Der Krieg aller gegen alle. Oder: Social Distancing als Grundmotiv bürgerlicher Vergesellschaftung

Julian Duschek

[Aus Anlass der bevorstehenden Veröffentlichung von Heft 7 des Distanz-Magazins veröffentlichen wir hier einen bereits in Heft 6 abgedruckten Beitrag. Die vorliegende Untersuchung stellt den Beginn einer Artikelreihe dar, welche im neuen Heft fortgeführt wird.]

Seit 2020 ist Social Distancing in aller Munde. Um eine weitere Ausbreitung der Pandemie zu verhindern, sollen die Menschen voneinander Abstand halten. Ob der Begriff geeignet ist, Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung zu bezeichnen, ist nicht die Frage des vorliegenden Textes. Stattdessen soll hier eine alternative Deutung gewagt und der gesellschaftstheoretische Gehalt des Begriffs ausgebreitet werden. Denn Social Distancing drückt auch ein Grundmotiv bürgerlicher Vergesellschaftung aus, das sich mit Adorno (2019) als „intrinsisch antagonistischer Charakter“ gesellschaftlicher Totalität fassen lässt (ebd. S. 53): Wie der Begriff sozialer Distanz genaugenommen eine contradictio in adiecto ist – das ‚Soziale‘ hebt auf das Gesellige, miteinander Verbundene ab, ‚Distanz‘ dagegen referiert auf Trennung und Vereinzelung –, so erhält sich der gesellschaftliche Zusammenhang paradoxerweise durch die widerstreitenden Beziehungen der einzelnen Subjekte. M. a. W. reproduziert sich das Kapital als gesellschaftliches Verhältnis durch Vereinzelung und Konkurrenz: durch soziale Distanz.

In einer zentralen Hinsicht widerspricht das physische Abstandhalten diesem bürgerlich-kapitalistischen Imperativ ‚sozialer Distanzierung‘. Denn während das eine einen Akt der Solidarität mit denen darstellt, die zu Risikogruppen gehören, drücken sich im anderen Gleichgültigkeit und soziale Kälte aus (vgl. Adorno 2016, S. 687). Kein Wunder also, dass jene, die sich mit dem herrschenden Allgemeinen bewusstlos identifizieren, sich derzeit mit solcher Wut und Empörung dagegen wehren, Mindestabstände einzuhalten, Mund-Nasen-Bedeckungen zu tragen oder sich impfen zu lassen. Um der eigenen sozialatomistischen Freiheit willen nehmen sie die Gefährdung Angehöriger von Risikogruppen nicht nur in Kauf, sondern forcieren diese. Auch Regierungen von Ländern wie Schweden, Großbritannien, Brasilien oder den USA verzichteten lange Zeit auf Maßnahmen zum Schutze von Risikogruppen, um im Sinne ‚sozialer Distanzierung‘ den gewöhnlichen Betrieb aufrechtzuerhalten und die Bevölkerung zu ‚durchseuchen‘. Hier wie dort erscheint offen die sozialdarwinistische Logik des survival of the fittest, die für den Imperativ ‚sozialer Distanzierung‘ besonders im Neoliberalismus charakteristisch ist (vgl. Stapelfeldt 2012, S. 352).

Damit diese Feststellung nicht bloße Kulturkritik bleibt, soll im Folgenden die Grundlage dafür geschaffen werden, sie gesellschaftsgeschichtlich und ‑theoretisch zu reflektieren und zu rekonstruieren. Dafür wird zunächst exemplarisch anhand der Lehre Friedrich Hayeks (1899–1992) ‚Social Distancing‘ als zentrales Strukturmerkmal des Neoliberalismus bestimmt und dabei seine sozialdarwinistische Logik entwickelt. Die Argumentation mündet im Begriff des Kriegs aller gegen alle, weshalb die Darstellung schließlich vom Neoliberalismus zurück in den Merkantilismus springt: jener Epoche, in der Thomas Hobbes (1588–1679) einen barbarischen Naturzustand konstruierte und die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft sich im Prozess „ursprünglicher Akkumulation“ (Marx) sukzessive durchsetzte. Durch die Konfrontation des logischen Gehalts des Begriffs vom bellum omnium contra omnes mit seinem historischen Erfahrungshintergrund können seine ideologischen Gehalte kritisiert und sein spezifischer Zeitkern beleuchtet werden. Darin besteht die Grundlage der historischen Rekonstruktion der Bedeutung des ‚Social Distancing‘ in der neoliberalen Gegenwart. Der vorliegende Text versteht sich daher lediglich als Auftakt einer Reihe von Untersuchungen, die den historisch-spezifischen Strukturwandel des bellum zum Gegenstand haben.

1. Neoliberale Ordnung und Sozialdarwinismus

Die Basisinstitution des Neoliberalismus besteht laut Hayek (1980) in der „spontanen Ordnung“ des Marktes (ebd. S. 70; vgl. S. 57–79). Ihr spontaner Charakter verweist darauf, dass sie das Produkt eines evolutionären Fortschrittsprozesses, ein „Ergebnis anpassender Entwicklung“ sei (Hayek 1991, S. 72). Diese Entwicklung lasse sich aufgrund ihres „experimentellen Charakter[s]“ nicht rational planen, sondern bestehe in einem ungelenkten und kumulativen, „organische[n], langsame[n], halb unbewußte[n] Wachstum“ (ebd. S. 47, S. 69). Im Verlauf dieses evolutionären Entwicklungsprozesses entscheiden laut Hayek die zweckmäßigsten Anpassungsstrategien an gesellschaftliche Umweltbedingungen darüber, welche Personen und Verhaltensweisen sich gegen andere durchsetzen können. Vorausgesetzt ist der zur Natur verdinglichte Konkurrenzkampf, dem sich die Einzelnen anzupassen haben: Der Imperativ ‚sozialer Distanzierung‘ ist total. Die kompetitive Vereinzelung hat also aus „freiwillige[r] Konformität“ zum herrschenden Allgemeinen zu erfolgen (ebd. S. 78).

Fortschritt vollziehe sich durch „selektive Ausmerzung“ und dadurch, „daß die Einzelnen die Erfolgreicheren nachahmen und daß sie von Zeichen und Symbolen geleitet werden, wie den Preisen, die für ihre Erzeugnisse geboten werden“ (ebd. S. 34, S. 37). Existenzberechtigt sind daher nur jene Anpassungs- und Verhaltensweisen, die sich als zweckmäßig erweisen, indem sie „sich im Wettbewerb mit anderen Prinzipien, denen andere Individuen und Gruppen folgen, bewähren“ (ebd. S. 46; vgl. S. 34–37, S. 73f.). Wer und was dagegen im Konkurrenzkampf unterliegt, wird ‚ausgemerzt‘. Das zweckrationale Anpassungshandeln der Vereinzelten folgt daher der Logik der Selbsterhaltung – das irrationale Verhältnis des Kampfes zwischen ihnen reproduziert sich in der andauernden Unterscheidung von Stärke und Schwäche, Konformismus und Nonkonformismus, Freund und Feind, Beute und Gefahr. Den sozialdarwinistischen Charakter dieser Forderungen verschleiert Hayek mit dem Hinweis, dass

„in der sozialen Entwicklung […] der entscheidende Faktor nicht die Auswahl der physischen und vererblichen Eigenschaften der Individuen [ist], sondern die Auswahl durch Nachahmung der erfolgreichen Institutionen und Bräuche. Obwohl auch hier die Wirkungsweise der Erfolg von Individuen oder Gruppen ist, so sind das Entwicklungsergebnis nicht vererbliche Eigenschaften der Individuen, sondern Anschauungen und Fertigkeiten, kurz gesagt, das ganze kulturelle Erbe, das durch Lernen und Nachahmung weitergegeben wird“ (ebd. S. 74).

Das permanente Umschlagen dieses auf Verhaltens- und Anpassungsstrategien abhebenden Selektionsmechanismus in einen physisch-biologischen drückt sich gerade während der Corona-Krise darin aus, dass die Beschränkungen zum Schutze der Leben von Risikopatienten ein Hemmnis für den ‚Fortschritt‘ im Neoliberalismus darstellen.[1] Nicht nur unter Extrembedingungen kommen im neoliberalen Fortschritt zuerst die Verwundbarsten unter die Räder. So besteht die neoliberale Ordnung aus einem kontinuierlichen nach sozialdarwinistischem Muster ablaufenden Konkurrenz-und Überlebens-Kampf –ein bellum omnium contra omnes: der Inbegriff ‚sozialer Distanzierung‘.

Ebenso wie der Hobbessche Naturzustand macht auch die ‚spontane Ordnung‘ einen starken Staat notwendig, soll sie sich nicht selbst zerstören. In der Staatsgewalt sieht Hayek (1980) die „wesentliche Bedingung für die Erhaltung jener Gesamtordnung“ (ebd. S. 71). Der häufig kolportierte neoliberale Antietatismus relativiert sich vor dem Hintergrund des enormen Ausmaßes staatlichen Handelns.

„[D]as Wichtigste“ sei nach Hayek (1991) „die Art und nicht das Ausmaß der Staatstätigkeit. […] [E]ine Regierung, die verhältnismäßig inaktiv ist, aber das falsche macht, [kann] die Kräfte des Marktes weit mehr lähmen als eine Regierung, die sich um Wirtschaftsangelegenheiten mehr kümmert, sich aber auf Maßnahmen beschränkt, die die spontanen Kräfte der Wirtschaft unterstützen“ (ebd. S. 287).

Es käme darauf an, „ein dauerndes gesetzliches Rahmenwerk“ zu schaffen, in welchem „der Einzelne mit einem gewissen Vertrauen planen kann und die menschliche Unsicherheit so gering wie möglich wird“ (ebd.; vgl. S. 28). Mit anderen Worten: Der Staat hat eine Rahmenordnung zu schaffen, innerhalb derer die Vereinzelten ungestört durch zweckrationales Anpassungshandeln ihr Überleben gegen alle anderen sichern können – innerhalb derer der bellum omnium contra omnes toben kann (vgl. ebd. S. 46). Dem entspricht, dass sich die spontane Marktordnung historisch nicht wie von selbst durch ‚organisches Wachstum‘ durchsetzte, sondern durch (supra-)staatliche administrative De-Regulierungsmaßnahmen implementiert wurde. Dem entspricht auch, dass der Staat die autodestruktiven Tendenzen des bellum re-regulativ beschneidet, um ihn in Funktion zu halten: Während der Lockdown die pandemische Katastrophe verhindert, die bei ungestörtem ‚Normalbetrieb‘ eintreten würde, sollen die wirtschaftlichen Hilfspakete den dadurch verschärften Konkurrenzdruck mildern und massenhafte Pleiten verhindern. Insofern ist laut Stapelfeldt (2012) „die ‚spontane Ordnung‘: ‚gemacht‘“ (ebd. S. 349). Der neoliberale Staat habe „das Ganze zu konstituieren“ und sei daher „so omnipotent wie nie zuvor ein ökonomischer Staat“ (Stapelfeldt 2014, S. 590).

Diese neoliberale Konstellation von Staat und Markt findet eine weitere Entsprechung im Hobbesschen Werk. Da der bellum als gesellschaftlicher Naturzustand gesetzt und in der einzelmenschlichen Natur begründet ist, verschwindet er nicht einfach durch die Gewalt des Souveräns. Stattdessen wurde der Leviathan gegründet, „um die politischen Bedingungen zu schaffen, unter denen sich das Macht- und Erwerbsstreben der einzelnen in zivilen Formen abspielen kann“ (Euchner 1973, S. 26). Der Hobbessche Staat hat also auch ein gesetzliches Rahmenwerk zu schaffen, innerhalb dessen sich die autodestruktiven Tendenzen des bellum nicht voll entfalten. Der bellum reproduziert sich darüber hinaus im Verhältnis zwischen den Staaten (vgl. Stapelfeldt 2006, S. 251). Die Auseinandersetzung mit dem Hobbesschen Werk und insbesondere dem Begriff des bellum scheint vor diesem Hintergrund einen Beitrag für eine Kritik des Neoliberalismus leisten zu können

Dass Hobbes mit dem Begriff des bellum „die hervorstechenden Züge der bürgerlichen Konkurrenzgesellschaft erkannt und seiner Konstruktion zugrunde gelegt hat“ (Fetscher 1998, S. LVII), ist mittlerweile Usus. Dabei ist die Behauptung, der Begriff träfe heute noch etwas, höchst voraussetzungsvoll. Nicht zuletzt liegen zwischen dem Zeitpunkt seiner Bestimmung und der gesellschaftlichen Gegenwart über 350 Jahre. Die Voraussetzungen lassen sich auch nicht – wie es zuweilen in der Hobbes-Forschung geschieht – durch individualisierende Zuschreibungen einholen, die die Klarsichtigkeit und den Mut des Hobbesschen Genies hervorheben. Um seinem kritischen Erkenntnispotential für die neoliberale Gesellschaft zur Geltung zu verhelfen, muss stattdessen zunächst der logische Gehalt des Begriffes mit der besonderen historischen Situation, in der er entstand, konfrontiert werden, um ihn kritisieren zu können und seinen spezifischen Zeitkern zu identifizieren. Dies soll im Folgenden unternommen werden.

2. Der Begriff des bellum omnium contra omnes

Hobbes setzt den Naturzustand des bellum omnium contra omnes als einen, in dem es keine „die Menschen im Zaum haltende Macht“ gibt, „die dazu in der Lage ist, sie alle einzuschüchtern“ (Hobbes 1998, S. 96; S. 95). Demnach beschreibt er einen vor-staatlichen und keinen im modernen Sinne des Wortes[2] vor-gesellschaftlichen Zustand – schließlich ist der Krieg selbst ein gesellschaftliches Verhältnis. Die logische Abstraktion von der allgemeinen Staatsgewalt ist die grundlegende Prämisse des Gedankenexperiments und scheint es Hobbes zu erlauben, eine „Schlußfolgerung aus den Leidenschaften“ der Menschen für ihr Zusammenleben zu ziehen (ebd. S. 96). Davon ausgehend, dass die Menschen von Natur aus „hinsichtlich ihrer körperlichen und geistigen Fähigkeiten […] gleich geschaffen“ seien, schließt Hobbes auf „eine Gleichheit der Hoffnung, unsere Absichten erreichen zu können“ (ebd. S. 94f.). Die Gleichheit der Fähigkeiten und die der Hoffnungen impliziert die der Chancen. Zu dieser setzt Hobbes sodann die naturrechtliche individuelle Freiheit eines jeden, „seine eigene Macht nach seinem Willen zur Erhaltung […] seines eigenen Lebens […] einzusetzen und folglich alles zu tun, was er nach […] eigener Vernunft als das zu diesem Zweck geeignete Mittel ansieht“ (ebd. S. 99). Daraus folgt,

„daß in einem solchen Zustand jedermann ein Recht auf alles hat, selbst auf den Körper eines anderen. Und deshalb kann niemand sicher sein, solange dieses Recht eines jeden auf alles besteht, die Zeit über zu leben, die die Natur dem Menschen gewöhnlich einräumt, wie stark und klug er auch sein mag“ (ebd.)

Gleichheit und Freiheit konstituieren einen Konkurrenzkampf: „Und wenn daher zwei Menschen nach demselben Gegenstand streben, den sie jedoch nicht zusammen genießen können, so werden sie Feinde und sind […] bestrebt, sich gegenseitig zu vernichten oder zu unterwerfen“ (ebd. S. 94f.). Dieser Kampf ist gleichbedeutend mit dem Zustand, „der Krieg genannt wird, und zwar […] Krieg eines jeden gegen jeden“ (ebd. S. 96). Auch für solche, „die an sich gerne innerhalb bescheidener Grenzen ein behagliches Leben führen würden“, ist dieser Krieg zwingend, weil es nach Hobbes immer „einige gibt, denen es Vergnügen bereitet, sich an ihrer Macht zu weiden, indem sie auf Eroberungen ausgehen, die sie über das zu ihrer Sicherheit erforderliche Maß hinaustreiben“ – die sonst Friedfertigen sind dadurch ebenso genötigt, „durch Angriff ihre Macht“ zu mehren, da sie sich im Angesicht der wölfischen Aggressivität ihrer Mitmenschen „durch bloße Verteidigung unmöglich lange halten“ können (ebd. S. 95).

In diesem Zustand ständiger Unsicherheit schlagen Freiheit und Gleichheit in Ungleichheit und Unfreiheit um. Im bellum herrscht „beständige Furcht und Gefahr eines gewaltsamen Todes – das menschliche Leben ist einsam, armselig, ekelhaft, tierisch und kurz“ (ebd. S. 96). Im Naturzustand gibt es kein Gesetz und weder „Eigentum noch Herrschaft, noch ein bestimmtes Mein und Dein“ – jedem gehört nur das, „was er erlangen kann, und zwar so lange, wie er es zu behaupten vermag“ (ebd. S. 98; vgl. S. 190). So unterliegt „alles […] dem Wettbewerb“ (Hobbes 2010, S. 216).

Die allgemeine Konkurrenz stellt das zentrale Moment des bellum dar und verweist zugleich auf dessen autodestruktive Irrationalität. Der Wettbewerb zeitigt für Hobbes keine produktiven und fortschrittlichen Konsequenzen, wie sie ihm später im Liberalismus zugeschrieben werden; im Gegenteil ist in

„einer solchen Lage […] für Fleiß kein Raum, da man sich seiner Früchte nicht sicher sein kann; und folglich gibt es keinen Ackerbau, keine Schiffahrt, keine Waren, die auf dem Seeweg eingeführt werden können, keine bequemen Gebäude, keine Geräte, um Dinge, deren Fortbewegung viel Kraft erfordert, hin- und herzubewegen, keine Kenntnis von der Erdoberfläche, keine Zeitrechnung“ (Hobbes 1998, S. 96).

Aufgrund des elenden Lebens, das alle Menschen im Naturzustand zu führen gezwungen sind, gebieten ihnen zunächst ihre Leidenschaften, schließlich auch die Vernunft, den bellum zu befrieden. „Die Leidenschaften, die die Menschen friedfertig machen, sind Todesfurcht, das Verlangen nach Dingen, die zu einem angenehmen Leben notwendig sind[,] und die Hoffnung, sie durch Fleiß erlangen zu können“ (ebd. S. 98). Da dies laut Hobbes für alle gilt, gebietet die Vernunft schließlich den intersubjektiven Verzicht aller auf ihr ‚Recht auf alles‘. Durch einen gemeinsamen rationalen Gesellschafts-Vertrag verpflichten sich schließlich alle dazu, einen Teil ihrer Freiheit und ihrer Macht einem Souverän zu übertragen (vgl. ebd. S. 99f.). Der so konstituierte Leviathan hat durch die Macht des Schwertes für allgemeinen Frieden und Sicherheit im Innern zu sorgen (vgl. ebd. S. 101f.; 191).

