor fortbestehen«. In der Folge rückt Adorno damit die fortwährende, vom Kapital produzierte soziale Deklassierung und Abstiegsangst derjenigen in den Fokus, die im Produktionsprozess weit unten stehen und als »potentielle Arbeitslose« ob des drohenden »Gespenst[es] der technologischen Arbeitslosigkeit nach wie vor« einiges zu befürchten haben; die im Sinne des Rechtsradikalismus jedoch nicht die kapitalistische »Apparatur« angreifen, sondern Linke, Intellektuelle sowie sexuelle und ethnische Minderheiten. Dieser Gedanke mag nun nicht sonderlich originell erscheinen und wurde bereits lange vor Adorno von Karl Marx im Zusammenhang der Maschinenstürmer des 19. Jahrhunderts beobachtet. Auch für das Verständnis des heutigen Rechtsradikalismus und Nazismus ist der Aspekt sozialer Deklassierung relevant. Angesichts der gegenwärtigen Austeritätspolitik dürfte dieser Aspekt an Relevanz gewonnen haben. An der Deklassierung konnte allerdings auch der in den 60er Jahren noch einflussreiche Keynesianismus kaum rütteln, wie Adorno bemerkte.
Gerade wegen der Inanspruchnahme der freudschen Psychoanalyse seitens der Vertreter der Kritischen Theorie verwehrt sich Adorno stets individualpsychologisch verstandener Interpretationen gesellschaftlicher Phänomene, was auch in diesem Vortrag unterstrichen wird – eine Methode, durch die im heutigen Kontext die simple Pathologisierung Einzelner am Beispiel rechtsextremer oder islamistischer Attentäter betrieben wird. Eine Erkenntnis über gesellschaftliche Phänomene wie das des Rechtsradikalismus kommt damit nicht ohne eine historisch-materialistische Theorie aus, in der Individuum und Gesellschaft als vermittelt betrachtet werden: Der Nährboden für den Rechtsradikalismus ist mit Adorno damit in seiner »objektive[n] Basis«, d.h. ausschließlich in der bürgerlichen Gesellschaft und der damit verbundenen Produktionsweise selbst zu verorten, was auch erklärt, warum »die Anhänger des Alt- und Neufaschismus heute [1967] quer durch die Gesamtbevölkerung verteilt sind«.
Radikalisierung, Methode und Propaganda des Rechtsradikalismus
Zudem sieht Adorno in der Angst vor dem sozialen Abstieg, die sich aus rationalen und irrationalen Motiven speist, zugleich etwas »Zentrales«, das in den apokalyptischen Untergangsphantasien, die sich zu dem »Gefühl der sozialen Katastrophe« hinzugesellen, zu sich komme. Das ist der Nährboden für die Ideologie des Rechtsradikalismus, den Adorno zugleich als Ausprägung und als »Narben einer Demokratie« begreift – einer Demokratie, die ihre eigenen Versprechen um den Pursuit of Happiness nie einzulösen vermochte. Besonders drastisch kommt dies allerdings in der »verspäteten Nation« (Hellmuth Plessner) zum Tragen, wenngleich die Demokratie an sich im Ganzen bloß »formal« geblieben sei. Ob faschistische Ideologien tatsächlich mit einer »Theorielosigkeit« einhergehen und ob es im »Faschismus nie eine wirklich durchgebildete Theorie« gegeben habe, wie Adorno konstatiert, ist fraglich, wussten doch die damaligen Kader des Nazismus und Faschismus – ebenso wie die der Neuen Rechten – ihre Schmitts, Heideggers und Paretos durchaus zu würdigen. Im heutigen Kontext genügt ein flüchtiger Blick in das neurechte Magazin Sezession um Götz Kubitscheks Institut für Staatspolitik, um Adorno in diesem Punkt in Frage zu stellen. Fraglos scheint indes, dass, wie Adorno weiter markiert, die »Propaganda« des Rechtsradikalismus selbst »die Substanz [einer solchen] Politik ausmacht«, die Form den Inhalt überwiege und als Mittel perfektioniert werde. Auffallend aktuell erscheinen auch Adornos Bemerkungen über das Durchsetzen immer radikalerer Positionen in rechten Parteien, was er an der historischen NSDAP und