Feministisch streiten oder: Zum Stand des zeitgenössischen materialistischen Feminismus

Besprechung von Koschka Linkerhand (Hrsg.): Feministisch streiten. Texte zu Vernunft und Leidenschaft unter Frauen

Allerorten herrscht Einigkeit darüber, dass mit dem derzeitigen Feminismus nicht mehr viel anzufangen ist. Der Queerfeminismus dominiert dieses Feld politischer Theorie und Praxis so allgegenwärtig, dass selbst diejenigen ihn oft notgedrungen ins Zentrum ihres feministischen Denkens stellen, die ihn ausdrücklich ablehnen – wenn auch ex negativo, in Form der Kritik. So notwendig diese Kritik auch ist: Die oft in einem Nebensatz eingestreute Bekundung, sich der „zweiten Frauenbewegung“ und/oder einem „materialistischen Feminismus“ verpflichtet zu fühlen, geht selten über dieses Bekenntnis hinaus und bleibt theoretisch vage, wie man zuletzt am Beispiel von dem (nichtsdestotrotz notwendigen) Sammelband Beißreflexe sehen konnte.[1] Dazu kommt, dass die wegweisende Theorieproduktion jenes vielbeschworenen ‚materialistischen Feminismus‘ schon einige Jährchen auf dem Buckel hat – man denke an Silvia Federicis Wages against housework (1975), Jessica Benjamins Bonds of Love (1988) oder Roswitha Scholz‘ Das Geschlecht des Kapitalismus (2000). Was also versteht man heute, im Jahr 2018, unter materialistischem Feminismus‘? Hier will Feministisch streiten von der in Leipzig lebenden feministischen Theoretikerin Koschka Linkerhand Antworten geben. Der Band, der 25 Beiträge von verschiedenen Theoretikerinnen und Aktivistinnen aus Leipzig und dem Rest Deutschlands versammelt, versteht sich zwar nicht primär als wissenschaftlich. Er schafft es aber, kompakt und pointiert einige grundsätzliche theoretische und praktische Eckpfeiler dessen, was ein universalistischer, materialistischer und an der Kritischen Theorie geschulter Feminismus im Jahr 2018 sein könnte, zu skizzieren und zusammenzubringen.
Gemäß seiner titelgebenden Leitmaxime stellt der Sammelband zentrale gegenwärtige Kampfplätze des Feminismus aus seiner eigenen, zum Queerfeminismus quer liegenden Perspektive vor. Die Kampfplätze werden in den Kapitelüberschriften angedeutet: Es geht um geschlechtliche Differenz, Sexualität/Körper/Sozialisation, Lohnarbeit, Bewegung, Sprache, Intersektionalität, Streit. Aufgrund der Prägnanz und des Überblickscharakters vieler Beiträge kann der Band mit gutem Gewissen als Einstiegslektüre empfohlen werden. Er mag als Streitschrift für Anhängerinnen der postmodernen Identitätspolitik dienen, eignet sich aber auch gut als theoretische Einführung für jene, die sich mit dieser nicht (mehr) identifizieren können und nach Alternativen suchen sowie für jene, die sich bereits mit materialistischer Gesellschaftskritik befasst haben und sich einen Überblick über feministische Theoriebildung verschaffen wollen. Angesichts der Fülle der verhandelten Themen und Theorien scheint es mir sinnvoll, zur näheren inhaltlichen Bestimmung vier übergeordnete Denkbewegungen hervorzuheben, die meines Erachtens einen aktuellen materialistischen Feminismus im Sinne der Autorinnen von Feministisch streiten charakterisieren und den Sammelband wie rote Fäden durchziehen.