Der bellum ist dadurch nicht verschwunden, seine Wurzeln leben in der wölfischen Natur des Menschen fort. Und weil ebendieses „unausrottbare Machtstreben der einzelnen den Staat ständig bedroht, kann die Souveränität nicht geteilt werden“ (Euchner 1973, S. 25). So bedarf, nach Hobbes die Irrationalität des bürgerlichen Naturzustands der Rationalität eines absolutistischen Staates, soll jener nicht an seinen Widersprüchen zugrunde gehen. Hobbes’ Betonung der Notwendigkeit ungeteilter absoluter Souveränität stellte eine Absage an den revolutionären Konstitutionalismus seiner Zeit dar. Ohne die Teilung der Macht habe es laut Hobbes nicht zu jenem Bürgerkrieg kommen können, welcher den besonderen historischen Erfahrungshintergrund seines Werkes darstellt (vgl. Hobbes 1991, S. 126).

3. Historischer Erfahrungshintergrund des bellum

Der besondere historische Erfahrungshintergrund des Hobbesschen Begriffs des bellum omnium contra omnes ist der der ersten englischen bürgerlichen Revolution (1642–1649), welche sich gegen die absolutistischen Bestrebungen Charles I. richtete, auf die Etablierung des Konstitutionalismus zielte und die in der zeitweiligen Abschaffung der Monarchie und der Ausrufung der Republik gipfelte. Die Wirren des englischen Bürgerkrieges inspirierten ohne Zweifel jene Konstruktion des chaotischen Naturzustands, die 1651 veröffentlicht wurde. Sie kamen durch politische, nationale, religiöse und ökonomische Frontstellungen zustande, die sich gegenseitig immer wieder überlagerten: Es kämpften die Royalisten gegen das House of Commons, Schotten, Iren und Waliser gegen Engländer, Katholiken gegen Protestanten, Presbyterianer gegen Independenten, die Leveller gegen die neuen und alten Eliten usw. (vgl. Haan/Niedhard 2016, S. 168–182). Über ein Jahrzehnt herrschte in England Bürgerkrieg statt eines Souveräns – in Hobbes’ Worten: Behemoth statt Leviathan. „[M]an kann die Lebensweise, die dort, wo keine allgemeine Gewalt zu fürchten ist, herrschen würde, aus der Lebensweise ersehen, in die solche Menschen, die früher unter einer friedlichen Regierung gelebt hatten, in einen Bürgerkrieg abzusinken pflegen“ (Hobbes 1998, S 97). Hobbes selbst verbrachte das Jahrzehnt im Exil, zumeist am Hofe von Maria Henriette von Frankreich, Schwester von Ludwig XIV. und Gemahlin von Charles I. (vgl. Münkler 1993, S. 32).

Obgleich es kaum möglich ist, „die Erfahrung des Bürgerkriegs für sein Denken zu überschätzen“ (Münkler 1991, S. 224), stellte dieser lediglich den unmittelbaren Anlass für den Begriff des bellum dar. Denn schon vor der Erfahrung des Bürgerkriegsjahrzehnts schrieb Hobbes (1959): „Der Mensch ist ein Wolf für den Menschen“ (ebd. S. 59). Als der allgemeine historische Erfahrungshintergrund des Begriffs muss der Übergang von der alten feudalen zur neuen bürgerlichen Ordnung angesehen werden. Dieser Übergang, in welchem die bürgerliche Revolution katalysatorisch wirkte, hatte seine Anfänge in England bereits mehrere Jahrhunderte zuvor.

Politisch vollzog sich die Auflösung des englischen Feudalsystems mit der Implementierung eines absolutistischen Zentralstaats im 16. Jh., wodurch die Macht des Feudaladels drastisch beschränkt wurde. Es entstand ein rationaler Absolutismus, welcher das aufstrebende Bürgertum religiös und politisch zu unterdrücken trachtete, ökonomisch von diesem jedoch abhängig war. Dadurch entwickelte sich eine relative Machtstellung der neuen Bourgeoisie, die sich in der Institution des House of Commons politisch vergegenständlichte (vgl. Haan/Niedhardt 2016, S. 121). Der Widerspruch zwischen Unterdrückung und Abhängigkeit führte schließlich sowohl zum Versuch der Implementierung eines Willkür-Absolutismus durch Charles I. als auch zu dessen Scheitern: Von 1629 bis 1640 regierte er als Alleinherrscher mit einem radikal anti-bürgerlichen Programm, ohne das House of Commons einzuberufen. Im Krieg gegen die Schotten sah sich der Monarch jedoch gezwungen, das Parlament wieder einzuberufen, um finanzielle Hilfe zu erhalten. Weil das Parlament seine Unterstützung an unerhörte Mitbestimmungs- und Freiheitsforderungen knüpfte, löste es Charles jedoch nach drei Wochen wieder auf. Dies evozierte Unruhen, die den Anfang des englischen Bürgerkriegs markierten. Der Niedergang der alten Ordnung vollzog sich demnach politisch in der Transformation des Feudalismus in einen Absolutismus und schließlich in der Krise desselben: Der König wurde im Zuge der ersten englischen bürgerlichen Revolution zunächst aus dem Land gejagt und später – am 30. Januar 1649 – hingerichtet. Vier Monate später wurde England zur Republik ausgerufen (vgl. ebd. S. 167–188). Dieser folgte die Diktatur Cromwells, dann 1660 die Restauration und schließlich die zweite englische bürgerliche Revolution 1688–89, welche die erste in wesentlichen Punkten bestätigte und eine konstitutionelle Monarchie implementierte (vgl. Hill 1977, S. 136).

Ökonomisch begann die Auflösung des englischen Feudalsystems noch vor dessen politischer Erosion, wurde durch diese jedoch wesentlich beschleunigt. So wurden seit dem 13. Jh. sukzessive die Binnenzölle abgeschafft, wodurch die Entstehung nationaler Märkte begünstigt wurde (vgl. Stapelfeldt 2006, S. 67). In der zweiten Hälfte des 14. Jh. war die Leibeigenschaft bereits vollkommen verschwunden. „Die ungeheure Mehrzahl der Bevölkerung bestand damals und noch mehr im 15. Jahrhundert aus freien, selbstwirtschaftenden Bauern“ (Marx 1965, S. 744f.). Durch die enclosures ab dem 15. Jh. – die Einhegung von Gemeindeland zum Zwecke privater, warenförmiger Viehzucht vor allem für den Export – wurde vielen Menschen die Subsistenzgrundlage entzogen. Häufig wurden sie nicht nur ihres Ackerlandes beraubt, sondern auch von ihren Wohn- und Arbeitsstätten vertrieben. Massenweise Verelendung der ehemals leibeigenen Bevölkerung war die Folge (vgl. Haan/Niedhardt 2016, S. 82–86).  

Unmittelbaren Anstoß für diese Entwicklung gab „das Aufblühn der flandrischen Wollmanufaktur und das entsprechende Steigen der Wollpreise“ (Marx 1965, S. 746), m. a. W. die mit der Integration Englands in den damals von den Niederlanden dominierten Weltmarkt einhergehende steigende Bedeutung der Wollproduktion für den Export. Die enclosures führten dazu, dass die Landbevölkerung „sich massenhaft in Bettler, Räuber, Vagabunden“ verwandelte (ebd. S. 762). Eine weitere Konsequenz waren Landflucht und Verstädterung, denn viele waren gezwungen, sich für ihren Lebensunterhalt in den städtischen Manufakturen zu verdingen. So entstand das städtische Proletariat (vgl. Haan/Niedhardt 2016, S. 73).[3]

Die Lohnarbeitenden waren im traditionellen Sinne unfrei: Durch die „Blutgesetzgebung“ ab dem 16. Jh. wurden die Enteigneten, Vagabundierenden und Pauperisierten zur Arbeit gewaltsam gezwungen, den Erfordernissen des Manufakturbetriebs entsprechend diszipliniert, durch Vereinigungs- und Zunftverbote atomisiert und ihr Arbeitslohn systematisch herabgedrückt (Vgl. Marx 1965, S. 761; vgl. ebd. S. 761–770). Die Gewalt, welche das Elend dieser Menschen bedingte, war politisch und physisch und nicht abstrakt-ökonomisch (vgl. Gerstenberger 2018, S. 73–78).

Gewinner und sozialer Träger dieser Entwicklung war das neue Bürgertum, namentlich die Gentry, der niedere Land-Adel, der sich durch die enclosures zu einer Klasse von Großgrundbesitzern und agrarischen Kapitalisten entwickelte, weiterhin die Handelskapitalisten, welche von diesen Produktionsrationalisierungen profitierten, und schließlich die Manufakturisten, welche von der gewaltsamen Belebung des Arbeitsmarktes profitierten (vgl. Haan/Niedhardt 2016, S. 85–107). Aus diesen drei Gruppen speiste sich maßgeblich das House of Commons – sie waren, bei aller Uneinigkeit untereinander, auch die maßgeblichen Subjekte der ersten englischen bürgerlichen Revolution (vgl. ebd. S. 177–182). In dieser entluden und beschleunigten sich die skizzierten politisch-ökonomischen Entwicklungen. Ziel war die Implementierung eines merkantilistischen Staats, welcher das Recht auf Privateigentum garantierte, eine Handels- und Zollpolitik verwirklichte, die den Außenhandel begünstigte und die absolutistische Willkürherrschaft beendete, indem die Verwaltung rationalisiert und der Souverän der Verfassung untergeordnet wurde, welcher also m. a. W. der Durchsetzung von Verhältnissen freier Konkurrenz den Weg bereitete (vgl. Stapelfeldt 2006, S. 91f.).[4]

Der besondere wie allgemeine Erfahrungshintergrund des Hobbesschen Begriffs des bellum omnium contra omnes ist demnach die „sogen. ursprüngliche Akkumulation“ (Marx 1965, S. 766). In ihrem Verlauf konstituierte sich die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft. Die erste englische bürgerliche Revolution bildete den vorläufigen Höhepunkt dieser Entwicklungen, wodurch dieselben entscheidend beschleunigt wurden. Zu Hobbes Zeiten war die Scheidung von Produzierenden und Produktionsmitteln bereits fortgeschritten. Maßgebliche gesellschaftliche Gruppen waren entweder proletarisiert oder bourgeois. Es existierte bereits ein Arbeitsmarkt und ein Binnenmarkt vor allem für Agrarwaren – die Subsistenzökonomie war dagegen am Verschwinden (vgl. Haan/Niedhardt 2016, S. 29–36, 70f., 82). England war im Weltmarkt integriert und sollte diesen bald dominieren. Freilich war die bewusstlose Herrschaft des Kapitals noch nicht durchgesetzt und die Entwicklung vom Handels- zum Industriekapitalismus noch nicht vollzogen. Die später durch die kapitalistischen Verhältnisse vermittelte und von den bürgerlichen Subjekten inkorporierte Gewalt befand sich damals noch im Stadium roher Unmittelbarkeit und Äußerlichkeit (vgl. Marx 1965, S. 779).[5] Sowohl Handels-, Manufaktur- als auch Agrarkapital befanden sich jedoch auf dem Vormarsch und waren bereits stark genug, einem König, dessen Politik den neuen Notwendigkeiten der Kapitalakkumulation widersprach, den Prozess zu machen und ihm den Kopf abzuschlagen. Mit Marx (1967) lässt sich das so fassen, dass das „hinreichend erstarkte Kapital“ im Laufe der ursprünglichen Akkumulation die historischen Schranken der alten Gesellschaft niederriss, welche „die ihm adäquate Verkehrsweise […] genierten und hemmten“ (ebd, S. 543). Während die historischen Schranken u. a. in „Zunftzwang, Regierungsmaßregelung, innren Zöllen“ bestanden[6], bezeichnet die adäquate Verkehrsweise des Kapitals den„Zusammenstoß der entfesselten, nur durch ihre eigenen Interessen bestimmten Individuen“ (ebd. S. 542, 543). Das Konkurrenzprinzip – oder wie man ironischerweise heute auch sagen könnte: ‚social distancing‘ – war demnach bereits in einem Maße entwickelt und implementiert, dass Hobbes seine maßgeblichen Momente in seiner Naturzustandskonstruktion integrieren und als autodestruktiv-irrational kritisieren konnte.

4. Kritik des bellum

Die Hobbessche Naturzustandskonstruktion intendierte eine Kritik der im Zuge ursprünglicher Akkumulation und bürgerlicher Revolution aufkommenden bürgerlich-kapitalistischen Tendenzen. Im Begriff des bellum omnium contra omnes wird der merkantilistische Zusammenhang von Konkurrenz, Gewalt und autodestruktiver Irrationalität kritisch zugespitzt: Er macht die Restitution absoluter Souveränität notwendig. Es scheint daher zunächst, dass die Hobbessche Kritik voll und ganz auf dem Standpunkt des Alten stehe und sich gegen den Übergang zum Neuen stemme. So lehnte Hobbes die aufstrebende und aufbegehrende Handelsbourgeoisie in den englischen Städten ab und wandte sich gegen die Idee des Individualismus, welche bspw. als Gewissensfreiheit durch die Independenten gepredigt wurde (vgl. Fetscher 1998, S. XLIV; Münkler 1991, S. 236). Insofern wäre eine Kritik des Neoliberalismus, welche sich der Hobbesschen Begrifflichkeiten blindlings bedient, rückwärtsgewandt und veraltet. Im Folgenden soll jedoch dargelegt werden, dass zentrale Momente der Hobbesschen Kritik sich bereits auf dem Standpunkt des Neuen befanden und insofern der bürgerlichen Ideologie verhaftet waren. Durch die Kritik dieser Anteile kann das kritische Erkenntnispotential des Begriffs vom bellum freigelegt werden.

Zunächst stellt die rationalistische Lehre vom Gesellschaftsvertrag eine Abkehr von der metaphysischen Idee des Gottesgnadentums des Monarchen dar (auch wenn das Aufgehen der Untertanen im Leviathan noch immer metaphysische Momente beinhaltet): Der Staat wird aus der bürgerlichen Gesellschaft (resp. Naturzustand) hergeleitet und nicht andersherum. Vor allem aber ging Hobbes von impliziten, teils bewusstlosen sozialen Vorannahmen aus, durch welche er der neuen Ordnung bei aller Kritik verhaftet blieb:

So hat Macpherson (1973) zeigen können, dass Hobbes in seiner der Naturzustandskonstruktion zugrunde liegenden ‚Schlußfolgerung aus den Leidenschaften‘ nicht wie vorgegeben von der Natur des natürlichen Menschen, sondern von der Natur des gesellschaftlichen Menschen ausging:

„Sein Naturzustand ist eine Feststellung über das Betragen, das […] Menschen, die in zivilisierten Gesellschaften leben und die Bedürfnisse zivilisierter Wesen haben, an den Tag legen würden, wenn niemand mehr die Einhaltung von Gesetz und Vertrag […] erzwingen würde. Um zum Naturzustand zu gelangen, schob Hobbes das Gesetz beiseite, nicht jedoch die gesellschaftlich erworbenen Verhaltensweisen und Begierden der Menschen“ (ebd. S. 35).

Konkurrenz, Misstrauen und Ruhmsucht – nach Hobbes die wesentlichen Streitursachen in der menschlichen Natur, charakterisieren Macpherson zufolge nicht nur den Naturzustand: Es „sind die Faktoren der gegenwärtigen bürgerlichen Gesellschaft, die sie in den Zustand der Rohheit zurückwerfen würden, gäbe es keine allgemein anerkannte Autorität“ (ebd. S. 38; vgl. Hobbes 1998, S. 95f.). Das grenzenlose Machtstreben der sich im Naturzustand befindlichen Subjekte entspricht nicht mehr „traditionellen Gebrauchswert-Bedürfnissen“, sondern bereits „kapitalistischen Tauschwert-Bedürfnissen“ (Stapelfeldt 2006, S. 208). Nur unter der Voraussetzung, dass jeder zweckrational – „von seiner eigenen Vernunft angeleitet“ – seine egoistischen Ziele verfolgt, ist das allgemeine Konkurrenzverhältnis des Naturzustands zu denken (Hobbes 1998, S. 99).

Darüber hinaus bedarf es nach Hobbes voneinander isolierte eigennützige Subjekte, die die Verbindung des Vertrages und des Tausches eingehen und dadurch den Naturzustand verlassen können:

„Immer wenn jemand sein Recht überträgt oder darauf verzichtet, so tut er dies entweder in der Erwägung, daß im Gegenzug ein Recht auf ihn übertragen werde, oder weil er dadurch ein anderes Gut zu erlangen hofft. Denn es handelt sich um eine willentliche Handlung, und Gegenstand der willentlichen Handlungen jedes Menschen ist ein Gut für ihn selbst“ (ebd. S. 101).

Mit dieser Vorstellung korrespondiert die Hobbessche Bestimmung der naturrechtlichen Freiheit der Einzelnen als „Abwesenheit äußerer Hindernisse“ (Hobbes 1998, S. 99). Da eine solche Charakterisierung wesentlich auf der Trennung der Menschen und nicht auf ihrer Verbindung beruht, handelt es sich mit Marx (1976) gesprochen „um die Freiheit des Menschen als isolierter auf sich zurückgezogener Monade“ (ebd. S. 364). Ein solches Recht der Freiheit sei „das Recht dieser Absonderung, das Recht des beschränkten, auf sich beschränkten Individuums. Die praktische Nutzanwendung […] der Freiheit ist das […] Privateigentum […]“ (ebd. S. 364). Entsprechend wies auch Hobbes’ Begriff des Eigentums bereits bürgerliche Züge auf. Als Privates war es zumindest den Mitmenschen gegenüber exklusiv: „[D]as Eigentum eines Untertans an seinem Boden“ bestehe in dem „Recht […], alle anderen Untertanen von dessen Benutzung auszuschließen“ (Hobbes 1998, S. 191).[7] Es ist demnach das Recht, „ohne Beziehung auf andre Menschen, unabhängig von der Gesellschaft, sein Vermögen zu genießen und über dasselbe zu disponieren, das Recht des Eigennutzes“ (Marx 1976, S. 364). Sowohl Privateigentum als auch individuelle Freiheit – deren Einheit im Besitzindividualismus des 17. Jh. bestand – können laut Hobbes im Naturzustand nicht dauerhaft existieren; erst der Leviathan vermag sie zu sichern (vgl. Macpherson 1973, S. 295–304).

Hobbes setzte also implizit „vereinzelte Einzelne“ voraus (Marx 1967, S. 6). Doch indem er deren spezifische Charakteristika als anthropologische Naturkonstanten setzt, abstrahiert er von ihrer grundlegend gesellschaftlichen Konstitution – davon, dass „vereinzelte Einzelne […] nur in der Gesellschaft sich vereinzeln“ können (ebd.). Zwar impliziert der Begriff des bellum den Zwang zur Vereinzelung, doch erscheint dieser selbst lediglich als Konsequenz der wölfischen Natur des Menschen und nicht als Voraussetzung der Vereinzelung.  Nicht ohne Grund beginnt das Werk Leviathan, welches Hobbes als logisches System von aufeinanderfolgenden Deduktionen abgefasst hat, mit der Natur des Menschen. Mit dieser Individualisierung gesellschaftlicher Verhältnisse stand Hobbes bereits auf dem Standpunkt bürgerlicher Ideologie.