zeitgenössischen NPD beobachtete. Das lässt auch die aktuelle Situation der AfD in einem helleren Licht erscheinen. Fraglos, Geschichte wiederholt sich nicht einfach und schon gar nicht wird sie von Individuen gemacht, aber eine auffallende Analogie ist allein anhand der Riege der Parteivorsitzenden der AfD allzu offenkundig, bei der, ähnlich wie Adorno dies für die damalige NPD konstatiert, der »harte oder radikale Flügel gesiegt« zu haben scheint: Bernd Lucke und Frauke Petry, denen man wohl noch rechtskonservative und neoliberale Positionen nachsagen konnte, wurden schließlich ‚abgesägt‘. Die aktuellen Parteivorsitzenden, Jörg Meuthen und Alexander Gauland, kokettieren dagegen immer offener mit dem völkischen »Flügel« um Björn Höcke und scheinen zusehends bereit, die einstmals neoliberale Agenda der AfD für eine völkische Interpretation der sozialen Frage hintanzustellen. Dass der »Flügel« um Björn Höcke so offensiv die soziale Frage aufwerfen kann und damit bei allerlei Wählerschaft punkten kann, scheint zudem dem Versagen von Linken und Liberalen geschuldet, die sich in exorbitanter Weise in Debatten um kulturelle Überbauphänomene flüchten, nicht einmal zu keynesianischen Positionen fähig sind und das Proletariat damit zusehends der politisch Rechten überlassen. Wer diese Entwicklung noch einmal ausführlicher nachvollziehen möchte, der möge einen Blick in Didier Eribons Rückkehr nach Reims werfen.
Auch die Melange sich wiederholender Versuche von Diskursverschie-bungen gen rechts, gespickt mit Lügen und Versatzstücken von Wahrheit, die auch die heutige Politik und Propaganda der AfD maßgeblich kennzeichnet, analysiert Adorno bereits am damaligen Rechtsradikalismus. Unter Bezugnahme auf die Authoritarian Personality und die empirische Kategorie des »manipulativen Typs« macht Adorno in der rechtsradikalen Propaganda eine schlagkräftige Methode aus, für die auch die zeitgenössischen Subjekte sehr anfällig zu sein scheinen. In der Propaganda vereinigen sich zudem Antiintellektualismus, Antiamerikanismus und Antisemitismus, deren Sujets Adorno bereits am Beispiel der National-Zeitung und des Studenten-Anzeigers ideologiekritisch herausschält. Schon diese Zeitungen sprachen mit einer perfiden, aber stets unterschwelligen Konkretion genau jene an, die aufgrund sozialer Deklassierung empfänglich seien, jedoch durchaus wüssten, worauf und auf welche Feindbilder immer wieder angespielt werde.
Was der kritische Theoretiker Adorno gegen all dies ins Feld führt, bleibt schließlich unkonkret, endet aber doch mit einem Bekenntnis zu Wahrheit, Vernunft und Aufklärung. Einen Punkt macht Adorno allerdings durchaus konkret: mit einem blanken Appell an Humanität kann man diesem Denken nicht begegnen. Dagegen gelte es, die tatsächlichen und »potentiellen Anhänger des Rechtsradikalismus« konsequent »vor dessen eigenen Konsequenzen« zu warnen und aufzuklären, dass der Bezug auf eine vermeintlich »wahre Demokratie« rechter Demagogie entspringe und schlussendlich gegen ihre eigenen materiellen Interessen gerichtet sei. Inwieweit eine solche Aufklärung gelingen kann, bleibt fraglich; schon Marx wies in Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte – einem Text, der als frühe Faschismusanalyse betrachtet werden kann – auf das ‚merkwürdige‘ Verhalten kleinbürgerlicher und proletarischer Schichten hin, die gegen ihr eigenes Interesse handeln und diejenigen Repräsentanten wählen, von denen sie sich Vorteile erhoffen. So kann auch im Zeitalter nach den großen Nationalstaaten der Nationalismus die soziale Frage stets verdrängen, denn, wie Adorno auch ausführt, sind es gerade Ideologien in ihrem Untergang, die nochmal sehr wirkmächtig werden können.