  1. Das Ineinander von (Selbst-)Kritik und Theoriebildung

Ja, auch Feministisch streiten arbeitet sich an fragwürdigen bis gefährlichen Positionen innerhalb des Feminismus ab. Zu nennen wären etwa die Sprachpolitik, die Auflösung des politischen Subjekts Frau oder ein Kulturrelativismus, der antirassistisch sein will und doch selbst rassistisch und antisemitisch ist. Der Band gibt sich mit Kritik allein allerdings nicht zufrieden, sondern fragt dezidiert danach, wie eine universalistisch-materialistische Perspektive auf oben genannten Probleme, z.B. einer diskriminierenden Sprache etc. aussehen könnte. Damit kommt der Band einer Forderung nach, die Linkerhand in dem programmatischen Beitrag Angst und Aggressivität im Feminismus als „die wichtigste Bestimmung“ des gegenwärtigen materialistischen Feminismus benennt: nämlich sich Objekte jenseits seiner selbst zu setzen, d.h. über die permanente selbstreferentielle Kritik an der feministischen Theorie, die den gegenwärtigen Stand des Feminismus kennzeichnet, hinauszugehen und die Kritik wieder auf äußere Objekte zu richten. Die Tendenz im Queerfeminismus und in ‚betroffenheitsfeministischen‘ Bewegungen wie #metoo, sich gegen Widerspruch und Reflexion abzuschotten zugunsten eines möglichst sensiblen und rücksichtsvollen Umgangs untereinander, sowie Aggressionen primär gegen sich selbst zu richten – in Form autoritärer Verhaltens- und Sprachregulationen – deutet Linkerhand als Effekt der typisch weiblichen Sozialisation und damit als Fortsetzung geschlechtsstereotyper Angst- und Schulddynamiken. Feministinnen, so die richtunggebende These des Bandes, müssen entgegen dieser Sozialisation (wieder) lernen, ihre Aggressionen (sublimiert) gegen äußere Gegenstände feministischer Kritik, wie die kapitalistische Ökonomie, die Politik, Sexualität, Geschichte, Kunst, Sozialisation etc. zu wenden und – neben der Selbstkritik – dezidiert Streit zu suchen. Wie Formen des Streits aussehen können und warum auch die Form der Polemik nicht unangetastet bleiben sollte, wird so kontrovers wie erhellend in einem eigenen Kapitel diskutiert, aber auch an den einzelnen Beiträgen vorgeführt.
2.Die Wiederaneignung der vom Queerfeminismus besetzten Themen
In der Auseinandersetzung mit zentralen Objekten feministischer Kritik wird schnell deutlich, dass nicht wenige vom Queerfeminismus geradezu „besetzt“ sind. Das meint: Bestimmte Problematiken scheinen so eng mit der queerfeministischen Theoriebildung verzahnt, so tief von ihr durchdrungen, dass sie von Gegnerinnen derselben mit der postmodernen Theorie in eins gesetzt und daher vernachlässigt, einseitig aufgelöst oder als Probleme gar ausgeblendet oder geleugnet werden. Dies betrifft zum Beispiel die Themen Transsexualität bzw. trans Weiblichkeit, Sprachkritik, Körperpolitik à la Body-positivity und natürlich auch Rassismus und eine wie auch immer gedachte ‚Intersektionalität‘. Es ist das große Verdienst des Bandes, hier nicht in reflexhafter Abwehrhaltung einfache, entgegengesetzte Schlüsse zu ziehen und die Themen damit sich selbst bzw. der queerfeministischen Ideologie zu überlassen, wie dies sowohl in feministischen, als auch in linken oder postlinken Kreisen teilweise üblich ist. Beispiel: Weil der gegenwärtige antirassistische Feminismus an Islamapologie, Antizionismus, Kulturalismus etc.pp. krankt, wird sich von der Emma bis zur Bahamas gar nicht mehr mit Rassismus befasst oder schlimmer noch, es wird mit rechten Positionen kokettiert. Dagegen erhebt Feministisch streiten den Anspruch, das Problem selbst (z.B. die Verschränkung von Rassismus und Sexismus oder diskriminierende Sprache) wieder ernst zu nehmen, sie aus einer universalistisch-materialistischen Perspektive neu zu denken und etwa auch Konzepte wie das der Intersektionalität begrifflich zu ‚retten‘, ohne sie gegen andere Konfliktfelder auszuspielen oder in eine Hierarchie der Probleme einzuordnen. Das gelingt nicht immer gleich gut. Während es z.B. der Beitrag Das Unbehagen mit dem Sternchen des Antifaschistischen Frauenblocks Leipzig schafft, für eine materialistische Sprachkritik als ein Teil feministischer Kämpfe zu argumentieren, bleiben die Beiträge zu Rassismus und Feminismus sowie der Beitrag über trans Weiblichkeit im Austarieren all der Ambivalenzen ihrer Sujets streckenweise im Vagen und manchmal Floskelhaften („Widersprüche aushalten“) stecken. Auch wenn man nicht vergessen darf, dass beide geradezu Pionierarbeit leisten, wünscht man sich für kommende Bearbeitungen noch mehr analytische Schärfe.