Hobbes’ ambivalent erscheinendes Verhältnis zur neuen Ordnung ist Ausdruck der gesellschaftlichen Situation des Übergangs, in der neue und alte Kräfte zeitgleich wirken, mal in Widerspruch und mal in Harmonie zueinander stehen. Diese eigentümliche Konstellation führt dazu, dass die Hobbessche Kritik nicht nur nicht radikal ausfällt, sondern sogar in Apologie umschlägt: in die Verdinglichung des bürgerlichen Konkurrenzverhältnisses zu einem– wenn auch hypothetischen – Naturzustand, der auch durch die Herrschaft des Leviathans nicht verschwindet. So hat Hobbes eine politische Theorie der „autoritäre[n] Herrschaft über das Bürgertum zu dessen Gunsten“ (Euchner 1973, S. 28) formuliert. Im Behemoth formulierte Hobbes 1668 in Bezug auf das aufbegehrende Bürgertum der Städte:

„ich betrachte den größten Teil der reichen Leute […] als Menschen, die auf nichts anderes als auf ihren augenblicklichen Nutzen sehen […]. Wenn sie verstanden hätten, von wie großem Wert es gewesen wäre, ihr Wohl in Gehorsam gegenüber ihrem gesetzmäßigen Herrscher zu wahren, hätten sie sich nie auf die Seite des Parlaments geschlagen, und so wäre es nie nötig gewesen, zu den Waffen zu greifen“ (Hobbes 1991, S. 142).

Es ist jedoch auch diese Situation des Übergangs, in der das Neue noch unverhüllt zutage tritt. Und hierin liegen Aktualität und Erkenntnispotential des Begriffs des bellum begründet. Reduziert „man Hobbes’ universellen Anspruch auf ein historisches Maß“ (Macpherson 1973, S. 25) und geht also davon aus, dass es der bellum ist, der die Menschen zu Wölfen macht, und nicht umgekehrt ihre wölfische Natur den bellum konstituiert, so lässt sich der kritische Gehalt des Begriffes retten. Er verweist dann zunächst auf den grundlegenden Antagonismus der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, vor dessen Hintergrund sich notwendig die Frage nach ihrer paradoxen Einheit stellt. Gleichzeitig bringt er ihr paradigmatisches Gewaltverhältnis auf den Begriff, indem er historisch Zeugnis von der ursprünglichen Akkumulation ablegt und logisch das Fortleben der Gewalt in dieser Gesellschaft darstellt. Weiterhin beschreibt er die gesellschaftliche Irrationalität bei gleichzeitiger Zweckrationalität der Teile, welche immer wieder in Irrationalität umzuschlagen droht. Die kompetitive Freiheit der Einzelnen schlägt im bellum in kollektive Unfreiheit um: Analog sind auch nach Marx (1967) nicht „die Individuen […] frei gesetzt in der freien Konkurrenz; sondern das Kapital ist frei gesetzt“ (ebd. S. 544).

Diese freie Konkurrenz, welche das Wesen des bellum ausmacht, ist begrifflich schließlich „nichts als die innre Natur des Kapitals, seine wesentliche Bestimmung, erscheinend und realisiert als Wechselwirkung der vielen Kapitalien aufeinander, die innre Tendenz als äußerliche Notwendigkeit“ (ebd. S. 317). Der bellum omnium contra omnes lässt sich daher charakterisieren als die bewusstlose Vermittlung der besonderen Einzelnen mit- und gegeneinander, durch welche das Kapitalverhältnis als allgemeines Gesetz gesetzt wird (vgl. ebd. S. 559). So bezeichnet der bellum das grundlegende Prinzip bürgerlich-kapitalistischer Vergesellschaftung: das irrationale Gewaltverhältnis zwischen vereinzelten Einzelnen, welche zueinander in Konkurrenz stehen, indem sie ihre antagonistischen Privatinteressen verfolgen. Dieses kritische Erkenntnispotenzial des Begriffs lässt sich auch für die Analyse der neoliberalen Gegenwart nutzen, deren ‚spontane Ordnung‘ durch die Vermittlung ‚sozialer Distanzierung‘ entsteht. Seine einfache Subsumtion auf heutige Verhältnisse wäre jedoch ahistorisch. Um ihr zu Aktualität zu verhelfen, bedarf es daher zunächst – zum Abschluss dieses Beitrages – der Reflexion auf den spezifischen Zeitkern der Hobbesschen Kritik.

5. Zeitkern des bellum

Einerseits gleicht der bellum omnium contra omnes „dem Modell einer perfekten Konkurrenzgesellschaft“ (Euchner 1973, S. 25). Andererseits vermengt der Begriff „zwei Zustände miteinander […]: den der […] Konkurrenz […] und den rohen Zustand des Krieges“ (Macpherson 1973, S. 42). Der bellum ist Inbegriff spontaner Unordnung vermittels ‚sozialer Distanzierung‘. In diesem unmittelbaren Zusammenhang von Konkurrenz, Gewalt und Irrationalität verweist der Hobbessche Naturzustandsbegriff auf die politisch-ökonomische Wirklichkeit des Merkantilismus. Hierin liegt seine historische Wahrheit – sein Zeitkern (vgl. Horkheimer/Adorno 2008, S. IX). 

Der Zusammenhang von Gewalt und Konkurrenz spiegelt sich nirgends so deutlich wider wie in der aggressiven Handelspolitik des merkantilistischen Englands[8], welche zunächst unter Cromwell (1653–1658) implementiert, in der Restauration in wesentlichen Punkten übernommen und schließlich von Wilhelm III. (1689–1702) und dem älteren Pitt (1756–1761; 1766–1768) erneuert wurde. Ihre bevorzugten Mittel waren kriegerische Auseinandersetzungen, Piraterie, Seeblockaden und Protektionismus, wodurch die führende Stellung Englands im Weltwirtschaftssystem begründet wurde (vgl. Hill 1977, S. 124–135). Die britische Politik zeichnete sich im 18. Jh. „durch systematische Aggressivität aus“ (Hobsbawm 1972, S.–48). Im Jahr, in dem der Leviathan veröffentlicht wurde (1651), trat auch die erste Navigationsakte in Kraft. Sie ermöglichte England eine einheitliche nationale Kolonialpolitik und legte fest, daß der Handel mit den englischen Kolonien englischen Schiffen vorbehalten bleiben sollte. Dadurch sollte der von den Niederlanden dominierte Zwischenhandel ausgeschaltet werden. Dem folgte der erste Englisch-Niederländische Seekrieg 1652–54, in dessen Folge die Niederlande das englische Handelsmonopol mit seinen Kolonien anerkennen mussten. Die Navigationsakte und weitere Seekriege brachen in der zweiten Hälfte des 17. Jh. die niederländische Vormachtstellung im Welthandel. Nachdem die Niederlande geschlagen waren, richtete sich die englische Außen- und Handelspolitik gegen den neuen Hauptkonkurrenten Frankreich. In den fünf großen Kriegen des 18. Jh., an denen England teilnahm, – dem Spanischen (1701–14) und dem Österreichischen Erbfolgekrieg (1740–48), dem Siebenjährigen (1756–63) und dem Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg (1776–83) sowie den Revolutions- und Napoleonischen Kriegen (1793–1815) – „befand sich Großbritannien nur in einem einzigen eindeutig in der Defensive“ (Hobsbawm 1972, S. 48; vgl. ebd. S. 47–51).

Die außerökonomische Gewalt richtete sich also sowohl gegen konkurrierende Handelsnationen wie die Niederlande, Frankreich, Spanien oder Portugal als auch, wie oben dargelegt, gegen das entstehende Proletariat. Darüber hinaus war sie integraler Bestandteil der Kolonialherrschaft, welche ein weiteres „Hauptmoment […] der ursprünglichen Akkumulation“ darstellte (Marx 1965, S. 779). Die Kaufleute und ihre Handelsgesellschaften, allen voran die Eastindia Company, verdienten in den Kolonien „mit Methoden Geld […], die von Plünderung und Piraterie kaum zu unterscheiden waren“ (Hill 1977, S. 128). Im Dreiecks- und Sklavenhandel erfuhr der Zusammenhang von roher Gewalt und Profitstreben eine weitere Intensivierung:

„[D]ie Sklaven wurden mit britischen Exporten gekauft und auf britischen Schiffen transportiert. […] Sklaven konnten auf den westindischen Inseln für das fünffache dessen verkauft werden, was sie an der afrikanischen Küste kosteten. Daher brauchten sich die Sklavenhändler über Transportverluste (bis zu 20 Prozent) [sic!], die sich unter den katastrophalen Zuständen auf den Sklavenschiffen nicht vermeiden ließen, auch keine besonderen Sorgen zu machen“ (ebd. S. 183f.).

Das irrationale Moment der Epoche des Merkantilismus und sein Zusammenhang zu Gewalt und Konkurrenz begründet sich im merkantilistischen Dogma des ungleichen Tausches. Dieses bestimmte die Sphäre des Außenhandels, in welchem das primäre Mittel nationaler Bereicherung bestand. Die restriktive Zoll- und Kolonialpolitik sorgte für eine aktive Handelsbilanz, indem fast ausschließlich (unbearbeitete) koloniale Rohstoffe importiert und vor allem (bearbeitete) Manufakturwaren exportiert wurden – die Wertdifferenzen ließen sich die Händler zumeist in kolonialen Edelmetallen auszahlen. Das „zentrale Medium der merkantilistischen Bereicherung“ funktionierte demnach auf Kosten vorbürgerlicher Regionen; der ungleiche Tausch implizierte eine ungleiche Entwicklung (Stapelfeldt 2006, S. 165).

Eine analoge Spaltung existierte innerhalb der englischen Nationalökonomie selbst: auf der einen Seite die Sphäre der Zirkulation, des Handels und der ökonomischen Bereicherung, auf der anderen Seite die Sphäre der Produktion, der Ausbeutung durch außerökonomische Gewalt für den Export. Die Produktion war Anhängsel des Außenhandels: Produziert wurde zu möglichst geringen Kosten vor allem für den Export. Damit verbunden war das merkantilistische Dogma, dass „die Löhne […] so niedrig wie möglich gehalten werden [müssten]“ (Hill 1977, S. 209). Daraus folgte die politisch-administrative Festsetzung von Maximallöhnen durch Friedensrichter, was ebenfalls ein Verhältnis ungleichen Tausches implizierte: zwischen unfreien Lohnarbeitenden und freien Besitzenden.

Die handelskapitalistische Ökonomie stellte demnach einen Zusammenhang dar, welcher nicht aus sich selbst heraus Reichtum hervorzubringen vermochte: Einerseits lagen die Quellen des Reichtums außerhalb des Systems – in den Rohstoffen der weltgesellschaftlichen Peripherie der Kolonien und in der Arbeitskraft von unfreien Lohnarbeitenden und Versklavten. Andererseits war die Form der Aneignung dieses Reichtums außerökonomische und meist rohe Gewalt – in der Manufaktur, in den Kolonien, auf hoher See und auf den Sklavenmärkten und -plantagen. So war die merkantilistische Politik-Ökonomie nicht in der Lage, sich selbst zu reproduzieren. Indem systematischer Raubbau an den Quellen des Reichtums betrieben wurde, war sie autodestruktiv-irrational. Darin bestand die Notwendigkeit der politischen Integration des merkantilistischen bellum durch den Leviathan: Der Staat hatte immer neue Quellen des Reichtums zu erschließen und die Kontrolle über die bereits Erschlossenen auszuweiten.

Diese Strategie stieß im 18. Jh. an ihre Grenzen, da sie die inneren Widersprüche der Epoche lediglich verdrängte. Ebendiese führten schließlich zur Liberalisierung des bellum: zum scheinbaren Auseinandertreten von Gewalt, Irrationalität und Konkurrenz. Im Liberalismus erschien der bellum als ‚fair play‘, wodurch er sich vom Primat des Staates emanzipieren und zum Motor gesellschaftlichen Fortschritts avancieren konnte. In den folgenden Epochen des Imperialismus und des Staatsinterventionismus erschien der bellum dann sukzessive als verdinglichte Natur von Mensch und Gesellschaft.

Damit ist bereits der Ausblick auf eine Rekonstruktion des historisch-spezifischen Strukturwandels des bellum gegeben, die über den Merkantilismus hinausgeht. Ihr Ziel ist die erinnernde Bestimmung des Kampfs ums Dasein, der im Neoliberalismus allgegenwärtig geworden zu sein scheint. Sie geht von einem Fortdauern der irrationalen Gewaltgeschichte in der Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft aus und beleuchtet zunächst die wechselnden Konstellationen von Gewalt, Irrationalität und Konkurrenz und schließlich das Verhältnis zwischen bellum und Staat. Sie soll Gegenstand weiterer Untersuchungen sein – Fortsetzung folgt.

6. Literatur

Adorno (2019). Bemerkungen zu ‚The Authoritarian Personality‘ und weitere Texte. Berlin: Suhrkamp.

Adorno (2016) Erziehung nach Auschwitz. In: ders. Gesammelte Schriften. Band 10.2 (6. Auflage). Frankfurt am Main: Suhrkamp. S. 674–690.

Euchner, Walter (1973). Egoismus und Gemeinwohl. Studien zur Geschichte der bürgerlichen Philosophie. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Fetscher, Iring (1998). Einleitung. In: Hobbes, Thomas (1998): Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S.IX–LXVI

Gerstenberger, Heide (2018). Markt und Gewalt. Die Funktionsweise des historischen Kapitalismus. Münster: Westfälisches Dampfboot.

Haan, Heiner/Niedhart, Gottfried (2016). Geschichte Englands vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. München: C. H. Beck.

Hayek, Friedrich A. von (1991). Die Verfassung der Freiheit. Tübingen: Mohr.

Hayek, Friedrich A. von (1980). Recht, Gesetzgebung und Freiheit. Band 1: Regeln und Ordnung. München: mi-Verlag Moderne Industrie.

Hill, Christopher (1977). Von der Reformation zur Industriellen Revolution. Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Englands 1530–1780. Frankfurt am Main/New York: Campus.

Hobbes, Thomas (1959). Vom Bürger. In: ders. (1959): Vom Menschen. Vom Bürger (2. Auflage). Hamburg: Felix Meiner. S. 59–327.

Hobbes, Thomas (1998). Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Hobbes, Thomas (2010). Leviathan. Erster und Zweiter Teil. Stuttgart: Reclam.

Hobbes, Thomas (1991). Behemoth oder Das Lange Parlament. Frankfurt am Main: Fischer.

Hobsbawm, Eric (1972). Industrie und Empire I. Britische Wirtschaftsgeschichte seit 1750. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Horkheimer, Max/Adorno Theodor W. (2008). Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt am Main: Fischer.

Krauthausen, Raul (2021). „Ich fühle mich nicht ausreichend geschützt“. In: ze.tt, https://www.zeit.de/zett/politik/2021-01/raul-krauthausen-risikopatient-corona-pandemie-impfstrategie-kritik (letzter Zugriff: 13.02.2021).

Macpherson, Crawford Brough (1973). Die politische Theorie des Besitzindividualismus. Von Hobbes bis Locke. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Marx, Karl (1976). Zur Judenfrage. In: Marx, Karl/Engels, Friedrich – Werke, Band 1. Berlin: Dietz. S. 347–377.

Marx, Karl (1967). Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. Wien: Europäische Verlagsanstalt.

Marx, Karl (1965). Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band. In: Marx, Karl/Engels, Friedrich – Werke, Band 23. Berlin: Dietz.

Münkler, Herfried (1991). Thomas Hobbes’ Analytik des Bürgerkrieges. In: Hobbes, Thomas (1991). Behemoth oder Das Lange Parlament. Frankfurt am Main: Fischer. S. 215–238.

Münkler, Herfried (1993). Thomas Hobbes. Frankfurt am Main: Campus Verlag.

Stapelfeldt, Gerhard (2006). Der Merkantilismus. Die Genese der Weltgesellschaft vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. Freiburg: ça ira.

Stapelfeldt, Gerhard (2012). Neoliberaler Irrationalismus. Aufsätze und Vorträge zur Kritik der ökonomischen Rationalität II. Hamburg: Dr. Kovač.

Stapelfeldt, Gerhard (2014). Aufstieg und Fall des Individuums. Kritik der bürgerlichen Anthropologie. Freiburg: ça ira.


[1] „Mittlerweile habe ich allerdings die Sorge, dass der Begriff ‚Risikogruppe‘ neu besetzt wird: als die Gruppe, die ein Risiko für die Wirtschaft darstellt. Aus CDU und vor allem FPD [sic] hört man immer wieder, man müsse die Risikogruppen schützen, um den Lockdown zu beenden. Da werde ich hellhörig, für mich heißt das: Wir müssen diese Gruppe also nicht schützen, um sie zu schützen, sondern damit die Wirtschaft und das ‚normale‘ Leben weitergehen können.“ (Krauthausen 2021, S. 2).

[2] Ich schreibe „im modernen Sinne“, da Hobbes an vielen Stellen durchaus von einem vorgesellschaftlichen Naturzustand schreibt, obwohl er lediglich von der Staatsmacht abstrahiert. Dies liegt daran, dass für Hobbes wie für viele andere seiner Zeit Gesellschaft nur als staatlich konstituierte vorstellbar war – ganz im Sinne der politischen Gesellschaft des Feudalismus.

[3] 1648 waren einer Schätzung Macphersons zufolge bereits ca. 50 Prozent der gesamten Bevölkerung lohnarbeitend, auch wenn nach Hill diejenigen, welche ausschließlich von Lohnarbeit lebten, im 17. Jh. noch in der Minderheit waren (Hill 1977, S. 121, S. 141; Macpherson 1973, S. 311–327).

[4] Zu deren Verwirklichung im Zuge der ersten englischen bürgerlichen Revolution: vgl. Hill 1977, S. 106, 115–119, 144f.

[5] Lediglich die besitzenden Klassen, zu welchen auch die aufstrebenden bürgerlichen gehörten, bestanden aus freien und zunehmend gleicheren Subjekten, welche in der Lage waren, sich gegeneinander zu vereinzeln. Sie waren die Subjekte des bellum. Lohnarbeitende, Versklavte und die Eingeborenen der Kolonien wurden stattdessen als Objekte von Herrschaft behandelt.

[6] Zu deren sukzessiver Beseitigung im Zuge der Ersten Bürgerlichen Revolution: vgl. Hill 1976, S. 130; 136

[7] Die Forderungen der Revolutionäre gingen freilich noch weiter. Nach Hobbes sei der Souverän nicht von der Benutzung des Privateigentums auszuschließen (vgl. Hobbes 1998, S. 191).

[8] Die historische Betrachtung beschränkt sich an dieser Stelle auf Großbritannien. Dies begründet sich einerseits darin, dass der Hobbessche Begriff des bellum auf englische Verhältnisse referiert. Andererseits entwickelte sich England in dieser Zeit zum Zentrum der bürgerlich-kapitalistischen Weltgesellschaft, welches als Pionier der Industrialisierung bis zum Ende des 19. Jh. die kapitalistische Weltwirtschaft dominierte.