Angesichts der aktuellen Entwicklungen um AfD und Rechtspopulismus ist Adornos Rede tatsächlich von hohem aktuellem Wert. Denn auch Volker Weiß fasst im Nachwort bündig, dass »[z]u einer Historisierung Kritischer Theorie« »kein Anlass« bestehe, da »[g]egenwärtig« »die Berührungsängste der Mitte mit dem rechten Rand« »schwinden«. Adornos Text und Denken kommen im Vortrag jedenfalls aktuell und recht präzise daher. Freilich sind Adornos Gedanken nicht 1:1 auf den zeitgenössischen Kontext zu übertragen. Im Ganzen verweist der Vortrag jedoch ideologiekritisch auf Kontinuitäten zu zeitgenössischen rechten Diskursen und hilft vor allem, deren Sujets zu entschlüsseln. Zugleich ist der Band nicht nur allen jenen ans Herz zu legen, die Ideologie und Erstarken rechtspopulistischer Parteien zu begreifen versuchen, sondern auch als nüchterner Einstieg in die Kritische Theorie zu empfehlen.

Von Mathias Beschorner

Der Text ist zuerst in der Versorgerin #124 (Dezember/2019) erschienen.
Adorno, Theodor W. (2019): Aspekte des neuen Rechtsradikalismus. Ein Vortrag (1967). Mit einem Nachwort von Volker Weiß. Suhrkamp, Berlin, 89 Seiten, 10 Euro.

Roboterkommunismus – nur eine Utopie?


Mathias Beschorner über Aaron Bastani: Fully Automated Luxury Communism.
»The fact is, that civilisation requires slaves. The Greeks were quite right there. Unless there are slaves to do the ugly, horrible, uninteresting work, culture and contemplation become almost impossible. Human slavery is wrong, insecure, and demoralising. On mechanical slavery, on the slavery of the machine, the future of the world depends. […] Is this Utopian? A map of the world that does not include Utopia is not worth even glancing at, for it leaves out the one country at which Humanity is always landing. And when Humanity lands there, it looks out, and, seeing a better country, sets sail. Progress is the realisation of Utopias.«
Oscar Wilde: The Soul of Man under Socialism, 1891
Aaron Bastani ist Politikwissenschaftler und Mitbegründer von Novara Media. Bastani stellt eine starke Stimme innerhalb der britischen Linken dar und tritt oft als politischer Kommentator im Fernsehen auf. Einige seiner Ansichten zum Antisemitismusproblem innerhalb der Labour-Partei sowie dem Staat Israel sind äußerst fragwürdig und zu kritisieren. In Fully Automated Luxury Communism erörtert Bastani jedoch Ansätze einer postkapitalistischen Gesellschaft, in der die Güterproduktion zum überwiegenden Teil von künstlicher Intelligenz, Automatisierung und von Robotern organisiert würde.
»Communism is luxurious – or it isn’t communism«
Mit Hegel und Marx lässt sich konstatieren, dass das »Reich der Freiheit« erst da beginnt, wo das »Reich der Notwendigkeit« drastisch eingeschränkt ist. Wie Andreas Arndt in Geschichte und Freiheitsbewusstsein weiter argumentiert, ist die Entwicklung des Freiheitsbewusstseins der Notwendigkeit jedoch nicht äußerlich – das wäre idealistischer Unfug –, sondern steht vermittelt daneben, was freilich nach einem entsprechenden »politischen Rahmen« »verlangt«.[i] Die Linke hat das mit der Freiheit, der Notwendigkeit und dem »politischen Rahmen« nie richtig verstanden: im Realsozialismus wurden Arbeit, Elend und Klasse vergöttert und die Marx‘sche Losung »Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!« kollektivistisch pervertiert. Zwar haben Neue Marx-Lektüre und Postmarxismus derartigem Denken zarte Risse versetzt; vollends emanzipiert hat sich die Linke davon jedoch nicht. Stephan Grigat hat das auch in der Versorgerin ausgeführt[ii] und entsprechend auf dissidente Stimmen verwiesen. Erfreulicherweise bezieht sich Bastani mitunter auch auf Oscar Wilde. Communism benutzt Bastani zudem in Abgrenzung zum Realsozialismus; er stellt sich dagegen in die Tradition Marx‘ selbst, der damit eine Welt vor Augen hatte, »in which work is eliminated, scarcity replaced by abundance«.
Ein Ende vom Ende der Geschichte?