3. Die Neuperspektivierung von klassischen linken Themen
Doch nicht nur um queerfeministisch besetzte Objekte wird gestritten, sondern auch um klassische linke Themen. Dass ein Feminismus, der sich materialistisch nennt, auf der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie fußt, liegt auf der Hand. Es ist die Feministinnen seit langem umtreibende Verquickung von Patriarchat und Kapitalismus, sowie die für den Neoliberalismus konstitutive Doppelbelastung von Lohnarbeit und Reproduktionsarbeit der Frauen, die hier im Fokus stehen. Sowohl die Beiträge von Charlotte Mohs als auch von Sabrina Zachanassian erarbeiten eine Theoriegeschichte feministischer Ökonomiekritik und machen diese anschlussfähig sowohl an neue Lesarten des Marxismus wie Fetischkritik und Kritische Theorie, als auch an die gegenwärtige wirtschaftliche und politische Lage der Frau in Europa. Dabei wird wahlweise nach konkreten Klassenkämpfen von Frauen, oder gesellschaftlichen Utopien gefragt. Das (wiederentdeckte) Interesse an Ökonomie, der Klassenfrage und einer materialistisch fundierten Perspektive auf politische Praxis treibt derzeit noch weitere progressive kommunistische Projekte um[2] – es bleibt zu hoffen, dass sich hier auch theoretische Synergien ergeben, wo sie nicht schon bestehen. Problematisch, weil weder mit dem sonst so dialektischen Vorgehen noch einem kritisch-theoretischen Verständnis von Aufklärung vereinbar, wird es allerdings dort, wo in der notwendigen Abkehr von queeren ‚safe spaces‘ implizit Gewalt gegen frauenverachtende Männer als legitime Praxisform gebilligt wird – wie im Beitrag des Autorinnenkollektivs „Zora Zobel findet die Leiche“ über weibliche Militanz. Bis in die kleinsten und unangenehmsten Widersprüche hinein reflektiert dagegen ist Koschka Linkerhands Wiederbelebung der feministischen Religionskritik. In ihrer scharfen und zugleich differenzierten materialistisch-universalistischen Kritik des Islam zeigt sie die Notwendigkeit feministischer Theorie für eine solche auf.
4. Die dialektische Verschränkung von Identitätspolitik und universalistischer Gesellschaftskritik
Der wohl wichtigste rote Faden des Bandes ist der Versuch einer dialektischen Vermittlung von Partikularismus und Universalismus, welche Emanzipationsbestrebungen seit jeher innewohnt: Auf der einen Seite, so die Autorinnen, sei es notwendig, sowohl das individuelle, als auch das politische Subjekt Frau, wiederum verstanden als Ineinander von Gleichheit und Differenz, zu stärken. Das heißt, dass in konkreten Fällen bis zu einem gewissen Grad Identitätspolitik betrieben werden muss. Gleichzeitig tut es wiederum not, Differenzen unter den Frauen, aber auch unter Frauen und Männern zugunsten einer universalistischen Perspektive, die die Emanzipation der Frau im Kontext des gesellschaftlichen Ganzen und der Befreiung der Menschheit im Allgemeinen einfordert, zurückzustellen.