Kritische Soziale Arbeit: quo vadis?

Anlässlich einer aktuellen Debatte ein Gastbeitrag von Michael May

Zum Anlass dieses Beitrages

Dass der im politischen und medialen Diskurs propagierte Slogan der „Systemrelevanz“ auch in einer Kampagne des Deutschen Berufsverbandes für Soziale Arbeit (DBSH)[1] aufgegriffen worden ist, hat im Kontext Sozialer Arbeit eine kontroverse Debatte angestoßen. So hat im Blog Soziale Arbeit der Deutschen Gesellschaft für Soziale Arbeit (DGSA) Anja Eichhorn[2] das „fragwürdige[] Etikett“ von „Systemrelevanz“ als ein „von außen vergeben[es], immer auch politisch motiviert[es] dahingehen problematisiert, „ob mit ihm nicht die Gefahr der Fremdmandatierung Sozialer Arbeit“ einhergehe. Demgegenüber sei „Soziale Arbeit […] per definitionem (IFSW/IASSW 2014) aber gerade für diejenigen relevant, die von sozialer Ausgrenzung oder Unterdrückung betroffen oder bedroht sind“, und ziehe „ihre Interventionsmotive häufig gerade aus den systemimmanenten Bedingungen, die zu Ausgrenzung, sozialem Ausschluss und Unterdrückung beitragen“.

Sehr viel weiter geht die vom Arbeitskreis Kritische Soziale Arbeit Hamburg (AKS HH) in Form eines „Zwischenrufs“ formulierte Kritik[3]: Vor dem Hintergrund, dass – verschärft durch die Corona-Pandemie – für immer mehr Menschen unter den gegenwärtigen Bedingungen die Existenzgrundlage schwinde, müsse Soziale Arbeit als sozialräumliche und kollektive Infrastruktur organisiert und in diesem Sinne als „systemtransformationsrelevant“ verstanden werden. In diesem Sinne appelliert der AKS HH: „Seien wir systemtransformationsrelevant und lasst uns die Krise nutzen, um alternative Ideen und Praxen zu entwickeln!“

In einem Beitrag für diese Zeitschrift haben Marcus Beisswanger und Norman Böttcher (2021) unter dem Titel „Soziale Arbeit distanzgemindert? Ein Plädoyer für systemische Irrelevanz“ sich sowohl kritisch mit der Argumentation des DSBH wie auch der des AKS HH auseinandergesetzt. Sie plädieren dabei für einen „Mut zur Selbstdistanzierung, welcher auch in der Corona-Krise dem eigenen Unbehagen an der zweiten Natur, dem ›Sozialen‹, nachzuspüren vermag, ohne dieses Unbehagen blindlings durch transformatorische Praxis auflösen zu wollen“ (ebd., S. 89). Demgegenüber müsste ihrer Ansicht nach eine „kritische (sozialpädagogische) Praxis […] erprobt werden im Bewusstsein der eigenen, systemischen Irrelevanz und der Unmöglichkeit einer umfassenden Transformation, also darüber, dass sich allein durch sie keine transformatorische oder gar revolutionäre Situation herstellen lässt“ (ebd., S. 88).

In ihrem Beitrag haben sie bereits einige Kritikpunkte vorweggenommen, die sich auch in einer kritischen Positionierung des AKS Leipzig an dem vom AKS Braunschweig/Wolfenbüttel organisierten Vernetzungstreffen vom 26./27. November 2021 unter dem Motto „Transformative Soziale Arbeit“ wiederfinden. Geleitet sind diese – wie der AKS Leipzig formuliert – von der Intention, „die gesellschaftliche Funktion der Sozialen Arbeit im kapitalistischen System zu hinterfragen und die Soziale Arbeit nicht hoch zu stilisieren“, artikuliere sich darin doch „ein verkürztes Verständnis der historisch-gewachsenen systemstabilisierenden Funktion Sozialer Arbeit“.

Da der AKS Leipzig seine Kritik explizit als Anregung verstanden wissen will, „zu den genannten Kritikpunkten ins Gespräch“ zu kommen, will ich dies gerne aufgreifen. Obwohl ich seit Jahren als ein im Bereich Forschung und Lehre Beschäftigter die Arbeit der AKS RheinMain und Frankfurt begleite, handelt es sich um meine eigene Positionierung. Diese greift ein auf Marx zurückgehendes Verständnis von Dialektik auf, welches von einem „Primat der praktischen Dialektik“ (Haug 2008, S. 30) als einer „Endlichkeitskunst“ (ebd.) ausgeht, deren „Notwendigkeit […] in der unaufhebbaren Nichtidentität von Denken und Sein“ (ebd.) gründet. Die sich „ihrem umfassenden Anspruch nach [als] eine Philosophie der gesellschaftlichen Praxis“ (Schmied-Kowarzik 2019, S. 11f.) verstehende theoretische Dialektik sieht sich im Dienste dieser praktischen, indem sie „in kritischer Analyse der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse deren strukturelle Widersprüche und destruktive Tendenzen gegenüber den in ihr tätigen Individuen aufzudecken versucht, um dadurch sowohl die Notwendigkeit einer radikalen Umwälzung in Richtung auf eine solidarische Gesellschaft aufzuzeigen“ (ebd., S. 11f.), als auch mäeutisch eine „sich und die gesellschaftlichen Verhältnisse verändernden revolutionären Praxis“ (ebd., S. 12) der „tätigen Individuen“ (ebd.) zu befördern. Es gilt dabei den „Bann der Dialektik der Aufklärung im Doppelsinn ihres Gegenstands und ihrer Denkweise, zu durchbrechen, und, sei es auch nur punktuelle und momentan, befreiende Beweglichkeit zurückzugewinnen“ (Haug 2008, S. 31) sowie Entfremdung momenthaft zu überwinden (vgl. May 2022b).

Vor dem Hintergrund, dass Beisswanger und Böttcher am Vorschlag des AKS HH „den präziseren Begriff der »Systemtransformationsrelevanz« als Maßstab für die grundlegende Veränderung aller gesellschaftlichen Sphären in Richtung auf Kooperation und Emanzipation“ kritisieren, weil auf diese Weise „nicht der Begriff des Systems als solcher kritisiert, seziert und auf seinen Sinngehalt hin analysiert, sondern durch einen Gegenbegriff ersetzt wird“ (Beisswanger und Böttcher 2021, S. 82), will auch ich mich – gestützt auf jene theoretische Dialektik – zunächst kritisch mit diesen Begriffen auseinandersetzen, zumal die beiden meinen, diesbezüglich „nicht nur auf eine verkürzte Form der Begriffsarbeit, sondern eben auch auf die besondere Bedeutung schließen“ zu können, „die der Sprache im Kontext von Gesellschaftskritik beigemessen wird“ (ebd.). Auf dieser Grundlage will ich dann jeweils meine Position zu den Perspektiven einer praktischen Dialektik Kritischer Sozialer Arbeit zur Diskussion stellen.

Zur Problematik des Systembegriffes

Geteilt wird von mir (vgl. May 2010, S. 134ff.) die Kritik von Beisswanger und Böttcher an den Systemtheorien sowohl von Luhmann als auch von Bunge, auf den sich die sog. Zürcher Schule (Staub-Bernasconi, Obrecht et al.) stützt. Auf der einen Seite kritisieren sie darüber hinaus, dass eine „theoretische Reflexion, die Gesellschafts- durch Systemkritik ersetzt, […] sich selbst in der Betriebsamkeit, aus der sie sprunghaft auszubrechen versucht“ (Beisswanger und Böttcher 2021, S. 84), verfange. Auf der anderen Seite rekurrieren sie selbst auf einen auch bei ihnen nicht hinreichend geklärten Systembegriff. Zunächst scheint es, dass sich dieser bei ihnen auf die Konstitution des bürgerlichen Sozialstaates bezieht. So kritisieren sie die „terminologische Unbestimmtheit des DBSH-Appells […] hinsichtlich […] der normativen Grundlage seiner Kritik in einem Staat, dessen Grundgesetz formal genau auf diesen einklagbaren Menschenrechten fußt“ (ebd., S. 78), auf die sich in ihm bezogen wird, wenn darin Systemrelevanz für die Soziale Arbeit nicht nur als Aufrechterhaltung des „Gesellschaftssystem in seiner aktuellen Form“ bestimmt wird, sondern mit diesem Begriff zugleich verbunden wird, „es auch dahingehend zu verändern, dass Inklusion und die Umsetzung der Menschenrechte in allen Bereichen der Gesellschaft möglich werden“[4]. Wenn Beisswanger und Böttcher daraus schließen, „dass mit der besagten Veränderung kein kategorialer system change in Bezug auf die bürgerlichen Rechtsverhältnisse intendiert ist“ (ebd.), impliziert dies ja einen Systembegriff, der zunächst einmal die Struktur des bürgerlichen Rechts fokussiert, „sozialstaatliche[] Verbürgungen als individuelle Rechtsansprüche für genau spezifizierte Tatbestände zu formulieren“ (Habermas 1981, S. 531), der sich dann aber auch noch weitergehend auf das beziehen könnte, was Nancy Fraser (1994) als juristisch-administrativ-therapeutischer Staatsapparat (JAT) analysiert hat.

Auf einen sehr viel weitergehenden und dann auch nicht mehr konkret bestimmten Systembegriff scheinen sie sich aber in ihrem Postulat zu beziehen, dass erst „wenn die (kritische) Praxis und ihre Reflexion konsequent darauf ausgerichtet sind, irrelevant für das bestehende System zu sein, […]  durch diese Distanz eine angemessene Form der Gesellschaftskritik möglich [werde]. Diese kritische Praxis dürfte dabei jedoch nicht ausblenden, dass das System weder unmittelbar noch ohne weitere Beschädigung seiner Subjekte, für die es in der Transformationsphase mehr denn je der social bzw. care work bedarf, überwindbar ist. Da Soziale Arbeit ohne Reflexion bestehender Praxis und ohne Systemabhängigkeit keine wäre, ist sie per se bestenfalls ein Reformprojekt, wenngleich ein notwendiges. Und darin liegt die Wahrheit des Begriffs der Systemtransformation“ (Beisswanger und Böttcher 2021, S. 88).

Vor dem Hintergrund ihrer Kritik an einer „theoretische[n] Reflexion, die Gesellschafts- durch Systemkritik ersetzt“ (ebd., S. 84), und ihre verschiedentlichen Bezugnahmen auf Adorno könnten sie sich dabei auf dessen Begriff von Gesellschaft beziehen „als ein System, das sie [die Menschen M.M.] nicht bloß umklammert und deformiert, sondern noch in jene Humanität hinabreicht, die sie einmal als Individuen bestimmte“ (Adorno 1986a, S. 169). Adorno beansprucht damit, „auf Strukturen der Gesellschaft rekurrieren zu können, die […] dem System der Gesellschaft selber entnommen sind oder das System der Gesellschaft selber treffen, und die nicht etwa durch das szientifische Bedürfnis und die szientifische Organisation hervorgebrachte Systematisierungen oder Ordnungsschemata sind“ (Adorno 1986e, S. 581). Von entscheidender Bedeutung für Adorno ist in diesem Zusammenhang das Tauschverhältnis, welches aus seiner Perspektive „das objektiv gültige, vom Bewußtsein der einzelnen ihr unterworfenen Menschen ebenso wie von dem der Forscher unabhängige Modell alles gesellschaftlich wesentlichen Geschehenden“ (Adorno 1986b, S. 209) liefere. Vor diesem Hintergrund ist es für Adorno das Tauschverhältnis, welches dem System von „Gesellschaft als Synthesis eines atomisierten Mannigfaltigen, als reale, doch abstrakte Zusammenfassung eines keineswegs unmittelbar, ›organisch‹ Verbundenen, […] in weitem Maß mechanischen Charakter [verleiht]: es ist seinen Elementen objektiv aufgestülpt“ (Adorno 1986c, S. 321).

Zweifellos hat das Tauschverhältnis weite Teile gesellschaftlichen Lebens bis hinein in die Intimbeziehungen überformt. Und selbst die sozialstaatlichen Erbringungsverhältnisse Sozialer Arbeit wurden der Tauschlogik unterworfen – besonders prägnant im Rahmen der den aktivierenden Sozialstaat (Dahme und Wohlfahrt 2005; Dollinger und Raithel 2006) kennzeichnenden neoliberalen Maxime des Forderns und Förderns. Allerdings lassen sich nicht alle menschlichen Verkehrsformen der Tauschlogik unterwerfen. Und dies betrifft, neben Formen gemeinsamer, lustvoller Verausgabung vor allem heute unter dem Care-Begriff (vgl. May 2014) zusammengefasste Sorge-Praxen (z. B. gegenüber Kindern und Pflegebedürftigen) und auch viele darunter subsumierte Bereiche professioneller Sozialer Arbeit.

Nun verwendet Adorno den auf gesellschaftliche Verhältnisse bezogenen System-Begriff keineswegs konsistent – bis dass er „trotz der totalen Vergesellschaftung der Gesellschaft, den Versuch, sie als einstimmiges System zu konstruieren, überaus fragwürdig“ (1986f, S. 167) bezeichnet, werde doch die „anwachsende Irrationalität der Gesellschaft selbst, wie sie in den Katastrophendrohungen heute, dem offenbaren Potential der Selbstausrottung der Gesellschaft, sich manifestiert, […] unvereinbar mit rationaler Theorie. Diese kann kaum länger mehr die Gesellschaft bei einem Wort nehmen, das sie selber nicht mehr spricht“ (1986f, S. 167). Und auch seine diesbezüglichen Anschlüsse an Marx sind nicht immer unproblematisch:

Zwar finden sich diverse Formen der Rezeption der Marxschen Kapitalanalyse, die Schmied-Kowarzik (2022) jüngst noch einmal zu systematisieren versucht hat. Dabei sieht er bei den von ihm unterschiedenen „drei Varianten – der empirisch-pragmatischen sowie der strukturalen bzw. dialektischen Marx-Lektüre – […] die eigentliche Pointe der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie verloren [gehen], nämlich im Verfolg der Wertlogik des Kapitals ex negativo aufzuweisen, dass diese strukturell die Negation der arbeitenden Menschen und der Natur betreibt, obwohl sie doch ohne beide nicht zu sein vermag“ (ebd., S. 11). Wie er überzeugend herausarbeitet, ist diese „Argumentation ex negativo […] als Kritik nur deshalb möglich, weil sie – wie Marx in seinen philosophischen Frühschriften grundlegend dargestellt hat – selbst in der gesellschaftlichen Praxis gründet und sich als ein Moment im Dienste der emanzipativen Praxis versteht, durch die die arbeitenden Menschen die Negativität der wertökonomischen Logik des Kapitals durchschauen und deshalb vereinigt durchbrechen können“ (ebd.).

Adorno schließt daran an, wenn er im Hinblick auf einen über das Tauschverhältnis hinausgehenden, auf die Warenproduktion der Gesellschaft bezogenen Systembegriff vorsichtig formuliert: „Es sieht aus, als ob der Begriff der Anarchie bei Marx in einem durchaus kritischen Sinn verwandt wurde […]. Aber dahinter steht die Vorstellung von der Anarchie der Warenproduktion, also von einem Zustand, in dem die Menschen den über sie ergehenden gesellschaftlichen Gesamtprozeß als ein für jeden Einzelnen Blindes und Zufälliges erfahren. Die Idee hinter der Kritik einer solchen Anarchie ist die einer Kritik an dem über die Menschen herrschenden System“ (1986e, S. 583). Allerdings betont Marx (1983, S. 416f.), dass dieses spezifische „System des Austauschs“ (ebd.) – die „auf dem Tauschwert basierte Produktion und das auf dem Austausch dieser Tauschwerte basierte Gemeinwesen“ (ebd.), welches „die Trennung der Arbeit von ihren objektiven Bedingungen“ (ebd.) „unterstellt und produziert“ (ebd.) – nicht getrennt davon betrachtet werden könne, „wie es sich an der Oberfläche selbst zeigt, als selbständiges System“ (ebd.). Dies sei „bloßer Schein, aber ein notwendiger Schein“ (ebd.).

Angesichts dessen, dass Marx – nicht zuletzt in seinem Kapital – jenen Schein dadurch entlarvt hat, dass er „diese der kapitalistischen Produktion eigentümliche und sie charakterisierende Verkehrung, ja Verrückung des Verhältnisses von toter und lebendiger Arbeit“ (Marx 1977, S. 329) herausgearbeitet hat, handelt es sich um eine glatte Verdrehung, wenn Adorno (1986d, S. 390) es als eine „Einsicht von Marx“ (ebd.) unterstellt, dass „das System das Proletariat produziere […]. Die Menschen sind, vermöge ihrer Bedürfnisse und der allgegenwärtigen Anforderungen des Systems, wahrhaft zu dessen Produkten geworden: als ihre eigene erfassende Verdinglichung“ (ebd.). Denn hatte Marx (1990, S. 520) in seinen Pariser Manuskripten zunächst „den Begriff der entäußerten Arbeit (des entäußerten Lebens) aus der Nationalökonomie als Resultat aus der Bewegung des Privateigentums gewonnen“ (ebd.), zeigt er schon hier in seinen sogenannten Frühschriften, dass „wenn das Privateigentum als Grund, als Ursache der entäußerten Arbeit erscheint, es vielmehr eine Konsequenz derselben ist“ (ebd.), was er dann in seinem Spätwerk – dem Kapital – entsprechend wertformanalytisch ausgearbeitet hat.

So ist die lebendige Arbeit, die das Kapital als – wie Marx es dechiffriert – tote Arbeit zu seiner Verwertung bedarf, kapitalistisch nicht herstellbar (vgl. May 2004a), weshalb sich als ein zentrales Element der Herstellung der Ware Arbeitskraft dann auch die sozialstaatlich gerahmte Soziale Arbeit herausbildete. Vor diesem Hintergrund kann nur insofern von einer „Produktion des Proletariates“ als aktiver und passiver Verproletarisierung gesprochen werden, dass jener kapitalistische „Prozess der Vergesellschaftung durch die Herstellung der Warenförmigkeit der Arbeitskraft nicht ohne staatliche Politik, Sozialpolitik im weiten Sinne, möglich war und ist“ (Schaarschuch 2019, S. 259). Selbst wenn die als Lohnarbeit organisierte, professionelle Soziale Arbeit – worauf sowohl Beisswanger und Böttcher, wie auch der AKS Leipzig verweisen – zunehmend einer formellen Subsumtion unter das Kapital unterworfen ist, lässt sie sich darunter aber nicht reell subsumieren: weder von ihrem Gegenstand der (Re-)Produktion lebendigen Arbeitsvermögens her, noch, dass sie direkt einen relativen Mehrwert zu produzieren vermag (vgl. May 2014). Aus dieser Widersprüchlichkeit lassen sich – wie noch zu zeigen sein wird – auch Ansatzpunkte für eine praktische Dialektik Kritischer Sozialer Arbeit gewinnen.