Auch nach dem von Francis Fukuyama postulierten Ende der Geschichte fällt der Linken dagegen kaum etwas ein, was sinnig über das Bestehende hinausweisen könnte: Postwachstumstheorien fallen z.B. deutlich hinter kapitalistische Vergesellschaftung zurück und bedienen das Bedürfnis nach naivem Idealismus, Verzichtsethik sowie Autoritarismus.[iii] Liefert Bastani einen diskussionswürdigen Entwurf, der das Freiheitsbewusstsein im Sinne eines Hegelmarxismus weiterentwickeln könnte?
Bastani widmet sich zunächst kritisch den Thesen Fukuyamas und moniert zurecht deren Deutungshoheit. Fukuyama postulierte nicht das Ende der Zeit, sondern den Siegeszug der westlich und kapitalistisch verfassten Demokratie, die die finale Vergesellschaftungsform der Menschheit darstelle, ein postideologisches Ende eingeleitet hätte und in welcher keinerlei fundamentalen neuen politischen Ideen mehr aufkämen. Jedoch, so Bastani, zeugten Klimawandel und die soziale Frage von der Naivität dieser Thesen, obwohl sie als »sacrosanct« und »common sense« betrachtet würden. Bastani hebt fünf fundamentale Krisenproblematiken globalen Ausmaßes hervor: Klimawandel und globale Erwärmung, Ressourcenknappheit, alternde und rasant steigende Bevölkerung, durch technische Innovation verursachte Arbeitslosigkeit und Armut. Diese fünf Krisen untergraben laut Bastani die Fähigkeit des Kapitals ‚sich selbst zu heilen‘. Dennoch sei es im Sinne Fukuyamas »easier to imagine the end of the world than the end of capitalism«. Doch was hat Bastani dieser Deutungshoheit entgegenzusetzen?
FALC – »A world beyond jobs, profit and even scarcity«
Bastani zeigt sich als ausgesprochener Kenner der politischen Ökonomien von Smith, Ricardo, Malthus und Keynes; darüber hinaus liefert er im Sinne des Untertitels des Kapitals eine überzeugende Kritik der politischen Ökonomie. Zudem bietet Bastani einen außerordentlich umfangreichen Überblick über technologische Innovationen und Wandlungsprozesse innerhalb der Moderne sowie der vergangenen Dekaden. Vor allem das 2. Kapitel überzeugt hierbei mit einer Fülle an Beispielen, die vom Energiesektor über das Gesundheitswesen bis hin zu den Potenzialen der Raumfahrt aufzeigen, dass eine postkapitalistisch strukturierte Gesellschaft mit Güterüberfluss möglich sei.
Hervorzuheben ist hierbei, dass Bastani keiner idealistischen Träumerei anhängt, sondern mit einer minutiösen Beobachtung von gesellschaftlichen Strukturen und technischen Entwicklungen arbeitet. Schon Marx sperrte sich dagegen, konkret auszumalen, wie eine befreite Gesellschaft aussehen könnte. Bastani liefert also keine absurde Science-Fiction, sondern empirisch fundierte Beobachtungen von staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren. In Abgrenzung zur Malthusianischen Bevölkerungsfalle[iv] und zu Keynes, führt er zudem ein Szenario an, in dem Güterknappheit besiegt sei. Mit Marx und gegen den Keynesianismus argumentiert er überzeugend, dass das kapitalistische System »politically contested« sei.
Das Buch bietet auf 288 Seiten einen roten Faden, der immer wieder um die auch in der Sozialwissenschaft breit diskutierte These des jobless growth kreist. D.h., dass durch technische Rationalisierungen und Automatisierungsprozesse zusehends weniger menschliche Arbeitskraft im Produktionsprozess benötigt werde. Schon heute wird immer mehr physische und kognitive Arbeit von Robotern und Maschinen verrichtet. Tendenz steigend. Die Informationstechnologie wird damit zum Produktionsfaktor Nummer 1 und Roboter, Drohnen und Maschinen könnten in absehbarer Zeit die Ware menschliche Arbeitskraft vollends ersetzen. Dahingehend verweist Bastani darauf, dass Marx entgegen ‚falscher‘ Lesarten ausdrücklich die vom Kapitalverhältnis entfesselten Produktivkräfte in den höchsten Tönen lobte und verdeutlicht dies anhand eines Bezugs auf das »Maschinenfragment« aus den Grundrissen, das entgegen der exorbitanten Bedeutung des Manifests der Kommunistischen Partei kaum wahrgenommen werde. Schon in den Grundrissen verweist Marx jedoch auf die steigende Bedeutung von Informationen im Produktionsprozess.