5. Fazit
Der Vorteil des Bandes – einen tendenziell niedrigschwelligen und möglichst breitgefächerten Einblick in eine Vielzahl von Themen und Theorien zu geben – ist zugleich sein Nachteil. So kommen notgedrungen viele Themen zu kurz, werden nur angerissen oder zu knapp ausformuliert. Dazu zählt meines Erachtens besonders weibliche Sexualität und weibliches Begehren oder der Standpunkt des Mannes in der feministischen Theorieproduktion und –rezeption. Jetzt, wo eine gewisse Vielseitigkeit bewiesen wurde, bleibt zu hoffen, dass sich ein etwaiger Folgeband stärker in die analytische Tiefe wagt – und dass die Autorinnen bzw. Akteurinnen in Union mit etwa den kritischen Genossinnen der Beißreflexe tatsächlich einen – von Linkerhand einleitend postulierten – Paradigmenwechsel im zeitgenössischen Feminismus einleiten.

von Anja Thiele

Linkerhand, Koschka (Hrsg.). Feministisch streiten. Texte zu Vernunft und Leidenschaft unter Frauen.
Querverlag 2018
328 Seiten
16,90 Euro
 
[1] Einige Beiträge, wie etwa der Leitartikel von Patsy L‘amour laLove sind davon auszunehmen. Feministisch streiten wiederum wurde laut der Herausgeberin durch den ermutigenden Erfolg von Beißreflexe angeregt und erscheint auch im selben Verlag.
[2] Speziell für Leipzig wäre hier die translib – Communistisches Labor zu nennen. Ein bundesweites Beispiel wären die Salonkommunisten, aber auch das vorliegende Magazin.

Besprechung von: „Karl Marx in Paris, die Entdeckung des Kommunismus“ von Jan Gerber

Dass zum 200. Geburtstag von Karl Marx etliche Bücher erscheinen, die sich mit Leben und Werk Marx‘ auseinandersetzen ist kaum verwunderlich. Jedoch hat Marx bereits seit der Finanzkrise von 2008 nicht nur in der Linken, sondern auch in Wissenschaft und Feuilleton Hochkonjunktur. Jan Gerber legt mit Karl Marx in Paris dagegen ein Buch vor, das detailliert Marx‘ Aufenthalt in Paris – von Oktober 1843 bis Februar 1845 – rekonstruiert. Geht es den anderen um eine Reaktualisierung von Marx in bedenkenloser Übernahme seiner Begriffe, so geht es Gerber um eine kritische und historisierende Perspektive auf die Marxschen Begrifflichkeiten. So schreibt er, dass die „Diskussionen […] ohne jeden Hinweis auf das bereits stattgefundene Dementi mindestens eines Teiles der Marx’schen Grundbegriffe“ auskommen und die „im 19. Jahrhundert entwickelten Kategorien“ nolens volens „blindlings auf die Situation des 21. Jahrhunderts übertragen“ werden. Friedrich Pollocks These von 1941 – „In den Marxschen Begriffen stimmt etwas nicht“ – gibt den Ausgangspunkt des Buches vor, anhand dessen Gerber versucht zu analysieren, was Pollock – Mitarbeiter am Institut für Sozialforschung um Max Horkheimer – damit im Sinn gehabt haben könnte. Der Essay hat den Anspruch, aus dem Wust an Büchern der vergangenen Dekade herauszuragen und könnte helfen, zu beantworten, was von Marx im 21. Jahrhundert – entgegen allem neuerlichen Personenkult – tatsächlich aktuell wäre.
Implizit der Kritischen Theorie folgend stellt Gerber heraus, dass der Marxsche Geschichtsoptimismus schon mit dem „Ersten Weltkrieg in Mitleidenschaft geraten“ und sich spätestens vor dem „Zivilisationsbruch“ (Dan Diner) Auschwitz blamiere. Im Gegensatz zu traditionellen Marxisten – die nach 1945 den Klassenkampf nahtlos weiter propagierten – verdeutlicht er, dass die Marxschen Kategorien „bei der Erklärung des Nationalsozialismus“ versagen und „durch die braune Revolution, die Integration der Arbeiterschaft in das Regime und das Ausmaß der Verbrechen dementiert“ seien, da sich der Widerstand lediglich „auf das Konto kleiner Gruppen und Einzelner, die aus den unterschiedlichsten Bevölkerungsgruppen kamen“ rekrutierte. Eine an Marx inspirierte Gesellschaftskritik, die dem nicht Rechnung trüge, entledigte sich dem Anspruch einer materialistischen Perspektive auf Geschichte, so könnte man Gerbers Position fassen.