Um auf den System-Begriff zurückzukommen, ist jedoch noch einmal festzuhalten, dass Marx mit seinem Kapital keineswegs beansprucht, eine Analyse des kapitalistischen Gesellschaftssystems vorzulegen, sondern „nur die innere Organisation der kapitalistischen Produktionsweise, sozusagen in ihrem idealen Durchschnitt, darzustellen“ (Marx 1978a, S. 839). Dabei geht es ihm um eine „immanent in der Logik des Kapitals argumentierende kritische Aufdeckung ihrer prinzipiellen Widersprüche“ (Schmied-Kowarzik 2019, S. 87), um – „sich streng an die gedanklichen Prämissen der bürgerlichen Ökonomie“ (Schmidt 2018, S. 53) haltend – „die Widersprüche zwischen diesen Prämissen und der gesellschaftlichen Wirklichkeit (als gedachter) und durch sie hindurch die objektiven Widersprüche der gesellschaftlichen Wirklichkeit selbst“ (Schmidt 2018, S. 53) zu analysieren. Entsprechend betont er, dass „bei dem Gange der ökonomischen Kategorien immer festzuhalten [ist], daß, wie in der Wirklichkeit, so im Kopf, das Subjekt, hier die moderne bürgerliche Gesellschaft, gegeben ist, und daß die Kategorien daher Daseinsformen, Existenzbestimmungen, oft nur einzelne Seiten dieser bestimmten Gesellschaft, dieses Subjekts, ausdrücken“ (Marx 1961, S. 637).

Zwar fallen für Marx „Familie, Staat, Recht, Moral, Wissenschaft, Kunst etc.“ (Marx 1990, S. 537) als „nur besondre Weisen der Produktion […] unter ihr allgemeines Gesetz“ (ebd.). Entsprechend kritisiert er diese auch als „entfremdete Wirklichkeit der menschlichen Vergegenständlichung, der zum Werk herausgebornen menschlichen Wesenskräfte“ (ebd.) und sieht in ihnen „darum nur de[n] Weg zur wahren menschlichen Wirklichkeit“ (ebd.). Allerdings postuliert er, dass bevor nicht alle Produktivkräfte entsprechend entwickelt sind, eine Gesellschaftsformation nie untergehen werde, und nur dann an deren Stelle neue höhere Produktionsverhältnisse träten, wenn „die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind“ (Marx 1983, S. 203). So sieht er „die neuen Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse sich […] innerhalb und gegensätzlich gegen vorhandne Entwicklung der Produktion und überlieferte, traditionelle Eigentumsverhältnisse“ (ebd.) herausbilden.

In Weiterführung dieser Überlegungen von Marx’ theoretischer Dialektik hat Lefebvre gezeigt, wie jede „menschliche Tätigkeit, die in der gesellschaftlichen Praxis bestimmte Form angenommen hat […] sich in Werken [verwirklicht], deren jedes das Ergebnis einer momentanen Totalisierung ist, einer Totalisierung durch Vorherrschaft dieser oder jener Tätigkeit (ästhetischer, juristischer oder legislativer, wissenschaftlicher, philosophischer oder gar spielerischer oder poetischer oder sonstiger Art), mithin durch Vorherrschaft dieser oder jener Repräsentation. […] Und genau dadurch erweist sie sich als partiell“ (1977 Bd. III, S. 8f.). Dargestellt hat er dabei jedoch nicht nur, wie jede dieser „Aktivität, die sich selbständig macht, […] dazu [neigt], sich als System, als »Welt« zu konstituieren“ (Lefebvre 1975, S. 18), verbunden mit der Gefahr, dass jene „von den Systemen angestrebten realisierenden oder totalisierenden Bestimmungen […] in dieser approximativen und darum formbaren »Welt« […] dem »Wirklichen« eine neue, fast vollendet, nahezu endgültige Form aufzwingen und es in dieser Form zum »Wirklichen« konstituieren“ (ebd., S. 352). Zugleich hat er aufgezeigt, wie „diese systematische Form stets ein Residuum übrigläßt“ (ebd.) als „Ablagerungen jener Systeme, die verbissen, aber erfolglos bemüht sind, sich zu Totalitäten zu erheben, sich zu »mondialisieren«“ (ebd., S. 334).

Im Anschluss an Lefebvre habe ich einen Vorschlag zur Diskussion gestellt (vgl. May 2021, 172ff.), wie auch die theoretisch und praktische Dialektik Kritischer Sozialer Arbeit dazu beitragen kann,die herrschaftlich blockierten objektiven Möglichkeiten solch Residualem durch (An-)Erkennung ihres essentiellen Charakters zur Wirklichkeit herauszuarbeiten, „im Gegenzug zu der Macht oder Kraft, die es niederdrückt und dabei ungewollt herausstellt“ (Lefebvre 1975, S. 335). Lefebvre sieht im Residualen nicht nur die Potenz, dass es die jeweiligen „Systeme, die es aufsaugen wollen, von innen zerstört“ (ebd.), sondern über eine „Versammlung der Residuen“ (ebd., S. 334) – in der ich eine zentrale Aufgabe der theoretischen und praktischen Dialektik Kritischer Sozialer Arbeit sehe – „poietisch in der Praxis ein realeres und wahreres (universaleres) Universum zu schaffen, als es die »Welten« der spezialisierten Potenzen sind“ (ebd., S. 18).

Zum Transformationsbegriff

Als praktische Dialektik könnte dies in gewisser Weise auch unter den Transformationsbegriff gefasst werden, wenn „Trans“ und „Formation“ als die beiden Bestandteile dieser Kategorie ernst genommen werden. So gilt es doch, die Form der Residuen zu „verändern: durch Konvergenz und Kampf gegen die Systeme, von denen sie ausgestoßen und durch den Ausstoß bestimmt werden“ (Lefebvre 1975, S. 336), damit sie sich im Zuge ihre Anerkennung „umwandeln: auf daß jedes einzelne wieder die Würde und Kraft einer Essenz erlange, jener Essenz, die von derselben Macht, die sie zerstören wollte, überhaupt erst hervorgetrieben wird“ (ebd.). Vor diesem Hintergrund fügt auch – wie Lefebvre betont – diese Art von „»Setzen« auf die Residuen […] ihnen nichts hinzu“ (ebd., S. 335). Damit korrespondiert ein Verständnis von Transformation als „intentionaler, eingreifender, gestaltender und zugleich […] eigendynamischer, organisch-evolutionärer Entwicklungsprozess […], der immer auch Kontinuität einschließt“ (Reißig 2009, S. 34).

Dies meint aber etwas völlig anderes, als Beisswanger und Böttcher mit ihrer Unterscheidung zwischen „Intervention als ›Eingriff‹ in das Bestehende, also ganz im Sinne Benjamins (2010) als Notbremse für laufende Prozesse“ (2021, S. 84f.), und Transformation, wobei sie letztere dadurch charakterisiert sehen, dass sie „primär eine Veränderung dieser Prozesse mit sich“ (ebd.: 85) bringe, „ohne sie jedoch unterbrechen zu wollen“ (ebd.). Wenn sie plädieren, „zunächst am disruptiven Moment der Intervention festzuhalten, eben weil sie (zunächst) keine konstruktive Lösung in Hinblick auf den kapitalistischen Normalvollzug bietet“ (ebd.), korrespondiert dies in hohem Maße mit der von Lefebvre (1972, S. 256) eher nur skizzenhaft umrissenen Strategie einer sozio-analytischen Intervention. Diese habe ich (vgl. May 2019, 2021) als ein zentrales Element einer praktischen Dialektik Kritischer Sozialer Arbeit auszuarbeiten versucht, die danach trachtet, Entfremdung im Zuge der Emanzipation menschlicher Sinnlichkeit zu überwinden . Demnach ist eine Dissoziation der „mit einer falschen Evidenz vermischten Aspekte der Alltagssituation an einem Ort und in einer Zeit“ (Lefebvre 1972, S. 256) zunächst notwendige Voraussetzung, um eine selbstregulierte Assoziation der „bis dahin äußeren Erfahrungen“ (ebd.) zu ermöglichen.

Diese „bis dahin äußeren Erfahrungen“ (ebd.) stellen aus meiner Perspektive die Basis jener „Kontinuität“ dar, die Reißig als ein Charakteristikum des mit dem Transformationsbegriff gefassten Formenwandels hervorhebt. Sie beziehen sich vor allem darauf, dass heute über kulturindustriell vororganisierte Lebensstile zwar auch ein Stück Arbeitsteilung der Sinne rückgängig gemacht wird. Allerdings werden dabei nach wie vor (Arbeits-)Vermögen und Lebenseigenschaften aufgetrennt in denjenigen Teil, der sich in solchen gesellschaftlichen Repräsentationen verobjektiviert, die nicht nur die Funktion haben, das Individuum zu „normalisieren“ (Lefebvre 1977 Bd. II, S. 69), sondern auch ihrem Alltagsleben ein „Minimum von Einheitlichkeit und Kohärenz“ (ebd.) zu verleihen, sowie einen residualen Teil, der sich so gerade nicht frei zu verwirklichen und zu assoziieren vermag, weshalb auch zunächst eine Dissoziation solcher gesellschaftlichen Repräsentationen notwendig ist.

Lefebvres Begriff von „bis dahin äußeren Erfahrungen“ (1972, S. 256) verweist damit auch auf das schon erwähnte Marxsche Postulat, wonach „die neuen Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse sich […] innerhalb und gegensätzlich gegen vorhandne Entwicklung der Produktion und überlieferte, traditionelle Eigentumsverhältnisse“ (1983, S. 203) herausbildeten. So stellt für Marx die Produktion auf Basis der Tauschwerte eine notwendige Voraussetzung dar, dass „universal entwickelten Individuen, deren gesellschaftliche Verhältnisse als ihre eignen, gemeinschaftlichen Beziehungen auch ihrer eignen gemeinschaftlichen Kontrolle unterworfen sind“ (ebd., S. 95), da diese Form der Produktion „mit der Allgemeinheit der Entfremdung des Individuums von sich und von andren, aber auch die Allgemeinheit und Allseitigkeit seiner Beziehungen und Fähigkeiten erst produziert“ (ebd.).

Eingespannt in die (Re-)Produktion dieser für die Produktionsweise des fortgeschrittenen Kapitalismus erforderlichen „Allgemeinheit und Allseitigkeit“ (ebd.) der „Beziehungen und Fähigkeiten“ (ebd.) eines Individuums ist auch die Soziale Arbeit. Mit Beisswanger und Böttcher sowie dem AKS Leipzig stimme ich überein, dass unter den gegebenen Verhältnissen ihre zentrale Funktion im Hinblick auf die (Re-)Produktion der Ware Arbeitskraft darin besteht, Individuen dabei zu unterstützen, die sich zuspitzenden Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise so zu verarbeiten, dass die kapitalistischen Produktionsverhältnisse nicht gefährdet werden. Eine in Form der Lohnarbeit organisierte und formell unter das Kapital subsumierte Soziale Arbeit hätte auch jenseits des vom AKS HH propagierten Appells, „die aktuell geltenden Regeln aus guten Gründen [zu] brechen und alternative Handlungsweisen [zu] erfinden“, nur wenig Möglichkeiten, als Kritische in skizzierter Weise eine Anerkennung und Versammlung der Residuen zu befördern.

In dieser Hinsicht zielt für mich der Begriff „systemtransformationsrelevant“ des AKS HH, insofern er sich auf eine Organisation Sozialer Arbeit als „gesellschaftliche Infrastruktur“ bezieht, auf nichts weniger als einen „kategoriale[n] system change“ (Beisswanger/Böttcher 2021: 78) des Juristisch-Adminstrativ-Therapeutischen Staatsapparates. Die Organisation von Sozialer Arbeit in Form einer solchen Infrastruktur, wie sie auch jetzt schon Kontur gewinnt in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit, aufsuchenden Ansätzen und der Gemeinwesenarbeit, in Familien- und Kulturzentren, Mehrgenerationen- und Nachbarschaftshäusern in Verbindung mit einer kooperativen Teamstruktur, wie sie darüber hinaus im „Zwischenruf“ des AKS HH angesprochen wird, stellt aus meiner Perspektive eine notwendige, allerdings keineswegs hinreichende Bedingung der Möglichkeit dar, Kritische Soziale Arbeit zu leisten. Ich sehe sie in Verbindung mit der seit längerem diskutierten Programmatik einer „Sozialpolitik als Infrastruktur“ (Hirsch et al. 2013; Widersprüche Redaktion 2005), bei der es – präziser formuliert – um „Sozialstaatlichkeit als Bereitstellung einer sozialen Infrastruktur“ (May 2013, S. 188) geht.

Wenn mit dieser Programmatik der Anspruch einer „Sozialen Infrastruktur, die von Lohnarbeit unabhängig ist“ (Steinert 2013), verbunden wird, droht jedoch übersehen zu werden, dass in einer kapitalistischen Gesellschaft – wie dies schon Manuel Castells (1977, S. 286ff.) überzeugend herausgearbeitet hat und wie auch Beisswanger und Böttcher sowie der AKS Leipzig argumentieren – selbst Formen „kollektive[r] Konsumtion, […] deren ökonomische und gesellschaftliche Behandlung nicht über den Markt, sondern durch den Staatsapparat erfolgt, […] kapitalistisch bleibt“ (Castells 1977, S. 286). Denn sie umfasst eben nicht nur „im Wesentlichen den Reproduktionsprozeß der Arbeitskraft“ (ebd., S. 288), sondern auch „den Reproduktionsprozeß der gesellschaftlichen Verhältnisse, die […] mit der Reproduktion der Arbeitskraft verknüpft sind“ (ebd.) und die in einer kapitalistischen Gesellschaft notwendigerweise kapitalistisch überformt sind. Darüber hinaus hat Castells gezeigt, dass die sozialstaatlich vorgehaltenen Güter und Dienstleistungen kollektiver Konsumtion nicht deshalb zu solchen werden, „weil sie eine wesentliche Qualität besäßen, sondern wegen der spezifischen und allgemeinen Interessen des Kapitals“ (ebd., S. 287) – vor allem aber aus dem Grund, weil sie sich nicht kapitalistisch verwerten lassen, was Beisswanger und Böttcher sowie der AKS Leipzig übersehen.

Deshalb spricht Wolfgang Streeck diesbezüglich in seinem Vorwort für die deutsche Ausgabe des gegenwärtig sehr gehypten Plädoyers des Foundational Economy Collective (2019) „Für eine neue Infrastrukturpolitik“ geradezu paradox anmutend von einem „alltäglichen Kommunismus, der unserem alltäglichen Kapitalismus unterliegt und ihn faktisch überhaupt erst ermöglicht“ (2019, S. 7). Ohne dass sie deshalb schon mit dem reißerischen Etikett eines „alltäglichen Kommunismus“ versehen werden müsste, lässt sich aus einer an Marx anschließenden formanalytischen oder formgenetischen Perspektive bezüglich sozialer Infrastruktur allerdings „ein Formunterschied […] zur industrie- oder kapitalwirtschaftlichen Warenproduktion“ (Müller 2020, S. 10) konstatieren. Wie Alfred Sohn-Rethel hervorhebt, ist der „essenzielle Unterschied der Marxschen von aller andren Denkweise […], daß sie die Form als untrennbaren Teil der raumzeitlichen Seinsweise begreift, in der sie selbst sich wandelt und entwickelt“ (2018a, S. 137), worauf auch mein Verständnis von Transformation beruht. Marx hat dies „am Leitfaden der Formbestimmtheit des Wertbegriffs oder am Leitfaden der »Wertform«“ (Sohn-Rethel 2018b, S. 41) für die Warenproduktion durchexerziert.

Hat Sohn-Rethel die Bedeutung von Marx’ dialektischem Ansatz einer formgenetischen Erklärung im Hinblick auf eine Kritik nicht allein von falschem Bewusstsein, sondern darüber vermittelt auch von falschem Sein dahingehend charakterisiert, dass sie „vor allem die Springpunkte der Seinsveränderung aufdeckt“ (Sohn-Rethel 2018b, S. 38), so lassen sich im Anschluss an Horst Müller solche „Springpunkte“ gerade in der Form sozialstaatlicher Infrastruktur bzw. – wie er es übergreifend nennt – sozialwirtschaftlicher Dienste entdecken. Er selbst sieht in der Sondierung solcher „kritische[n] Knotenpunkte der Systemverhältnisse“ (Müller 2021, S. 491) eine zentrale Aufgabe seiner „Praxisform- und Transformationsanalytik“ (ebd.). Mit seinem Begriff formationelle Widersprüchlichkeit zielt er dabei auf eine in diesem Formunterschied sozialwirtschaftlicher Dienste zur kapitalistischen Warenproduktion „mehr oder weniger latent bereits mitprozessierende, andrängende Alterität und Alternative“ (ebd., S. 439), welche allerdings „inmitten der allgemeinen Instabilität, der aufbrechenden Konfliktpotentiale, des verwirrenden und ambivalenten Charakters der Phänomene nahezu unsichtbar“ (ebd.) bliebe.

Um das in sozialer Infrastruktur angelegte transformatorische Potenzial zu verwirklichen und „eine entschiedene sozialzivilisatorische Emanzipation der sozialwirtschaftlichen Dienste zu ermöglichen“ (Müller 2020, S. 18), plädiert er für eine „Kapital- oder besser Kapitaltransfersteuer“ (ebd.). Diese eröffne aus Müllers formanalytisch „entwickelte[r] reelle[r] Perspektive einen Zugriff auf real existierende Werte“ (2021, S. 523), die ohne diese „im Kapitalbestand der Warenwirtschaft unsichtbar und unverrechnet“ (ebd.) blieben, bilde doch „der Verbrauch an ‚konstanten‘ Werten der sozialwirtschaftlichen Dienste, die in deren eigenes Wertprodukt bzw. ihre Leistung eingehen, einen in der Domäne der Industriewirtschaft zunächst nicht sichtbaren und von den Industriewirten auch nicht veranschlagten Wertbestandteil“ (ebd.). Wenn – wie von ihm idealtypisch angenommen – „der Lohnfonds und die Sachkapitalausstattung der sozialwirtschaftlichen Dienste […] aus der proportional gestalteten Einkommen- und Kapitaltransfersteuer geschöpft und diese mehr oder weniger öffentlich finanziert werden“ (ebd., S. 527), handelt es sich seiner Auffassung nach sogar unmittelbar um eine Form des „Gemeineigentum[s] an den Produktionsmitteln“ (ebd.).