Jedoch dienen Informationstechnologie und Automatisierung von Produktion in einer kapitalistisch strukturierten Gesellschaft nicht menschlichen Bedürfnissen, sondern zum überwiegenden Teil der »Verwertung des Werts«. In Kombination mit einem Arbeitsfetischismus, den man quer durch alle politischen Lager antrifft, entstehen heute immer mehr sogenannte »Bullshit-Jobs« (David Graeber). Folgt man Marx, so kann die Entwicklung der Produktivkräfte jedoch Produktionsverhältnisse revolutionär sprengen, woraus neue Formen von Vergesellschaftung resultieren können. Die Weiterentwicklung der Produktivkräfte bildete damit schon bei Marx die grundlegende Voraussetzung zur Einschränkung des »Reichs der Notwendigkeit« und damit die Bedingung zur Emanzipation von menschlicher Arbeit. Dahingehend stellt Bastani das rationelle Ausnützen der Produktivkräfte unter einer damit einhergehenden Veränderung der Produktionsverhältnisse, einen Zugewinn an freier Zeit, Selbstbestimmung, Individualismus sowie Luxus für breite Bevölkerungsschichten in Aussicht. Bastanis Analyse des Status quo sowie die sich durch technische Innovationen ergebenden Möglichkeiten für eine potenziell postkapitalistische Gesellschaft machen den Hauptteil des Buches aus und lesen sich recht überzeugend.
»Luxury Populism«
Im abschließenden dritten Teil erläutert Bastani politische Strategien und entwirft in Abgrenzung zu einem rechten Populismus das Modell eines »Luxury Populism«. Damit richtet sich Bastani zugleich gegen Postwachstumstheorien und pocht stattdessen auf die materiellen Bedürfnisse breiter Bevölkerungsschichten. Eine politische Strategie jedoch, die nicht »red and green« sei, und damit nicht Individualismus einfordere sowie die Bedrohungen durch den Klimawandel reflektiere, sei zum Scheitern verurteilt; zudem hätte sie sich im Gegensatz zur traditionellen Arbeiterbewegung gegen die Arbeit an sich zu richten. Hierzu bedürfte es mitunter der Forderung umfassender Veränderungen im Transportwesen und öffentlicher Güterversorgung, womit Bastani auch ein bedingungsloses Grundeinkommen anführt.
Wie bei allen technologischen Revolutionen in der Geschichte – Bastani streicht die neolithische, den Buchdruck und die industrielle Revolution heraus -, werden auch bei dieser die Veränderungen Jahrzehnte brauchen. Aber, so Bastani abschließend, es gehe nicht um die Zukunft, sondern um »a present which is already here«. In wieweit Bastanis politische Perspektiven und Strategien überzeugen, sei der Leserin überlassen.
Kritisch hervorzuheben sind mindestens jedoch zwei Punkte: 1. Bastanis Auseinandersetzung mit dem Neoliberalismus gerät bisweilen in ein simples Elitenbashing und vergisst, dass auch die herrschenden Klassen im Sinne Marx ‚lediglich‘ als »Charaktermasken« fungieren und damit nur bedingt intentionales Handeln vorliegt. 2. Bei allem Fortschrittsoptimismus hinsichtlich technischer Innovationen – Bastani verfällt hin und wieder recht deutlich in versteckte und offene teleologische Erwägungen – bleibt mit der kritischen Theorie zu reflektieren, dass technische Errungenschaften nicht zwangsläufig zu einem besseren gesellschaftlichen Zustand, sondern auch zu neuen Herrschaftsformen führen können.
Darüber hinaus gelte es auch mit feministischen Ansätzen soziale Beziehungen, Care-Arbeit und das Verhältnis Mensch/Natur stärker zu hinterfragen, denn das bleibt Bastani deutlich schuldig. Ein vernunftgeleitetes Eingedenken von Erster und Zweiter Natur im Sinne der kritischen Theorie müsste dagegen die Grundlage bilden. Dass Bastani dies nicht reflektiert, ist offenkundig, und dennoch bleibt abschließend zu sagen, dass das Buch einige Ansätze bietet, die der Utopie eines Müßiggangs im Sinne Theodor W. Adornos zuträglich sein könnten: »auf dem Wasser liegen und friedlich in den Himmel schauen, ‚sein, sonst nichts, ohne alle weitere Bestimmung und Erfüllung‘ könnte an Stelle von Prozeß, Tun, Erfüllen treten und so wahrhaft das Versprechen der dialektischen Logik einlösen, in ihren Ursprung zu münden.«[v]

von Mathias Beschorner

Diese Buchbesprechung ist zuerst in der Versorgerin #123 (September/2019) erschienen.