In dem 238 Seiten umfassenden Band historisiert der am Simon-Dubnow-Institut forschende Historiker anhand des gesellschaftlichen Klimas im Paris der 1840er die Herausbildung der Marxschen Kategorien Klasse, Proletariat und Geschichte, die zur „Einheit verschmolzen: Revolutionen wurden als die Schrittmacher der Geschichte begriffen, das Proletariat galt als revolutionäres Subjekt, dem eine historische Mission zukomme“. In vier Passagen, die Marx‘ Leben über Deutschland, Frankreich und Belgien überwiegend chronologisch verhandeln, gelingt es die Entwicklung vom liberalen „Radikaldemokraten“ der Rheinischen Zeitung – der nicht vom Klassenkampf sprach und hinsichtlich des Kommunismus 1842 noch polemisierte, dass auf diesen „mit Kanonen geantwortet werden“ solle – zum Klassenkämpfer des Kommunistischen Manifests zu zeichnen. Darüber hinaus macht Gerber knappe Einlassungen darüber, dass Marx selbst möglicherweise Zweifel an seiner postulierten Mission hatte, da „einiges dafür“ spreche, „dass Marx der Klasse am Ende seines Lebens nicht mehr dieselbe Bedeutung beimaß“. Ohne dies gesondert zu benennen scheint Gerber der These zu folgen, die eine Unterscheidung zwischen dem jungen Philosophen und dem reifen Kritiker der politischen Ökonomie annimmt.
Sehr detailliert erhellt der Essay den zeithistorischen Kontext sowie die biografischen Besonderheiten und das Klima im Paris des 19. Jahrhunderts und verdeutlicht, welch immensen Eindruck Paris auf den jungen Marx gehabt haben muss. Die Stadt erschien in den 1840ern als „Sehnsuchtsort der Verbannten und Revolutionäre“, die vor der Restauration im Nachklang des Wiener Kongresses von 1815 flohen. Ebenso wie viele Emigranten traf Marx auf eine Stadt, die sich zum „Zentrum gesellschaftskritischen Denkens“ entwickelte. Gerber charakterisiert das politische Klima damit, dass der „Glaube, die Welt aus den Angeln heben zu können […] zum guten Ton“ gehörte und Kommunismus für Marx als „aufgelöste[s] Rätsel der Geschichte“ erschien. Aufgrund der rasch wachsenden Bevölkerung wurde Paris zur Metropole und Symbol der uneingelösten Forderung nach Gleichheit, zum „Zentrum der Rede von der Klasse“, in dem die „soziale Frage auf der Straße“ lag, da sich die sozialen Unterschiede, Armut und Kriminalität deutlich zeigten. Während jedoch in weiten Teilen Europas die Restauration den politischen Kontext prägte, unterlag Paris – kosmopolitische „Hauptstadt der neuen Welt“ (Marx) – einem liberaleren Klima, das mehr polit-ökonomische Freiheit erlaubte und sich am Boom des Zeitungsmarktes zeigte. Anhand der Deutsch-Französischen Jahrbücher, in denen Marx noch nicht emphatisch vom Kommunismus sprach, macht Gerber hierbei auf die erstmalige Verwendung der Kategorien Klasse und Proletariat in Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung aufmerksam, die „fortan als Motor der Geschichte“ ausgemacht wurden. Stand und Klasse verwendete Marx noch synonym, da die gedankliche und analytische Schärfe noch fehlte.