Dennoch schlösse selbst eine so finanzierte soziale Infrastruktur nicht aus, dass Fachkräfte der Sozialen Arbeit in ihr lohnarbeitsmäßig beschäftigt würden und Nutzende – noch weniger als diese – Einfluss auf deren Ausgestaltung ausüben könnten. Ein Gemeineigentum an Produktionsmitteln als Grundlage dessen, dass in der tätigen Praxis der Individuen „ihre eignen, gemeinschaftlichen Beziehungen auch ihrer eignen gemeinschaftlichen Kontrolle unterworfen sind“ (1983, S. 95), wie das Marx vorschwebte, setzte voraus, dass eine solche soziale Infrastruktur genossenschaftlich organisiert wäre, wie dies Timm Kunstreich (vgl. 2015, 2017) bereits beispielhaft skizziert hat. Erst auf dieser Basis könnte es gelingen, sowohl die Trennung der in einer solchen Infrastruktur professionell tätigen als auch der sie nutzenden Individuen vom menschlichen Gemeinwesen aufzuheben, das Marx gefasst hat als „das Leben selbst, das physische und geistige Leben, die menschliche Sittlichkeit, die menschliche Tätigkeit, de[n] menschliche[n] Genuß, das menschliche Wesen“(1978b, S. 408). Aus meiner Perspektive erforderte dies getrennte Genossenschaften von Professionellen und Nutzenden. Kunstreichs Idee, dass Professionelle „eine eigene professionelle Sozialgenossenschaft gründen, um mit den […] Quartiers- oder Projektgenossenschaften entsprechende Verträge abzuschließen“ (2015, S. 90f.) lässt sich dann dahingehend weiterdenken, dass dieser Vertrag auch ein Mandat einer allparteilichen Moderation der Fachkräfte für alle Residuen beinhaltet (vgl. May 2017, S. 154ff.).

Während ich gegenwärtig für die Realisierungvon Müllers Finanzierungsvorschlag (noch?) keine politische Mehrheit sehe, halte ich die Umsetzung einer solchen genossenschaftlichen Organisation für wahrscheinlicher – nicht zuletzt, weil sie effektiver und effizienter ist, da all die – in der Rede von einer Ökonomisierung Sozialer Arbeit übersehenen – riesigen, unproduktiven Kontrollapparate wegfielen, läge doch die Kontrolle bei den Genoss*innen selbst. Durchsetzbar halte ich sie einerseits in Räumen, die aktuell für die Verwertungsprozesse des Kapitals uninteressant geworden sind und mit Menschen, die Marx als Überschussarbeiterbevölkerung (1977, S. 661), Bauman (2006) noch drastischer als Überflüssige und Beisswanger und Böttcher als „durch Lohnarbeit nicht verwertbare[] Körper“ (2021, S. 87) bezeichnet haben. Solche Räume und Körper lassen sich also als Residuen großen Maßstabs betrachten. Statt dem nahezu aussichtslosen Unterfangen, solche Menschen begleitet durch Soziale Arbeit wieder über zahlreiche Maßnahmeschleifen für den sog. 1. – kapitalistischen – Arbeitsmarkt zu qualifizieren, weil sie da ja nicht gebraucht werden (weshalb solche Maßnahmen zynisch sind, weil sie ja implizieren, dass es an ihrer Qualifikation läge, dass sie nicht mehr gebraucht werden), und durch staatliche Investitionen den Raum wieder attraktiv für das Kapital zu machen, ließen sich stattdessen mit ihnen genossenschaftlich Projekte einer Gemeinwesenökonomie (vgl. Elsen 2011; May 2004b, 2022a) realisieren. Auch hier spricht eine volkswirtschaftliche Rechnung für solche Projekte.

Nun argumentieren Beisswanger und Böttcher, dass „nicht nur Wohnungslose oder Adressat*innen der akzeptierenden Drogenhilfe […] möglicherweise in der krisenbedingten Verknappung von finanziellen Ressourcen als irrelevant [erscheinen], sondern auch die damit verbundenen Angebote der Sozialen Arbeit“ (2021, S. 87). In meiner langjährigen Erfahrung, die ich hier einmal unter dem Begriff Praxisforschung zusammenfassen will, hat sich jedoch gezeigt, dass die durch solche Gruppen ausgelösten Konflikte, ebenso wie diejenigen, welche in den von der kapitalistischen Entwicklung abgehängten Räumen unter den verschiedenen Gruppen der Überschussarbeiterbevölkerung eskalieren, ordnungspolitisch nicht wirklich beherrschbar sind. Dies hat mir immer wieder in meiner beruflichen Geschichte ermöglicht, in die skizzierte Richtung gehende Projekte mit diesen Gruppen finanziert zu bekommen.

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Anmerkungen

[1] Stellungnahme (dbsh.de) zuletzt abgerufen am 11.11.2022

[2] Soziale Arbeit und die Systemrelevanz – Kritische Gedanken über ein fragwürdiges Etikett – DGSA Blog Soziale Arbeit zuletzt abgerufen am 11.11.2022

[3] Soziale Arbeit: systemrelevant? – Soziale Gerechtigkeit in einem demokratischen Land (jimdofree.com) zuletzt abgerufen am 11.11.2022

[4] Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang darauf, dass Staub-Bernasconi (2008) Sozialer Arbeit als Menschenrechtsprofession über Obrechts (1998) Theorie der Bedürfnisse zu begründen versucht (zur Kritik vgl. May 2018).


Praxis und Aktion. Über die Aufgabe kritischer Theorie und die Armut der 'Ideologiekritiker'

Hat man die zentralen Vertreter der Kritischen Theorie studiert, und von sog. ideologiekritisch bewegten hofft man, es erwarten zu dürfen, weiß man zur Ideologiekritik wenigstens zweierlei zu sagen. Das eine betrifft ihren Zweck, das andere ihren Modus.
In Horkheimers 1937 veröffentlichten, programmatischen Aufsatz „Traditionelle und kritische Theorie“ legte er den Grundstein für die spätere Entwicklung der sog. Frankfurter Schule, indem er die kritische Theorie systematisch von der dominanten positivistischen Sozialwissenschaft abgrenzte. Während der Positivismus methodologisch nur das Bestehende abbildet und zweckmäßig den totalitären Zusammenhang menschlichen Lebens im kapitalistischen Tauschprinzip verwischt. Entgegen dieser Ideologieproduktion bürgerlicher Wissenschaft muss kritische Theorie die Sphären menschlichen Lebens aus dem kapitalistischen Tauschprinzip heraus deduzieren, um den totalitären Zustand der spätkapitalistischen Gesellschaft offenzulegen. Dieses Erkenntnisinteresse band Horkheimer in einen politischen Zweck ein:

„Die Konstruktion des Geschichtsverlaufs als des notwendigen Produkts eines ökonomischen Mechanismus enthält zugleich den selbst aus ihm hervorgehenden Protest gegen diese Ordnung und die Idee der Selbstbestimmung des menschlichen Geschlechts, das heißt eines Zustands, in dem seine Taten nicht mehr aus einem Mechanismus, sondern aus seinen Entscheidungen fließen. Das Urteil über die Notwendigkeit des bisherigen Geschehens impliziert hier den Kampf um ihre Verwandlung aus einer blinden in eine sinnvolle Notwendigkeit.“[1]

Kritische Theorie sollte in den blinden Lauf der Geschichte eingreifen, indem die Adressaten der Theorie in die Lage versetzt werden, die kapitalistische Wirtschaft und die auf ihr begründete Kultur und Politik der Gesellschaft als Produkt menschlicher Arbeit zu erkennen. Diese Erkenntnis ist dialektisch insofern sich die Subjekte mit der Gesellschaft als Ergebnis ihrer Produkte identifizieren und gleichsam erkennen, dass Gesellschaft mit „außermenschlichen Naturprozessen, bloßen Mechanismen zu vergleichen ist,“[2] die Marx im Begriff des automatischen Subjekts zusammenführte. In der spätkapitalistischen Gesellschaft ist also Identität und Nichtidentität ineinander verflochten – und das herauszuarbeiten ist die besondere Herausforderung der Ideologiekritik. Sie operiert im Modus der Identitätskritik, die Adorno später in seinem Hauptwerk zur Negativen Dialektik ausbaute. Darin warnte er vor den Fallstricken der Kritischen Theorie infolge der inneren Widersprüche der Identitätskritik.[3] So heißt es über die Dialektik der Identitätskritik, dass sie

„mehr und anders als das Identitätsdenken, identifiziert. Sie will sagen, was etwas sei, während das Identitätsdenken sagt, worunter etwas fällt, wovon es Exemplar ist oder Repräsentant, was es also nicht selbst ist.“[4]

Eingebunden ist dieser Modus in den Zweck kritischer Theorie, die aus dem automatischen Subjekt des Kapitals geborene Notwendigkeit des historischen Geschehens nicht nur aufzuhalten, sondern in die Notwendigkeit „selbstbewusster Menschheit“ zu überführen, die „in einem Zustand ohne Ausbeutung und Unterdrückung“ waltet.[5] Dazu steht kritische Theorie auf dem festen Fundament der Marx‘schen Kategorien (Klasse, Ausbeutung, Mehrwert, Profit, Verelendung…). Denn sie sind „Momente eines begrifflichen Ganzen, dessen Sinn nicht in der Reproduktion der gegenwärtigen Gesellschaft, sondern in ihrer Veränderung zum Richtigen zu suchen ist.“[6]
Die Aufgabe kritischer Theorie ist deshalb eine zwingend praktische, denn mit der Kritik von Identität und Nichtidentität der kapitalistischen Totalität als Produkt menschlicher Arbeit ist die Erwartung verbunden, dass sie das Aufbegehren gegen das falsche Ganze anleitet und ihr die geschichtliche Notwendigkeit entreißt. Die Notwendigkeit der spätkapitalistischen Einrichtung der Welt mitsamt all ihrer Zumutungen und Verwerfungen fatalistisch grimmend zu akzeptieren, sich in ihr einzurichten, statt sie, gründend auf menschlicher Vernunft und kraft menschlicher Arbeit, zu verändern, fußt dagegen auf der „Unfähigkeit, die Einheit von Theorie und Praxis zu denken“[7].
Eine sich gegenwärtig als Wahrer Kritischer Theorie verstehende, politische Gruppe fürchtet in der Präsidentschaftskandidatur eines sozialdemokratischen Juden in den USA den Verlust US-amerikanischer Identität mit globalen Folgewirkungen, da mit der zukünftigen Präsidentschaft ein Rückzug der USA aus der globalen Sicherheitspolitik in den heimeligen Schoß des Isolationismus drohe, was Europa zwingen würde, das sicherheitspolitische Zepter in die Hand zu nehmen. Ganz aufgehoben im identifizierenden Denken fällt allzu leicht tautologisches in die Tastatur: „Europa kann nur dann Europa sein, wenn die USA die USA bleiben.“
Die Voraussetzung der Einheit von Theorie und Praxis in der kritischen Theorie ist die Existenz von Vernunft im vergesellschafteten Subjekt. Man kann nur noch hoffen.

von Benjamin W.

[1] Horkheimer, Traditionelle und kritische Theorie, in: Ders.: Vier Aufsätze, 1968, S. 45-46.
[2] Ebd., S. 28
[3] Andere Fallstricke freilich wurden als solche gar nicht wahrgenommen, etwa der Verlust des kritischen Potentials durch die Radikalisierung des Ideologischen. In der Konsequenz schlitterte die Kritische Theorie in Aporie, denn alle politischen Ziele seien ideologisch verstellt. Damit sich der ihr kritischer Sinn darin, „reine Negation im Bewusstsein zu bleiben.“ Ideologiekritik wurde zum Idealismus. Hans Heinz Holz, Die heilige Familie von Frankfurt, in: Ders.: Deutsche Ideologie nach 1945, 2003, S. 174.
[4] Theodor Adorno, Negative Dialektik, 1966, S. 150.
[5] Max Horkheimer, Traditionelle und kritische Theorie, in: Ders.: Vier Aufsätze, 1968, S. 55.
[6] Ebd., S. 37.
[7] Ebd., S. 47.

Der Kritiker übt Resonanz. Einblicke in ein deutsches Postwachstumskolleg und deren Grundlegungen durch Hartmut Rosa

Wir sind Teil von degrowth in Bewegung(en)“ – stolz prangt dieses Bekenntnis auf der Homepage des Postwachstums-Kollegs an der Universität Jena. Dass diese Vermischung von Theorie und Praxis eines der Kernelemente des Postwachstumstopos darstellt, wurde früh erkannt. Auffällig scheint hieran, dass selten so unumwunden, gutgelaunt und freimütig die instrumentelle Eingebundenheit der insbesondere soziologischen akademischen Forschung in politische Prozesse zugegeben wurde. Continue reading „Der Kritiker übt Resonanz. Einblicke in ein deutsches Postwachstumskolleg und deren Grundlegungen durch Hartmut Rosa“

Das Schweigen über die Täterideologie. Zum Ausbleiben einer Debatte nach dem Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt

Ich bin hier, gelobe, dem Kalifen, Abu Bakr Al-Baghdadi zu gehorchen, was auch immer er mir befiehlt, auch wenn es zu meiner Abneigung wäre, und weiter zu tun, es sei denn, mir wird befohlen, etwas zu tun, von dem ich sicher weiß, dass es im Islam verboten ist. Ich gelobe auch, für den Islam zu arbeiten, um zu herrschen, zu urteilen und nach seinen Regeln beurteilt zu werden und hart zu arbeiten, bis der Islamische Staat gut etabliert und gegründet ist. Schließlich verspreche ich, mich aktiv am Dschihad gegen die Feinde Allahs zu beteiligen, so viel ich kann. Und zu jenen Ungläubigen, die die Moslems jeden Tag bombardieren, schwöre ich, dass wir sie jagen und sie wie Schweine für das töten, was sie mit diesen Moslems tun. Hast Du gedacht, dass das, was Du ihnen antust, ungestraft sein wird? Es gibt Massen von Moslems auf der ganzen Welt, die bereit sind, die Moslems zu rächen, die sie töten, und sie werden gerächt werden, denn wir sind stark und entschlossen, den Preis für ihre Handlungen gegen sie zu zahlen. Und ich fordere meine moslemischen Brüder und Schwestern auf der ganzen Welt auf, am Dschihad teilzunehmen und für die Dominanz dieser Religion zu kämpfen, so viel wie jeder von Euch kann. Wenn Du Deinen Brüdern nicht an den Frontlinien beitreten kannst, dann kämpfe für den Islam in Deinen Ländern. Und wenn sie in Europa leben, dann kämpfen sie gegen diese Schweine, jeder zu seinen eigenen Fähigkeiten. Möge Allah uns Erfolg in diesem Kampf geben. Ich verpflichte mich Allah und gelobe, so viel Blut zu vergießen, wie es für den Islam nötig ist. Ich bete für Allah, um mir den Weg zu ebnen, jene Ungläubigen zu töten, die den Islam und die Moslems bekämpfen.
Anis Amri in Berlin, übersetzt von „Daily Mail“.[1]

Vor zwei Monaten fuhr ein junger Muslim mit einem Lastwagen in eine Menschenmenge, riss elf Menschen aus dem Leben und verletzte 55 weitere, teilweise lebensgefährlich. Zuvor tötete er den polnischen Lkw-Fahrer Lukasz U., machte noch ein Selfie und schrieb einem Glaubens- und Gesinnungsgenossen: „Mein Bruder, alles in Ordnung, so Gott will. Ich bin jetzt im Auto, bete für mich mein Bruder, bete für mich.“ Eine Debatte über die islamische Vernichtungsideologie, durch die dieser Mann jede menschliche Regung in sich abgetötet hat, um eines der ersten, man sollte meinen, universell geltenden Gebote der Zivilisation, „Du sollst nicht töten!“, hemmungslos zu überschreiten, blieb aus.
Das ist insofern nicht überraschend, als dass im kultursensiblen Deutschland der Islam bekanntlich mit wenig etwas zu tun hat und der Versuch, seine Ehre nach jeder Scheußlichkeit, welche die von ihm Überzeugten in die Welt setzen, wiederherzustellen, Teil des volksgemeinschaftlichen und keine Parteien mehr kennenden „Kampfes gegen rechts“ ist. Es verwundert dann allerdings doch dahingehend, dass die Tatsache, dass sich die Mordbrennerei des Dschihads nicht mehr auf Israel, Frankreich, Spanien oder Großbritannien beschränkt, sondern der eigene Leib durchaus in Gefahr ist, die Fähigkeit zur Erfahrung doch hätte beleben müssen, sodass der ideologische Schleier wenigstens temporär fällt. Die Debatte nach den Misshandlungen auf der Kölner Domplatte bewies zumindest, dass selbst hierzulande liberale Kritik sich bisweilen durchzusetzen vermag, insofern der Frage nach der Sozialisation der Täter nachgegangen wurde. So meldeten sich nicht nur Alice Schwarzer, sondern auch Zana Ramadani in der „Welt“ und bei Markus Lanz zu Wort, Kamel Daoud namensgebender Artikel über das sexuelle Elend in der arabischen Welt, der ursprünglich in Frankreich erschien, wurde für die „Faz“ übersetzt – am Ende der Debatte war vielen, vielleicht sogar den meisten klar, dass das islamische Frauenbild, wenn auch nicht das Geschlechterverhältnis, durchaus etwas mit den Übergriffen zu tun hatte. Vergleichbare Artikel oder Stimmen in den Polit-Talkshows waren nach dem Anschlag in Berlin allerdings nicht zu lesen bzw. zu hören. Eine gesellschaftliche Debatte über die Ideologie, in deren Namen gerade eine Blutspur durch die nicht zuletzt auch christliche Zivilisation gelegt wurde, als deren sympathisch-kommerzielles Symbol der Weihnachtsmarkt durchaus gelten kann, fand einfach nicht statt.