Das Buch ist am 11. Juni bei Versobooks erschienen.
Bastani, Aaron (2019): Fully Automated Luxury Communism. Versobooks. New York und London, 288 Seiten, 20,99 Euro.
[i] Arndt, Andreas: Geschichte und Freiheitsbewusstsein. Zur Dialektik der Freiheit bei Hegel und Marx, Berlin 2015, S. 100ff.
[ii] Grigat, Stephan: Die Arbeit nieder! In: Versorgerin Nr. 117.
[iii] Siehe hierzu auch die vierte Ausgabe des Distanz-Magazins unter: http://distanz-magazin.de/magazin/4-postwachstumskritik/.
[iv] Die von Thomas Malthus entwickelte Theorie der Bevölkerungsfalle hat große Bedeutung für Postwachstumstheorien und wird dort affirmativ verwendet. Hat diese Theorie für vorkapitalistische Gesellschaften noch gewisse Berechtigung, blamiert sie sich vor der Realität und den Möglichkeiten moderner Produktivkräfte.
[v] Adorno, Theodor W.: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben: Sur l‘eau. Digitale Bibliothek Band 97: Gesammelte Schriften, S. 1953-1955 (vgl. GS 4, S. 179).

Antisemitismus und der Hass auf die „halbierte Aufklärung“

Samuel Salzborns neues Buch Globaler Antisemitismus als Plädoyer für einen antimissionarischen Universalismus.
Der derzeitig am Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin als Gastprofessor arbeitende Politikwissenschaftler Samuel Salzborn gilt als einer der renommiertesten Experten zum Thema Antisemitismus. Sein neues Buch bietet eine strukturanalytische und weltgeschichtliche Perspektive, die einerseits pointiert den Stand der theoretischen Antisemitismusforschung widerspiegelt, andererseits schlüssig das Phänomen des Antisemitismus zu erhellen in der Lage ist. Er schafft dies anhand einer ideengeschichtlichen Verortung, die Konstanten, Variablen und Transformationsprozesse antisemitischen Denkens aufzeigt. Auf 257 Seiten und in drei Abschnitten gegliedert kann er den eigenen Anspruch – den Gegenstand vor allem theoretisierend zu durchdringen – einlösen.
Antisemitismus als Basisstruktur moderner Vergesellschaftung
Salzborn begreift Antisemitismus kaum einfach als rassistisches Vorurteil; dieser ist mehr aufgrund der „Halbierung der Aufklärung“ als maßgebliche Struktur moderner Vergesellschaftung zu fassen. Zwar begann sich die Aufklärung im Sinne einer „Entzauberung der Welt“ (Max Weber) vom göttlichen Allmachtsanspruch zu lösen, sie inthronisierte jedoch einen neuen Glauben an Wissenschaft und eine Hybris des Menschen, die zu neuem Ausschluss und szientistischem Rasseglauben führte. Damit lehnt sich Salzborn an die kritische Theorie, insbesondere die Dialektik der Aufklärung, sowie die auf der Marxschen Fetischkritik basierende AS-Theorie Moishe Postones an.[1] Antisemitismus ist demnach als eine der bürgerlichen Vergesellschaftung immanent entspringende „Logik, die strukturell Antisemitismus produzieren muss“ zu begreifen, da sie auf der Wert- und Warenform basiert. Weiter bildet Antisemitismus im Gegensatz zum Rassismus eine umfassende Welterklärung, die abstraktes Denken negiert und auf Konkretion und physische Vernichtung jüdischen Lebens drängt. Aufgrund dieser strukturellen Verortung ist Antisemitismus nicht nur in der politischen Rechten manifest, sondern ebenso in linken Kontexten, sowie der bürgerlichen Mitte verankert; darüber hinaus auch in islamischen Zusammenhängen.