Friedrich Engels – den Marx bis dato kaum kannte – stieß in Paris mit seinem Manuskript Zur Lage der arbeitenden Klasse in England zu Marx. Im Zuge Marx‘ weiterer Emigration nach Belgien verknüpfte er die in Paris gewonnenen Überzeugungen mit dem inzwischen zum guten Freund gewordenen Engels im Kommunistischen Manifest zum teleologisch zugespitzten Klassenkampf, gipfelnd in einer Revolutionserwartung. Die geschichtsphilosophisch aufgeladene Kategorie Klasse war jedoch, so verdeutlicht Gerber, schon vorher ein „Bewegungs-, Erwartungs-, und Beschleunigungsbegriff“, der „revolutionär, umstürzlerisch, zumindest aber dynamisch aufgeladen“ und zu einer „sozioökonomischen Ordnungskategorie“ wurde. Sie zielte auf Kritik sozialer Ungleichheit der neuen Ordnung und wurde von Frühsozialisten sowie Historikern namens Saint-Simon und Augustin Thierry – deren Werke sich Marx bereits gen Paris intensiv aneignete – als maßgebliches Prinzip in der Geschichte ausgemacht. Marx war dementsprechend bereits vor seiner Zeit in Paris von 1789 begeistert. Obwohl diese Begeisterung damals laut Gerber noch „unter demokratisch-republikanischen Vorzeichen“ stand, wurde die Revolution von 1789 zur „Blaupause zukünftiger Erhebungen“. Über diesen Rückgriff und Vermittlung zur Literatur der Französischen Revolution wandelte er sich im aufrührerischen Klima zum überzeugten Kommunisten.
In Paris und Belgien gelangten Marx und Engels zur gedanklichen Ausarbeitung des Historischen Materialismus, womit die Kategorie Proletariat sowie die Verelendungsthese unter dem Hegelianisch gefärbten Geschichtsoptimismus ausgestaltet wurden. Während Marx in Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung noch einem Klassenbegriff anhing, der „blutleer“ und „frei von Empirie“ gewesen sei, sei die Lücke durch Engels im Manifest gefüllt wurden. Engels kannte Verelendung, Kinderarbeit sowie Krankheit der arbeitenden Klasse vor allem aus seinen Erfahrungen aus seiner Zeit in Manchester, das den Industrialisierungsgrad anderer Regionen weit überragte. Die damit verbundene Annahme, der sich zuspitzenden Verelendung unterlag laut Gerber jedoch einer schiefen Empirie, da das, was Engels in Manchester beobachtete, nicht der allgemeinen Entwicklung entsprochen hätte. Zwar verkam Manchester in den 1840ern tatsächlich zum Epizentrum der Verelendung und hatte durchaus besonderen Charakter inne, jedoch erreichte die Verelendung der 1840er nie wieder dieses Ausmaß. Analog zum Symbol der Globalisierung der 1990er – Detroit – argumentiert Gerber, sei Manchester das Symbol der Industrialisierung in den 1840ern gewesen, woraus sich jedoch kein „unweigerliche[r] Vorschein auf die zukünftige Entwicklung“ schließen ließ und die Historie die Verelendungsthese widerlegte. Gerber spitzt zu, dass, wenn Engels das Manchester der 1850er erlebt hätte, der Charakter des Manifests anders hätte ausfallen müssen, da die „strikte Polarisierung“ von Bourgeoisie und Proletariat ausblieb. Wirft man einen Blick in das Vorwort zur Neuausgabe Zur Lage der arbeitenden Klasse in England von 1892, so scheint es Engels selbst zu sein, der Gerber hierbei recht gibt, da Engels dort seine empirischen Grundlagen sowie „jugendlichen Eifer“ und Teile seiner Prognosen von 1845 selbst hinterfragt. Gerber verdeutlicht zudem, dass es bis zum Ende des 19. Jahrhunderts keine strikte Ausbildung eines Proletariats gegeben hätte und die Produktionsverhältnisse noch eher vormodernem Charakter entsprachen, somit Manufakturen statt Fabriken, eher Handwerker denn Proletarier, die „nicht miteinander identisch“ gewesen seien. Gegen die These der Verelendung spricht außerdem, dass der Marxismus in den fortgeschrittensten Industrieländern – entgegen der Marxschen Erwartung– kaum über Einfluss verfügte, was insgesamt deutlich macht, dass die Marxschen Kategorien auf einer „Generalisierung räumlich und zeitlich begrenzter Phänomene“ beruhten. Marx selbst, so Gerber, sei aufgrund dessen möglicherweise von der „historischen Mission des Proletariats“ abgerückt, was ihn im Londoner Exil die „Verelendungstheorie zur Krisentheorie“ transformieren ließ.