Im Kapitalismus, genussorientier aufgehobenes Christentum. Hassobjekt des Islam | Weihnachtsmarkt Breitscheidplatz
Im Kapitalismus, genussorientiert aufgehobenes Christentum. Hassobjekt des Islam | Der Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz, Berlin

Das Elend der politischen Talkshows
In Maybritt Illners Sendung vom 20. Dezember wurde die Frage nach dem Islam erst überhaupt nicht gestellt, dafür aber die notorische Berufsmuslima Nemi al-Hassan eingeladen, die ihre Propaganda über einen von der Bundeszentrale für politische Bildung unterstützten Youtube-Kanal unter die Leute bringt. In den Clips der „Datteltäter“, deren Name allein schon die Opfer islamisch verstörter Menschenfeinde verhöhnt, darin allerdings wenigstens seinen Zweck als staatlich finanziertes Propagandaformat deutlich enthüllt, erzählt sie, die mal lächelnde, mal ganz ernst dreinschauende Unschuld, zum Beispiel von ihrem persönlichen Dschihad. Dieser bestehe darin, freundlich und im Dialog zu bleiben. Sie warnt vor Leuten, die vom „heiligen Krieg schwadronieren“, und meint damit nicht etwa die Dschihadisten selbst, sondern jene, die vor Anschlägen in U-Bahnen warnen und damit doch nur ihre „Vorurteile gegenüber einer ganzen Weltreligion“ zum Ausdruck bringen würden. Selbstverständlich schämt sie sich auch nicht, diese in die Nähe der Mörder selbst zu rücken. Für den bundesdeutschen Dialog der Kulturen lädt man also eine Befindlichkeitsdschihadistin ein, für die das Taharrush gamea der Kölner Silvesternacht Anlass dafür war, doch einmal über das deutsche Problem der Frauenfeindlichkeit zu reden, insofern etwa in Schulen Mädchen erzählt würde, sie seien schlecht in Mathematik.
Bei Markus Lanz kam man tatsächlich auf die Rolle des Islam zu sprechen. Zwar eröffnete der Gastgeber vernunftgemäß, man verdränge und vergesse, dass es, mit Betonung des Alters, sich bei den jüngeren islamistischen Taten um eine Vierzehnjährige in Hannover, die mit einem Messer einen Polizisten lebensgefährlich verletzte, und einen Zwölfjährigen Bombenbauer in Ludwigshafen handelte. Darauf folgte jedoch ein Trauerspiel, das gerade in seiner Niederträchtigkeit repräsentativ für die bundesdeutsche Debatte gelten kann und deshalb im Folgenden ausführlich resümiert werden soll: Statt nämlich der Vertiefung dieses Sachverhalts, dass offenbar schon Kinder anfällig für dschihadistische Indokrtination sind und es Gründe dafür geben könnte, die über entwicklungspsychologische hinausgehen, folgten die üblichen von Ideologie und Sozialisation reflexartig abstrahierenden Abwehrmanöver, entpolitisierende Psychopathologisierung und antiwestliche Viktimisierung. Den Part, das im Positivismus angelegte widerliche Potenzial zu entfalten, übernahm dabei der sogenannte Angstforscher Borwin Bandelow, der versicherte, es bei Islamisten mit krankhaften Narzissten zu tun zu haben: „Es geht um Macht, es geht nicht um Religion, das sind gottlose Menschen, die mit Religion eigentlich nichts am Hut haben“, um später dann, ohne es freilich zu bemerken, sich selbst zu widersprechen:

„Ich glaube, dass hinter jeder fanatischen Religion ein Problem steckt, das tief in unserem Gehirn ist, und zwar im sogenannten Belohnungssystem. […] Ich würde eben sagen, das eine Anzahl von Menschen, die ein Problem mit diesem Belohnungssystem haben, nämlich zu wenig an Endorphinen, dass die eben versuchen, diese Endorphine anzustacheln, indem sie entweder Frauen vergewaltigen oder kriminelle Handlungen begehen oder aber sich mit einer Bombe in die Luft sprengen. Das sind alles so narzisstische Handlungen, die der Gewinnung von Endorphinen gehören und dann kommt eben diese Religion, die einem das so leicht macht.“

Der IS wende sich an jene, die Opfer seien, bei denen, so Bandelow, bisher nicht viel war mit Belohnung, die keiner mag und keine Arbeit bekommen haben, weil sie anders aussehen. Mit Lkws in Menschenmengen rasen, so weiß der neurowissenschaftlich geschulte Positivist, der sein Brot auch als Sozialpädagoge missverstandener Neo-Nazis verdienen könnte, ist eine Antwort auf Diskriminierungserfahrungen. Was hier schon mitschwingt, dass die Gesellschaft am Islamismus doch selbst Schuld hat, eine Einsicht, die dieser Halbgebildete vorauseilend-einfühlend durch die Identifikation mit dem Täter erhält, wird von dem allen Ernstes als Nahostexperten eingeladenen Michael Lüder offen ausgesprochen. Der schreibt Bücher, die darüber belehren, dass wir vor dem Islam keine Angst haben müssen und dass reiche New Yorker Juden sowie Israel für den Irankonflikt verantwortlich zeichnen.[2] Da er als Funktionär der deutsch-arabischen Gesellschaft auch seine materiellen Interessen vertritt, überraschen solche Aussagen auch kaum. In der öffentlichen Debatte Deutschlands wird ein solcher Umstand aber nicht als Grund zur Befangenheit wahrgenommen, sondern dient dazu, nachdem gerade Menschen auf bestialische Weise ermordet wurden, zur Klärung dessen Expertenstatus zu erhalten. Für ihn ist entsprechend klar:

„Die Antwort liegt nicht in der Religion“, sondern in politisch-gesellschaftlichen Ursachen, eine Chiffre für unsere und die Schuld des Amis: „Natürlich sind wir ganz erheblich daran Schuld durch diese Kriege, die nicht wir, aber namentlich die Amerikaner unter George W. Bush geführt haben. […] Ich kann nicht als westliche Ordnungsmacht ein Land nach dem anderen zerstören, Millionen Menschen die Zukunft nehmen, ganze Staaten zerlegen in jeder Hinsicht […] aber die Grundidee durch militärische Intervention politische Ordnung schaffen zu wollen in den Ländern der islamischen Welt hat ein Desaster produziert, das wir nicht zuletzt durch diesen Terroranschlag in Berlin gewissermaßen als Spiegelbild vorgeführt bekommen. Es war ein fataler Fehler der Amerikaner diese Zerstörung anzurichten und wir in Europa zahlen dafür paradoxerweise den Preis. Die Amerikaner sind geschützt durch den Atlantik, aber wir haben jetzt sozusagen durch diese ganzen Kriege die Reaktion auszu[baden].“

Das hierin zum Ausdruck kommende Straf- bzw. Selbstgeißelungsbedürfnis verdient keinen Kommentar, wohl aber die Entgegnungen des in dieser Runde einzig Vernünftigen, Christoph Schwennicke vom „Cicero“. Dem stand die Hilflosigkeit ins Gesicht geschrieben, doch ließ er sich wenigstens nicht dumm machen von den über ihre Eigentlichkeitsideologie Verbrüderten, der auch noch der Terrorismusexperte Elmar Theveßen verfallen ist, wenn er vom Dschihadismus als einer im 13. und 14. Jahrhundert entstandenen Verfälschung spricht, die „nicht der Islam ist“.
Schwennicke beharrte völlig zurecht darauf, dass dieser sehr wohl mit dem unreformiert gebliebenen Islam zu tun habe, weshalb es auch kein Zufall sei, dass seit 2001 fast der gesamte Terror von Anhängern dieser einen Religion verbrochen wird, und im Christentum keine Jungfrauenorgien für heilige Kämpfer vorgesehen seien. Dass er dann auch noch die Dreistigkeit besaß, Samuel Huntingtons „Kampf der Kulturen“ (das im Englischen den weniger missverständlichen Titel „The Clash of Civilizations“ trägt[3]), zu erwähnen, dessen Thesen er nun bestätigt sieht, durfte natürlich nicht ungestraft bleiben, weshalb Theveßen dieses Buch in den Kontext einer islamfeindlichen Bewegung in Europa stellte, deren Speerpitze Breiviks Massaker gewesen sei.
Markus Lanz, der sich gegen jede Erfahrung mit den meisten Deutschen darin einig sein dürfte, dass es einen Generalverdacht gegenüber Muslimen geben würde, entgegnete dem Cicero-Autor, der dessen Existenz zurecht bezweifelte, mit einem entschlossensten „Ja!“, den gebe es! Nicht nur versichert er sich mit dieser deutschen Volksweisheit, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen, er plaudert auch seine eigene, durch Verdrängung der Problematisierung des Islam, in die Projektion des Generalverdachts mündende Befürchtung aus, dass die muslimische Sozialisation unter Umständen eben doch die Gefahr birgt, todesverliebte Kuffar-Hasser hervorzubringen, die ihm an den Kragen wollen. Wenigstens muss man Lanz zu Gute halten, dass er Schwennicke das letzte Wort überlies: „Nicht ich führe irgendeinen Kampf der Kulturen, sondern es sind Hassprediger, Salafisten […], die diesen Kampf der Kulturen führen und das ist eine Tatsache, der auch Sie ins Auge blicken müssen.“

Aus einer anderen Geschichte. Die mittlerweile von der bpb geförderten Datteltäter und ihr Antizionismus | via FB-Auftritt der Datteltätter
Aus einer anderen Geschichte. Die mittlerweile von der bpb geförderten Datteltäter und ihr Antizionismus | via FB-Auftritt der Datteltätter

Ferid Heider und die Datteltäter
Mehr als ein kleiner Hoffnungsschimmer war dies allerdings nicht. Zum ökumenischen Gottesdienst in der Berliner Gedächtniskirche lud man nämlich Ferid Heider von der Islamischen Gemeinde Deutschlands (IGD) ein, einen Islamisten, der „Erlaubtes und Verbotenes im Islam“[4] vom Holocaustbefürworter und Fernsehprediger Yusuf al-Qaradawi seinen Facebook-Followern zur Lektüre empfiehlt. In diesem Buch werden nicht nur das Schlagen und die Misshandlung der Frau gerechtfertigt, Homosexualität diffamiert und Juden als zum Betrug neigende Rasse bezeichnet, auch vom Dschihad ist die Rede. Dieser wird als „Kampf für Allahs Sache“ bezeichnet, die „so großen Verdienst im Islam bewirkt, daß der Verdienst dessen, der die ganze Nacht betet und den Tage lang fastet, nicht daran heranreicht.“ (S. 198) Es sei außerdem die Pflicht für die islamische Gemeinschaft, „ihre Streitmacht in höchstmöglichem Ausmaß aufzubauen, um sich zu verteidigen und die Feinde Allahs und des Islam auf Distanz zu halten.“ (S. 294) Wenn der Nichtmuslim gegen den Muslim kämpft, sei „Blutvergießen erlaubt“. (S. 275) Es gilt dieselbe Feindbestimmung, die auch Anis Amri leitete: „Gegnerschaft Allahs ist nicht bloß eine Glaubenssache, sondern schließt Feindschaft gegenüber Islam und Muslimen ein.“ (S. 289) Und weiter: „Der Islam erkennt keine andere Loyalität als die zu seiner Glaubenslehre an, keine andere Beziehung als die seiner Brüderlichkeit und keinerlei Unterscheidung zwischen den Menschen als auf der Grundlage zwischen Glaube und Unglaube. Der Ungläubige, der dem Islam gegenüber Feindschaft zeigt, selbst wenn es sich um einen Landsmann, Verwandten, oder sogar leiblichen Bruder handelt, ist ein Feind der Muslime.“ (S. 211)
Die Lehre dieses offenkundig äußerst moderaten Predigers, der Vorsitzender des European Council for Fatwa and Research in Dublin ist, wird von der IGD vertreten. Durch Heiders Einladung verhöhnte man die Opfer des Anschlags, denn seine Gemäßigtheit besteht lediglich darin, zur Affirmation des Terrors nicht fortzuschreiten. Dass solche Leute auch noch mit Unterstützung der Bundesregierung Vorträge zur Deradikalisierung junger Muslime halten dürfen (bei einem vom Zentralrat der Muslime organisierten Projekt namens „Safer Spaces“), zeugt von der wahnsinnigen Naivität, die umso unnötiger ist, als dass der Verfassungsschutz durchaus weiß, mit wem man es bei der IGD zu tun hat.[5]
Das bereits erwähnte Satire-Projekt „Datteltäter“ reiht sich in diese institutionalisierte Islam- und Islamismusverharmlosung nahtlos ein. Dort nahm man den Anschlag in Berlin zum Anlass, unter dem makabren Titel „Mein Erster Anschlag & Weihnachten!“ nicht etwa die Verfolgung von Menschen durch den Islam zu thematisieren; der Sprecher fürchte nicht den Terror an sich, nur „seine Folgen für unsere Gesellschaft und das Miteinander in diesem Land.“ Dass es mitnichten darum geht, irgendetwas aufzuklären, zeigt sich schon darin, dass im Video eine Zeichentrickfigur Hass-, Wut- und Angstgespenster bekämpft, die Rezipienten also überhaupt nicht als potentiell vernünftige Subjekte gesetzt sind, sondern als Kinder, denen in der Art der Sendung mit der Maus klar gemacht werden müsse, dass das Schlimmste am Terror die Verfolgung eines Berufsmuslims – als solchen bezeichnet er sich selbst – durch das Wort „Terror“ selbst ist: eine schamlose Täter-Opfer-Umkehr, welche die Empathielosigkeit und den Narzissmus bezeugt, mit denen dort die Opfer besser instrumentalisiert werden, als es der Rechtspopulismus je könnte.
Sozialisierung und das dschihadistische Ticket
Wer meint, dass es auch dann noch um ihn zu gehen hat, wenn einer seiner Glaubensbrüder einmal mehr ein Massaker angerichtet hat, der hat sich in einer Mischung aus Selbstviktimisierung und Narzissmus eingerichtet. Diese ist typischer Ausfluss islamischer Sozialisierung und in den Allmachtsfantasien eines Anris Amris, der sich in verfolgender Unschuld – der Islam werde ja vom Westen unterdrückt – ebenso zeigt, wie bei den vom deutschen Staatsantifaschismus sekundierten Datteltätern. In bester Eigentlichkeitsideologie spalten sie alles Schlechte ab und imaginieren einen unschuldigen, reinen Islam, auch deshalb weil, wie Ahmad Mansour konstatiert, viele Muslime das kritische Denken zu Hause nicht erlernt haben, das Gefühl haben, ihre Religion beschützen zu müssen, und die Ansichten der Eltern unhinterfragt übernehmen.[6]
Da es nicht erlaubt ist, die väterliche Autorität in Frage zu stellen, findet auch keine Islamkritik statt, die ohnehin einen Ehrverlust bedeuten würde: „Die eigene Ehre der Familie, des Clans und in umfassenderem Sinne der islamischen Gemeinschaft Umma, stellt das höchste zu beschützende Gut dar, das ein Mann zu bewahren hat.“[7] Dominanz, Stärke und die Bereitschaft zur Gewalt, um die Ehre wieder herzustellen, sind Teil des Männlichkeitsideals, die Fähigkeit zur Selbstkritik und zum Eingestehen von Schuld gehört zu diesem nicht. In der islamischen Gemeinschaft ist die verinnerlichte Instanz des Über-Ichs weitestgehend ersetzt durch die äußerlich bleibenden, in der Scharia kodifizierten Regeln:

„Da Ehre etwas äußerliches ist, gibt es kein Äquivalent zur christlich vermittelten Buße, kein Ritual gliedert denjenigen, der die Ehre beschmutzt hat wieder in die Gemeinschaft ein […]. Anders also als im Zivilisationsprozess in der westlichen Hemisphäre, der Freud zufolge vor allem als Sublimierung und Internalisierung äußerer Zwänge ablief, bleiben Ge- und Verbote in der islamischen Welt vornehmlich äußerlich.“[8]

Weil Ursachen für Missstände nicht im Wesen islamischer Vergesellschaftung gesucht werden dürfen, erscheint die islamische Gewalt also als etwas, deren Ursache auf den Westen, insbesondere die Juden projiziert wird. Dies erzeugt ein Weltbild, in dem die Muslime nur als Opfer vorkommen. Wo aber die Fähigkeit zur Selbstkritik nicht erworben wird und die Kränkungen und Widerstände der Welt durch Selbstreflexion nicht auf die eigene Verstricktheit in die gesellschaftliche Realität zurückgeführt werden, gerät die Welt zur Projektionsfläche der eigenen Innenwelt. Die pathische Projektion versetzt „das sprungbereite Innen ins Äußere und prägt noch das Vertrauteste als Feind. Regungen, die vom Subjekt als dessen eigene nicht durchgelassen werden und ihm doch eigen sind werden dem Objekt zugeschrieben: dem prospektiven Opfer.“[9]
Die daraus folgende Selbstviktimisierung korrespondiert mit dem ebenfalls in der Erziehung[10] erworbenen, übersteigerten Selbstbewusstsein, das in der Verhätschelung des muslimischen Jungen durch seine Mutter gründet. Während Borwin Bandelow bei Markus Lanz den Narzissmus naturalisiert und pathologisiert hatte, wäre er gerade als Ergebnis der Sozialisation zu verstehen. Die Religion reagiert keineswegs auf eine immer schon vorhandene Störung in einem ominösen Belohnungssystem, sondern zeichnet als familiäre Praxis für die Unfähigkeit, die Ansprüche der Welt mit den eigenen zu vermitteln, maßgeblich verantwortlich. Die aus dem Ausschluss der Mutter aus der Öffentlichkeit resultierende Kränkung kann sie kompensieren, insofern sie über den ihr zugestandenen direkten Zugriff auf die Kinder an der Macht der Gemeinschaft doch noch teilhaben kann: „Der narzisstische Missbrauch verhindert beim Knaben eine realistische Selbsteinschätzung. Er entwickelt Größenphantasien und das Bedürfnis nach Heldentaten“[11], scheitert mit ersteren jedoch an der überlegenen Autorität des Vaters. Kaum überbrückbar ist deshalb die „Kluft zwischen seinem omnipotenten Selbstbild und seiner tatsächlichen Ohnmacht gegenüber dem Vater als auch gegenüber den unbewussten Aggressionen der Mutter“[12], die sie gegen ihn als Verkörperung des Patriarchats und Erinnerung an ihre untergeordnete Stellung in diesem hegt. Zudem verweilt der Vater in einer Sphäre der Unnahbarkeit und hilft dem Jungen nicht dabei, ein realistisches Selbst- und Weltbild zu entwickeln. Es kommt nicht zur Introjektion des väterlichen Objekts, durch die seine Gebote als verinnerlichtes Gewissen sich manifestieren würden[13], sondern „vielmehr zu einer gleichgeschlechtlichen Bindung an den Vater, was eine Teilhabe an der Dominanz und Macht der Männerwelt ohne eine Infragestellung der väterlichen Macht verspricht.“[14] Dies bildet die Grundlage dafür, mit den Widerständen der Welt in Zukunft nicht reflektiert umzugehen, sondern projektiv-aggressiv gegen sie anzurennen.
Das dschihadistische Ticket bietet sich dann als die ultimative Krisenlösungsstrategie an. Mit der vollständigen Unterwerfung unter den Willen Allahs und der Aufopferung für die Ummah kommt der im Narzissmus angelegte Größenwahnsinn schließlich zu sich selbst. Die in diesem Märtyrerkult zum Ausdruck kommende Kultur des Todes ist dabei diametral zur christlichen Eschatologie, in der die Toten wieder auferstehen und der Tod in paradiesischer Versöhnung abgeschafft ist. Die ohnehin unter den sexuellen Verführungen der westlichen Welt zu leiden habenden islamisierten Männer, denen im islamischen, auf Triebverzicht beruhenden Realitätsprinzip keine Sublimierung gegönnt wird und deren Wut sich deshalb auf all jene richten kann, die außerhalb der rigiden Zwangsmoral stehen und ein an freier Partnerwahl, sexuellem Genuss und Liebe orientiertes Leben führen dürfen, erwarten in der dschihadistischen Aufopferung das auf dumpfe erste tierische Natur reduzierte Szenario, in dem der Trieb sich an der grenzenlosen Jungfrauenschändung entfesseln kann. Die schon in der Erziehung erzwungene Unterwerfung unter den leiblichen Vater, zu dessen Autorität man nicht gelernt hat, sich ins Verhältnis zu setzen, wiederholt sich im Dschihadismus auf mythologischer Ebene. Die auch im Alltagsislam abverlangte Unterwerfung unter die Gesetze Allahs, was die wörtliche Übersetzung von Islam darstellt, wird lediglich auf die Spitze getrieben, die konfligierenden moralischen Ansprüche im Einklang mit den zahlreichen zu Gewalt und Dschihad gegen Ungläubige aufrufenden Passagen im Koran zurückgewiesen. Im gewaltvollen Kampf gegen das Unislamische und der vollständigen Unterwerfung unter den Übervater erlangt das narzisstische, selbstviktimisierende und triebversagende Subjekt schließlich masochistische und in der Verfolgung seiner Opfer sadistische Befriedigung, die spezifischer Ausdruck des islamischen Patriarchats ist.
Antichristliche Ressentiments
So wie nach den Silvesterübergriffen das islamische Frauenbild diskutiert wurde, hätte man die Akzeptanz antiwestlicher Gewalt thematisieren können, die muslimische Erziehung oder die Verbreitung fundamentalistischer Ansichten auch unter deutschen Muslimen.[15] Ebenso hätten die erschreckenden Reaktionen auf den deutsch-islamischen Facebookseiten, die nur verwundern können, wen schon das massenhafte Feiern der Brände in Israel nicht angewidert hat[16], diskutiert werden müssen. Stattdessen hypostasieren nicht wenige die AfD als Wiederkehr des Nationalsozialismus, wobei es ja der Islamismus ist, der sich anschickt, in verwandelter Form in dessen Fußstapfen zu treten. Beiden Ideologien gemein ist die Feindlichkeit gegenüber dem Christentum, was mit Blick auf das Ziel des Anschlags auch hätte erörtert werden können.
Herbert Marcuse betonte in seinen Feindaufklärungen über die Deutschen, dass zu den Voraussetzungen des Nationalsozialismus die Abschaffung christlicher Zivilisation gehörte, die Befreiung von den „durch die christliche Zivilisation auferlegten Beschränkungen“[17], welche nicht in bloßer, so leicht zu veralbernder Religiosität aufgehen:

„Der Glaube, den die Nazis zerstörten, um an dessen Stelle ihr eigenes System zu errichten, ist nicht in erster Linie religiöser Natur. Es ist der Glaube an die Normen und Werte der christlichen Zivilisation, insofern sie keinen unmittelbaren ‚Kaufwert’ besitzen, das heißt, nicht durch das tatsächliche Verhalten von Individuen, Gruppen und Nationen verwirklicht worden sind. In diese Kategorie gehören nicht nur die höchsten Dogmen des Christentums, sondern auch die anerkannten Grundsätze der säkularen Ethik, Geschäftsmoral und Politik.“[18]

Irritierend dürfte auf viele, sich der Kritischen Theorie verpflichtet fühlende Linke wirken, dass Marcuse die „Abschaffung des Glaubens“, an der sie sich engagiert beteiligen, als „wahrscheinlich die gefährlichste Errungenschaft des Nationalsozialismus“[19] bezeichnete. Auch die an der Religion zu rettende und viel zitierte „Sehnsucht nach dem ganz Anderen“ reduziert sich keineswegs auf das kommunistische Bilderverbot, sondern schließt, so Horkheimer, auch die Moral mit ein:

„Alle Versuche, die Moral anstatt durch den Hinblick auf ein Jenseits auf irdische Klugheit zu begründen […] beruhen auf harmonistischen Illusionen. Alles, was mit Moral zusammenhängt, geht letzten Endes auf Theologie zurück, alle Moral, zumindest in den westlichen Ländern gründet in Theologie […].“[20]

Während christliche Deutsche, die sich zu Nationalsozialisten machten, ihr Christentum tatsächlich pervertieren mussten, da die christliche Morallehre, die Egalität der Menschen, die Gewaltfreiheit und Feindesliebe, mit der völkischen Entfesselung der Triebe zu Gunsten der Volksgemeinschaft und antisemitischer Rassenhierarchie nicht vereinbar sind, müssen moderate Moslems ihre Religion nur verlängern, um sie in Richtung vollendeter Barbarei zu treiben. Das Tötungsverbot beispielsweise, das freilich im Widerspruch zur historischen christlichen Praxis steht, deren spezifisch christlicher Antijudaismus bzw. Antisemitismus gar nicht ausgeblendet werden sollen, kennt der Islam nicht:

„[A]nders als im Christentum oder Judentum verbietet der Islam nicht prinzipiell das Töten anderer Menschen, sondern legt fest, in welchen Fällen das Töten erlaubt ist. So können auch heute unzählige Fatwas verabschiedet werden, die selbst das Töten von Kleinkindern, ja schwangeren Frauen gutheißen oder gar zur Pflicht erheben. Viele der Massaker, die in der islamischen Geschichte Legion sind, verstießen keineswegs gegen religiöse Vorschriften und brauchten deshalb weder verheimlicht noch zumindest gerechtfertigt werden.“[21]

Wer klären möchte, warum auf einen Breivik so viele Amris kommen, dürfte diesen fundamentalen Widerspruch zwischen christlicher und islamischer Morallehre nicht ausblenden, den auch Horkheimer betonte, wenn er den Geist des Christentums zum einen von christlicher Praxis und zum Anderen vom Islam abgrenzte:

„Der Islam, den Schopenhauer deshalb haßte, weil er dem kollektiven Fanatismus, der brutalen Positivität unter allen Religionen am weitesten entgegenkam, entspricht dem Erwachen wilder Völkerstämme besser als die Religion des Kreuzes, deren Aufbrüche ihrem Wort und Geist seit je zuwider waren. Nicht die ‚Praxis ihrer Bekenner’, nämlich der europäischen Völker, die in der Geschichte ein dunkles Kapitel bildet, sondern die Moral ihrer Lehre ist nach Schopenhauer ‚viel höherer Art als die der übrigen Religionen, die jemals in Europa aufgetreten sind’. Der Islam dagegen fordert wenig von seinen Bekehrten und ist für Eroberung. Die Übereinstimmung von Theorie und Praxis überzeugt die Eingeborenen. Sie wollen endlich auf der Welt Karriere machen.“[22]

So zeigt sich in der vormodernen Barbarei des IS dieser unbedingte Wille zum Schlussmachen mit allen Beschränkungen. Sama Maani stellt die richtige Frage nach einer „Umkehr des Zivilisationsprozesses“, die nur mit Hilfe der Geschichtsphilosophie gedeutet werden könne.

„Heute, hundert Jahre nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs, werden wieder grundlegende zivilisatorische Normen über Bord geworfen. In den 1930er Jahren gingen junge Menschen aus aller Welt nach Spanien, um dort gegen die von Mussoloni und Hitler unterstützten Faschisten zu kämpfen. Heute gehen junge Menschen aus aller Welt in den Irak, um in einem Religionskrieg Andersgläubige abzuschlachten und deren Heiligtümer zu zerstören.“[23]

Es ist kein Zufall, dass die Ächtung des Christentums zumeist im Verbund mit Islamapologie und Israelhass daherkommt. So wie der Nationalsozialismus das Christentum ablehnte, es daher zum deutschen pervertierte und den Islam als kämpferische Religion zu schätzen wusste, wiederholt sich heutzutage im Dreiklang von Antisemitismus, Islamapologie und der Ächtung des Christentums das Ressentiment gegenüber Zivilisation überhaupt. Es zielt wesentlich auf die älteste Gesetzes-, die jüdische Religion, welche den Mäßigung verlangenden Gesetzesgott „später auch in den christlichen (und in besonders verzerrter Form den islamischen) Ländern aufzurichten verhalf.“[24] Im Schweigen über die Täterideologie drückt sich die Verdrängung dieser Rebellion aus, die zwar auch, aber keineswegs ausschließlich als gegen die kapitalistische Moderne gerichtete bestimmt werden kann, insofern es sich bei den „Erscheinungsweisen des politischen Islam – buchstäblich, nicht nur metaphorisch – um die Widerkehr einer barbarischen Vorzeit handelt.“[25]
Sublimierung statt Unterdrückung der Affekte
Statt aber dem antizivilisatorischen Furor Anis Amris nachzugehen und ihn in seinen Möglichkeitsbedingungen zu reflektieren, witzelte beispielsweise die „Titanic“ kurz nach dem Anschlag darüber, dass die AfD sich nun über diesen freuen würde. Wer vor der Reflexion der Sache schon ins politische Tagesgeschäft übergegangen ist, wer, unfähig zur Besinnung, sich unmittelbar und zwanghaft seine strategischen Überlegungen im „Kampf gegen rechts“ macht, der steht denjenigen in seiner Empathie- und Erfahrungslosigkeit in nichts nach, denen die Toten im Mittelmeer gleichgültig sind und offenbart sich als die andere Seite derselben Medaille. Das Leid berührt einen derart Abgestumpften deswegen nicht mehr, weil er seine eigene Gesellschaft so sehr verachtet, dass er ihren Bürgern nicht erlaubt, Opfer zu werden und deshalb sofort als Ersatzhandlung neue Täter in ihr sucht.
Weil eine wesentliche Gefahr vom Islam ausgeht, dessen rücksichtslose Kritik jedoch unterm Tabu steht, sucht sich der Selbsterhaltungstrieb ein Ersatzobjekt, auf das sich alle einigen können, den Rechtspopulismus, währenddessen die Identifikation mit dem Aggressor mehr und mehr vollzogen wird. Exemplarisch zeigte sich dies auf einer im Januar in Berlin durchgeführten Demonstration gegen Donald Trump, wo schließlich „Allahu Akbar“ gerufen wurde, und auf dem Women’s March, der von der Schariaapologetin Linda Sarsour mit organisiert wurde und als Symbol eine Synthese aus Kopftuch und amerikanischer Flagge hervorbrachte. Statt dieser „Ersatzhandlungen, welche den Trieb für das Verbot entschädigen“[26] bedürfte es der Sublimierung des Hasses und der Angst, beides natürliche Affekte nach Anschlägen, und nicht deren Unterdrückung (durch Beschwichtigung, Relativierung und Volkspädagogik) bzw. Umlenkung auf den projektiv völlig verzerrten, wenngleich natürlich durchaus gefährlichen Rechtspopulismus. Denn fehlende Sublimierung birgt immer die Gefahr des unvermittelten und irrationalen Ausbruchs und kann dabei an bestehende fremdenfeindliche Ressentiments anknüpfen.
In den Tagen nach dem Anschlag hörte man Journalisten ständig erklären, es gehe den Terroristen darum, Angst zu verbreiten und die gesellschaftlichen Gruppen zu spalten. Das ist zwar nicht völlig falsch, doch ist in erster Linie einer Projektionsleistung geschuldet. Weil man es selbst mit der Angst zu tun bekommt, erklärt man die Herbeiführung dieser zum Ziel des Dschihads. Weil man sich selbst als Teil des multikulturellen Deutschlands empfindet, bestimmt man dessen Spaltung zum Ziel des Islamismus. Dabei wird verkannt, dass der Terror nicht bloßes Mittel ist, sondern seinen Zweck in sich selbst trägt, die Vernichtung der Feinde. Auch deswegen wäre die angemessene Antwort auf die Toten nicht kitschige ökumenische Symbolik, sondern diesen Krieg, den der Westen nicht begonnen hat, auch zu führen. Und zwar auch für die Toten des 19. Dezembers 2016, die man noch nicht einmal als die Individuen, die sie einmal waren, angemessen hat betrauern können. Deshalb hätte zu gelten: Kein Vergeben, kein Vergessen.

von Felix Perrefort

[1] https://www.youtube.com/watch?v=y5oAMfPrDa4 und: http://www.dailymail.co.uk/news/article-4061096/Berlin-market-killer-Anis-Amri-shot-dead-Italy-Milan-police.html.
[2] „Der Krieg gegen den Iran ist in erster Linie Israels Krieg. Israels Führung und die Israel-Lobby wollen ihn.“ Siehe hierzu Matthias Küntzels Artikel: https://publikative.org/2012/07/04/michael-luders-und-die-reichen-new-yorker-juden/.
[3] In dem Buch wird weder heroisch-apokalyptisch zum Kulturkampf aufgerufen, noch wird Kultur nach deutscher Art verherrlicht. Dass es nicht als liberale, sondern rechte Publikation wahrgenommen wird, dürfte auch an dem von Huntington selbst zurückgewiesen, spezifisch deutschen Kultur- und Zivilisationsbegriff liegen, mit dem der Titel rezipiert wird: „Zweitens ist eine Zivilisation eine kulturelle Größe, außer im deutschen Sprachgebrauch. Deutsche Denker des 19. Jahrhunderts unterschieden streng zwischen Zivilisation, wozu Mechanik, Technik und materielle Faktoren zählten, und Kultur, wozu Werte, Ideale und die höheren geistigen, künstlerischen, sittlichen Eigenschaften einer Gesellschaft zählten. Diese Unterscheidung hat sich im deutschen Denken behauptet, während sie ansonsten abgelehnt wird. […] Die angestrebte Unterscheidung zwischen Kultur und Zivilisation hat sich jedenfalls nicht durchgesetzt, und außerhalb Deutschlands ist man sich mit Bernand Braudel weitestgehend einig, daß es illusorisch wäre, „die Kultur nach Art der Deutschen von ihrer Grundlage, der Zivilisation, trennen zu wollen“. Samuel Huntington: Der Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, 5. Aufl., München, Wien 1996, S. 51.
[4] http://www.lichtwort.de/_books/erlaubtes_und_verbotenes.pdf.
[5] http://www.verfassungsschutz-bw.de/,Lde/1946019.
[6] Vgl. Mansour, zit. n. Georg M. Hafner, Esther Schapira: Israel ist an allem Schuld. Warum der Judenstaat so gehasst wird, Köln 2015, S. 79f.
[7] Christian Knoop, Thomas v. d. Osten-Sacken: Zur Psychopathologie des Islamisten, in: Context XXI/2005. Auch online: http://www.wadinet.de/analyse/iraq/psychopathologiedesislamisten.htm
[8] Ebd.
[9] Max Horkheimer, Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a. M. 2012, S. 196.
[10] Vgl. zu den folgenden Ausführungen den Text der Gruppe Morgenthau zur „Sozialpsychologie des islamisierten Subjekts“ und zwar den Abschnitt „Individualität und Unterwerfung“. http://www.prodomo-online.org/ausgabe-14/archiv/artikel/n/die-nacht-der-vernunft.html
[11] Ebd., S. 40.
[12] Ebd.
[13] Als idealtypisches Gegenstück kann die westliche Erziehung allerdings keineswegs gelten. Um die Herausbildung des Gewissens ist es im postbürgerlichen Zeitalter nicht unbedingt gut bestellt. Horkheimer verwies auf die Bedeutung der Auflösung der väterlichen Autorität: „Durch die zahlreichen soziologischen, psychologischen und technischen Veränderungen insbesondere der bürgerlichen Familie […] ist doch die Autorität des Vaters erschüttert. Daraus, so glaube ich, ergeben sich große Konsequenzen. Spielt das Gewissen, da die Autorität des Vaters nicht mehr dieselbe ist wie früher, eine andere Rolle? Oder kann es sich überhaupt nicht mehr herausbilden? Das sind Fragen, die heute überhaupt nicht mehr untersuchten werden. Ich glaube, aufgrund des Umstandes, daß die Familie heute nicht mehr die Bedeutung hat wie früher, wird unser gesellschaftliches Leben ganz entscheidend verändert. Eines scheint in jedem Fall klar zu sein, daß der Zusammenbruch des Vater-Mythos, ohne auch nur einigermaßen entsprechenden Ersatz, die Existenz des Gewissens als gesellschaftliches Phänomen in Frage stellt.“ Horkheimer, Die Sehnsucht nach dem ganz Anderen, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 7, Vorträge und Aufzeichnungen 1949-1973, S. 399f. Es stünde auch zu vermuten, dass das westliche Phänomen, die Schuld für globale Missstände stets beim Westen zu suchen, mit der Auflösung der väterlichen Autorität zusammenhängt. Dazu sei auf eine Fußnote in „Das Unbehagen in der Kultur“ verwiesen, in der Freud bemerkt, dass eine zu nachlässige Erziehung seitens des Vaters „Anlaß zur Bildung eines überstrengen Über-Ichs werden“ kann. Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur, in: Ders.: Gesammelte Werke, Köln 2014, S. 929.
[14] Ebd., S. 41.
[15] Beispielsweise besitzen 44 % der marokkanischen und türkischen Muslime in Deutschland, Frankreich, Niederlanden, Belgien, Österreich und Schweden fundamentalistische Ansichten, nach denen es nur eine für alle Muslime verbindliche Auslegung des Korans gebe, man zu den Wurzeln des Islam zurückkehren und religiöse Regeln Vorrang vor dem weltlichen Gesetz haben. 47% der deutschen Muslime halten den Koran für wichtiger als die deutschen Gesetze, 45% stimmen zu, dass Juden nicht getraut werden könne, und 60% lehnen Homosexuelle als Freunde ab. https://www.wzb.eu/sites/default/files/u252/s21-25_koopmans.pdf In Großbritannien stimmten 100% der Befragten einer Umfrage zu, dass Homosexualität moralisch falsch sei[15], und 52% sie gleich illegalisieren möchten. https://www.theguardian.com/uk/2009/may/07/muslims-britain-france-germany-homosexuality und http://edition.cnn.com/2016/04/11/europe/britain-muslims-survey/.
[16] Siehe hier zu die Zusammenstellung von Kommentaren von Gerd Buurmann: https://tapferimnirgendwo.com/2016/11/25/stell-dir-vor-es-ist-terror-und-der-mob-feiert/.
[17] Vgl. das Kapitel zur „Abschaffung des Glaubens“ in: Herbert Marcuse: Feindanalysen. Über die Deutschen, Lüneburg 1998, S. 43-46, hier S. 42 und außerdem: Leo Elser: Religionskritik und Ressentiment. Die Austreibung der Transzendenz wider alle Vernunft, in: Bahamas 61/2011. Auch online: http://www.redaktion-bahamas.org/auswahl/web61-2.html.
[18] Marcuse, Feindanalysen, a. a. O., S. 43.
[19] Ebd, S. 42.
[20] Horkheimer, Die Sehnsucht nach dem ganz Anderen, a. a. O, S. 389.
[21] Knoop, Osten-Sacken, Zur Psychopathologie des Islamisten, a. a. O.
[22] Max Horkheimer: Die Aktualität Schopenhauers, a. a. O., S. 141f.
[23] Sama Maani: Respektverweigerung. Warum wir fremde Kulturen nicht respektieren sollten. Und die eigene auch nicht. Klagenfurt/Celovez 2015, S. 103.
[24] Uli Krug: Der Wert und das Es. Über Marxismus und Psychoanalyse in Zeiten sexueller Konterrevolution, Wien 2016, S. 92.
[25] Maani, Respektverweigerung, a. a. O., S. 107.
[26] Sigmund Freud: Totem und Tabu, a. a. O., S. 640.