Demokratisierungswellen und Gegenwellen
Innerhalb seiner globalen Perspektive fungiert 9/11 für Salzborn als „historische[r] Kristallisationspunkt“, der mit der Gefahr einer „antisemitischen Revolution“, die sich mit allerlei gegenaufklärerischen Bewegungen verbinden könne, einhergehe. Zentraler Angelpunkt bildet Samuel P. Huntingtons Clash of Civilizations. Dieser Rückgriff stellt jedoch einen kritischen dar, der zudem versucht, Huntington der deutschen Rezeption, die mit allerlei Essentialisierungen aufwarte, zu ‚entreißen‘ und einige seiner Grundpositionen wieder fruchtbar macht. Salzborn geht chronologisch von drei zentralen Demokratisierungswellen aus, auf die immer eine Gegenwelle folge. Demnach befinde man sich nach Nationalsozialismus und Antiimperialismus in einer dritten Gegenwelle, in der der islamische Antisemitismus das „Zentrum der dritten antisemitischen Revolution“ darstelle. Aus einer historisierenden Perspektive mag man dieser (Re-)Konstruktion Grobschlächtigkeit vorwerfen. Jedoch sind globalisierungstheoretische Annahmen notwendigerweise immer mit einer gewissen Ausblendung des Besonderen verbunden; zudem ist sich Salzborn dieses Problems bewusst und räumt ein, dass er diese Generalisierung als „analytische Deutung“ versteht, die „streitbar“ und nicht unfehlbar sei. Sie ist eher als Interpretationsangebot zu fassen. Den zeitgenössischen (gegenaufklärerischen) Bewegungen attestiert er, die Versprechen der „halbierten Aufklärung“ nicht auszuweiten – wie noch Feminismus, Antikolonialismus und Sozialismus – sondern Aufklärung in toto negieren zu wollen. Auch die Arabellion, die sich letztlich alles andere als aufklärerisch und freiheitsbefördernd herausgestellt habe, führt Salzborn beispielhaft an. Das Banner und die sie einigende Klammer sei allzu oft antisemitisches Denken und ein damit verbundener Hass auf die Dialektik von Freiheit und Gleichheit. Schon der Begründer der Politologie, Alexis de Tocqueville, machte diese Spannung von Freiheit und Gleichheit im 19. Jahrhundert als zentrales Charakteristikum moderner Vergesellschaftung aus. Analog zu Eric Hobsbawm (Das Gesicht des 21. Jahrhunderts) geht Salzborn davon aus, dass sich die gegenwärtigen Konflikte kaum noch als Kampf zwischen Staaten und Nationen fassen lassen, sondern zunehmend von informelleren Gruppen getragen werden, die sich „kollektivistisch und identitär gegen Zivilist(inn)en“ richteten. 9/11 sei damit nicht nur als Angriff auf die USA zu betrachten, sondern als antisemitischer „Anschlag auf die Aufklärung und die Moderne“.
Salzborn stellt zudem eine Problematik von Weltanschauung linker Provenienz heraus: Die im Anschluss an postkoloniale Theorie gebildeten Perspektiven und Bewegungen begriffen Emanzipation nicht mit, sondern ausschließlich gegen die Aufklärung, was dazu führe, dass politische Aktivisten mit Islamisten und Nazis zusammenarbeiten. Auch wenn er postmodernen Positionen eine anfänglich berechtigte Kritik und „emanzipatorische[n] Anspruch“ einräumt, moniert er die einseitige Verwerfung der Aufklärung und verdeutlicht dies an zentralen Vordenkern wie Edward Said und Judith Butler. In diesen Diskursen erkennt er zugleich das Fehlen von Sachargumenten und ‚echten‘ Diskussionen; vielmehr seien sie vom Auflösen des Politischen in Sprechortkategorien und Kulturalisierungen geprägt:

 „Man kann sowohl die brutalen Praktiken des Kolonialismus kritisieren und trotzdem gleichzeitig betonen, dass eine regressive Gemeinschaftsstruktur, wie sie nicht selten von den Opfern des Kolonialismus verfolgt wurde, keine Alternative zur Aufklärung sein kann.“

Zudem weist er den Begriff der „Islamophobie“ zurück, mit dem jedwede Kritik an Religion mit antimuslimischem Rassismus vermischt werde. Salzborn unterstreicht dagegen, dass eine Kritik an Religion „zweifelsfrei eine Spielart von Rassismus sein [kann], sie kann aber auch einer liberalen, einer feministischen, einer aufklärerischen Haltung folgen“. Auch die wohltuend nüchtern vorgetragenen kritischen Einlassungen bezüglich der BDS-Bewegung und der Delegitimierung des israelischen Staates durch antisemitische Denkmuster überzeugen. Jedoch hätten diese Themen durchaus mehr Raum verdient, berühren sie doch zentrale Debatten des zeitgenössisch-politischen Kontexts.