Darüber hinaus positioniert sich Gerber kritisch gegenüber „kritischen Marxisten“, denen er einen Taschenspielertrick vorwirft, da sie Engels für den zum Dogmatismus geronnenen Marxismus-Leninismus verantwortlich machten. Engels komme dabei die Rolle des „großen Vereinfacher[s]“ zu, der dem „reflektierte[n] Dialektiker“ Marx entgegengestellt werde. Gerber unterstreicht dagegen, dass Engels‘ Anteil „kaum überschätzt werden“ könne und die Beziehung eher auf einer Symbiose beruhte: Dafür spricht, dass sich Engels lange vor Marx mit der ökonomischen Klassik Smiths und Ricardos beschäftigte, Marx von Engels verfasste Schriften „unter seinem Namen“ veröffentlichte und er den Anti-Dühring entgegen der These „kritischer Marxisten“ hoch bewertete. Zwar ist Gerbers Argumentation überzeugend, jedoch scheint es wiederum etwas verkürzt, dies auf folgende Entgegensetzung herunterzubrechen: „Marx lieferte dem ‚Historischen Materialismus‘ die Philosophie, Engels die Empirie“. Bezüglich des philosophischen Gehalts macht Gerber deutlich, dass sich unter der dem Hegelianismus verbundenen Vorstellung der List der Vernunft eine Teleologie und Theologie verbarg, die vom säkularisierten Fortschrittsoptimismus getragen wurde: der Weltgeist wurde durch den Klassenkampf abgelöst.
In toto erhellt der Band anhand der Debatten, die Marx mit Frühsozialisten und Anarchisten führte, die Entwicklung zum Klassenkämpfer. Im Gegensatz zum Frühsozialismus seien Marx‘ utopische Einlassungen recht spärlich, da sich lediglich in den Pariser Manuskripten sowie im Manifest Konkretionen finden lassen – mehr, „als er je wieder darüber schreiben sollte“. Im Kapital komme er sogar „ohne jeden Hinweis auf die Gestalt des Kommunismus“ aus. Hinsichtlich der Wirkungsgeschichte Marx‘ im realen Sozialismus argumentiert Gerber gar, dass es vielleicht besser gewesen wäre, hätte er mehr Aussagen getroffen, da sich bereits Arnold Ruge – Mitherausgeber der Jahrbücher – in einem Brief an Ludwig Feuerbach darüber beklagte, dass die „zukünftige Gesellschaft, von der in der Seine-Metropole gesprochen wurde“, „auf einen ‚förmlichen Polizei- und Sklavenstaat’“ hindeutete, was laut Gerber als „knappe Voraussage“ interpretiert werden könne. Da das Marxsche Werk zudem vom Eklektizismus seiner Zeit geprägt sei, streicht Gerber mit Verweis auf Max Horkheimer und Walter Ulbricht heraus, dass „sich mit Marx […] die widersprüchlichsten Dinge rechtfertigen“ ließen, denn es könne sowohl die „Diktatur des Proletariats“, als auch das „Bombenbasteln“ der RAF sowie Kritik an derlei mit Marx gerechtfertigt werden, da „[z]u fast jedem Marx-Zitat“ ein „Gegenzitat“ vorliege.
Bei aller kritischen Historisierung bleibt die Frage, was von Marx für das 21. Jahrhundert bliebe, offen, worin zugleich die Stärke des Buchs liegt, das sich nicht am neuerlichen Personenkult beteiligt, sondern Marx in seinem philosophischen Denken und Widersprüchen ernst nimmt. Insgesamt ragt Gerbers Essay nicht nur aus dem eingangs erwähnten Wust heraus, sondern könnte auch dazu beitragen, eine selbstkritische Perspektive linker Provenienz zu fördern. Bezüglich der zeitgenössischen Linken lässt sich Gerber lediglich einmal zu einer Polemik hinreißen, die etwas überzeichnet scheint und aus der ansonsten sachlich gehaltenen Diskussion heraussticht, da er markiert, dass es Marx nicht um ein „Elend für alle“ ging, sondern dieser „[i]n seinen besten Momenten […] den Lebensstil des untergehenden Adels als Blaupause für eine zukünftige Gesellschaft vor Augen“ hatte und die „Rede vom Glück“ noch nicht „für Hühner und Kühe reserviert“ gewesen sei.