Die Notwendigkeit eines antimissionarischen Universalismus
Im letzten Teil widmet sich Salzborn psychoanalytischen Deutungen und erläutert Verdrängungsleistungen sowie Schuldabwehrantisemitismus und kritisiert das Fehlen konkreter Aufarbeitung der Vergangenheit im Sinne Theodor W. Adornos. Exemplarisch fungieren die Beschneidungsdebatte, allerhand projektive Vorwürfe gegenüber Israel sowie die Rede Martin Walsers von 1998, die Salzborn als Indikator dafür betrachtet, dass sich Unsagbares wieder sagen lässt. Gegen jede Form von Antisemitismus und den damit verbundenen Hass auf die „halbierte Aufklärung“ führt Salzborn ein Plädoyer für kritischen, antimissionarischen Universalismus ins Feld; der die Ambivalenz moderner Vergesellschaftung aushält und im Modus einer (aufklärerischen) Selbstkritik die „Omnipotenzphantasie“ und Inthronisierung menschlicher Hybris kritisch zu reflektieren in der Lage wäre. Es ist ein Denken, das kritisch, aber bestimmt an Moderne, Aufklärung und Rationalismus festhält, Demut vor menschlicher Sterblichkeit aufnimmt und antisemitisch-konkretistisches Fühlen bekämpfen kann. Carl Schmitt als historisches sowie Enzo Traverso als zeitgenössisches Beispiel dienen Salzborn hingegen als Spielarten politischen Denkens, die die Ambivalenz moderner Gesellschaft zugunsten eines Kulturrelativismus, dem, „egal, ob er sich antiimperialistisch, postkolonial, völkisch, identitär oder islamistisch nennt“, keinerlei Zugeständnis zu machen wäre.
Mit Salzborn gibt es also keine Alternative: die Dialektik der Aufklärung ist auszuhalten und kritisch zu reflektieren, anstatt „identitär, postmodern oder völkisch“ zu negieren. Im zeitgenössischen Kontext, in dem zunehmend politische Strömungen Auftrieb erhalten, die sich mal mehr, mal weniger antisemitischer Stereotype bedienen, kann Globaler Antisemitismus helfen, antisemitische Denkfiguren aufzuschlüsseln. Darüber hinaus wäre die Voraussetzung zur Bekämpfung – wie Joseph Schuster (Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland) es im Vorwort formuliert – das Problem nicht weiter zu negieren, sondern als Angriff auf die gesamte Gesellschaft zu begreifen. Trotz der strukturanalytischen Einbettung der Subjekte, ist Globaler Antisemitismus immer auch ein Plädoyer dafür, Antisemitismus mit Sartre bis zu einem gewissen Grad als „freie Wahl“ zu begreifen. Es besteht also die Möglichkeit, sich derartiger Denkmuster zu entledigen – freilich nicht immer, manchmal nur graduell. Denn, so endet Salzborn, wenn der „Antisemitismus“ erst „das Individuum“ vollständig „emotional erfasst“ habe und „zum leidenschaftlichen Weltbild geronnen“ sei, bleibe als letzte Option nur noch die Möglichkeit „radikale[r] Bekämpfung“. Im Sinne einer wehrhaften Demokratie ist Salzborn unbedingt zuzustimmen und das inkludiert repressive und militärische Maßnahmen gegen Antisemitismus.

von Mathias Beschorner

Diese Buchbesprechung ist zuerst in der Versorgerin #121 (März/2019) erschienen.
Salzborn, Samuel (2018): Globaler Antisemitismus. Eine Spurensuche in den Abgründen der Moderne. Mit einem Vorwort von Josef Schuster. Beltz Juventa, Weinheim, 257 Seiten, 24,95.
[1] Vgl. Postone, Moishe (1982): Nationalsozialismus und Antisemitismus. Ein theoretischer Versuch. In: Dan Diner (Hrsg.): Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz. Frankfurt am Main 1988.