Im Epilog umreißt Gerber Aspekte jüngerer Debatten und verweist anhand André Gorz‘ Adieux au prolétariat und Didier Eribons Retour à Reims auf die von der Linken vollzogene Abwendung sowie Verachtung des Proletariats – das zunehmend zur Rechten tendiere – womit zugleich ein Abschied der sozialen Frage einhergehe, was Gerber deutlich moniert. Seine abschließenden Einlassungen zur „schönen neuen Arbeitswelt“, in der die Imperative von Selbstoptimierung und Flexibilisierung herrschen, lassen sich konvergierend zur Analyse Luc Boltanskis und Ève Chiapellos deuten, die in Le nouvel Ésprit du Capitalisme aufzeigten, wie die Gesellschaftskritik der 68er vom Kapitalismus neoliberalen und postmodernen Zuschnitts aufgenommen wurde. Dieser „doppelten Misere“ und die damit verbundene Ausblendung der sozialen Frage könne jedoch nicht mit den Kategorien der Klasse und des Proletariats begegnet werden; möglicherweise jedoch mit Rekurs auf den ökonomiekritischen Marx, auch wenn die Kategorien Ware und Wert ebenfalls durch Auschwitz und das 20. Jahrhundert beschädigt seien.
Den eingangs erwähnten Anspruch die Marxschen Kategorien – Klasse, Proletariat, Geschichte – entgegen dem neuerlichen Marx-Boom zu historisieren, kann der Band zweifelsfrei einlösen. Die offen gehaltene Frage, was von Marx für das 21. Jahrhundert bliebe, könnte beantwortet werden mit einer Lesart, die sich nicht des Repertoires des Klassenkämpfers aus den 1840ern bedient, sondern Marx als Kritiker der kapitalistischen Produktionsweise – dem Untertitel des Kapitals entsprechend als Kritik der politischen Ökonomie – und als Denker einer Wertformanalyse sowie Fetischkritik ernst nähme. Hierfür stünde zuvörderst der erst kürzlich verstorbene Moishe Postone, der bereits 1993 mit Time, Labor and Social Domination: A Reinterpretation of Marx’s Critical Theory eine fundamentale Neuinterpretation vorlegte und sich entsprechend vom traditionellen Marxismus abgrenzte. In Postones an der Kritischen Theorie orientierten Lesart Marx‘ und der Abkehr der List der Vernunft, ließen sich Globalisierung, Elendsausweitung, Digitalisierung sowie Automatisierung von Produktion besser fassen – was auf einem solideren Marx als dem Klassenkämpfer der 1840er stünde. In Zeiten der Eindampfung bzw. Auslagerung des Sozialstaates ließe diese Lesart auch die soziale Frage wieder in den Fokus rücken, womit der von Kultur und Authentizität schwadronierenden kulturrelativistischen Linken – was die vom Konzept des Ethnopluralismus überzeugte Rechte ohnehin besser kann – kritisch begegnet werden kann.

von Mathias Beschorner

Jan Gerber: Karl Marx in Paris. Die Entdeckung des Kommunismus, Piper-Verlag, München 2018, 238 Seiten, 22 Euro.
 
 

Anwalt & selbsternannter Klassensprecher: Christian Barons „Proleten, Pöbel, Parasiten“

Beim neuerlichen Besuch eines Gastwissenschaftlers aus Großbritannien kam das Gespräch – vermittelt über den Brexit – auf die Mitgliedschaft meines Kollegen in der Green Party. Der Gefahr bewusst, dass dieses Gespräch kippen könnte, lenkte ich den Fokus von der Insel schnell auf Deutschland, gab vor keine Kenntnisse von der britischen Ausprägung der Bewegungspartei zu haben und führte an, dass diese in Deutschland eine Partei von und für die gehobene Mittelschicht ist. Der Kollege antwortete in einem Tonfall, den ich zunächst für beispielhaftes britisches Understatement hielt: „Let’s say well educated“. Continue reading „Anwalt & selbsternannter Klassensprecher: Christian Barons „Proleten, Pöbel, Parasiten““