Besprechung von Vojin Saša Vukadinović (Hg.): Freiheit ist keine Metapher. Antisemitismus, Migration, Rassismus, Religionskritik

Nach den Sammelbänden Feministisch streiten und Beißreflexe, die hohe Wellen in den Debatten linker, feministischer und akademischer Provenienz schlugen1, legt der Berliner Querverlag einen neuen Sammelband auf, der vom Historiker Vojin Saša Vukadinović herausgegeben wird und thematisch anschließt. Vukadinović war bereits als Autor an Beißreflexe beteiligt, tritt als scharfer Kritiker der Gender Studies und queerem Aktivismus hervor und schrieb unter anderem für Emma und Jungle World eingreifende Kritiken. Insgesamt zeichnet sich der Band durch ein breites Themenspektrum aus, das sich in 38 Beiträgen um die dem Untertitel entsprechenden Kategorien entfaltet und in 7 Sektionen untergliedert ist.

Vukadinović leitet den mit fast 500 Seiten recht voluminösen Essayband damit ein, dass „[d]er Genderfeminismus, der Antirassismus und der Queerfeminismus“ „Karikaturen geschlechter-, migrations- und sexualpolitischer Emanzipationsregungen“ seien. Diesen „pessimistischen Befund“ nimmt der Band „zum Ausgangspunkt, um über den Verrat an der Mündigkeit nachzudenken“. Das Spektrum der Kritik reicht von den nach „Euphemismen für Genitalverstümmelung“ suchenden AkademikerInnen über die fatale Deutungshoheit von Sprechort- und Kollektivierungskategorien, die mit der „Akzeptanz noch für die absurdesten Identitätsentwürfe“ zusammenfallen, bis zum Ausblenden und Marginalisieren von Antisemitismus. Weiter wird konstatiert, dass die Gender Studies unfähig seien, sich kritisch zum Jihadismus zu positionieren und dieser Disziplin nolens volens jeder „Bezug zur Wirklichkeit“ abhanden gekommen sei, während „Nizza, Berlin und Barcelona“ offenkundig die reale Wirkmächtigkeit des Jihadismus aufzeigten. Hierbei stellt Vukadinović Thomas Maul, Fathiyeh Naghibzadeh sowie Philippe Witzmann als Dissidenten heraus: diese ehemaligen Studenten der Gender Studies hätten bereits seit den 2000ern auf „Fehlentwicklung in Wissenschaft und Aktivismus“ hingewiesen, wobei deren „harsche, aber notwendige Kritik“ jedoch „ignoriert“ oder schlichtweg als Rassismus gebrandmarkt werde. Vukadinović schließt mit einer Klage an die der postmodernen Theorie entsprungenen Postcolonial und verwandten Gender Studies: so kennen diese nur noch „’Wahrheiten’“ und würden sich im höchsten Maß am „Verfall des Denkens“ beteiligen. Wie Vukadinović an anderer Stelle ausführt, ist ihm an einem Paradigmenwechsel gelegen, der sich wieder vermehrt aus der Tradition der zweiten Frauenbewegung speist.2

Wie Beißreflexe und Feministisch streiten trägt auch dieser Band berechtigte Kritik an postmodernen Ansätzen und am politischen Aktivismus queerer Provenienz vor. Dass hierbei kaum grundsätzlich neue Argumente verhandelt werden, könnte man nun wie folgt deuten: die linke (und feministische) Debatte scheint ziemlich auf der Stelle zu treten, was sich in der stetigen Veröffentlichung von einführenden Sammelbanden und Debattensammlungen, die zum überwiegenden Teil Zweitverwertung darstellen, äußert. Deshalb sei hier auch auf eine deutliche Schwäche verwiesen, die schon die beiden Vorgängerbände auszeichnete: Die AutorInnen jonglieren zwar mit Universalkategorien, wie Freiheit, Mündigkeit und Wahrheit, die jedoch großflächig unbestimmt und undialektisch sowie unvermittelt nebeneinander stehen bleiben. Gerade dadurch liefern sie sich allzu leicht einer (dann auch berechtigten) Kritik durch postmoderne Positionen aus. Manche Argumente erscheinen damit als verlängerter Arm Maulscher Restvernunft, die zwar mit Buzzwords wie ‚Freiheit‘ und ‚Mündigkeit‘ um sich wirft, aber längst zum bloßen Jargon verkommen ist – was nicht allzu untypisch für zeitgenössische Positionen aus dem Spektrum der antideutschen bzw. ideologiekritischen Szene ist. Das ist jedoch keine Absage an das Buch, denn en détail bleiben einige der darin verhandelten Beiträge, Ausführungen und Kritiken sehr lesenswert, andere hingegen sehr grobschlächtig und theoretisch vage, wodurch sich insgesamt ein ambivalenter Leseeindruck einstellt. Polemiker wie Maul und Witzmann mögen durchaus in einigen Punkten berechtigte Einwände erheben – darin ist auch Vukadinović zuzustimmen – dennoch bleibt auch zu reflektieren, dass Mauls ‚Kritik‘ an #MeToo unter anderem in die völlige Affirmation des Bestehenden umschlägt.3 Sehr kritikwürdig ist in diesem Kontext exemplarisch die Aussage Anastasia Iosselianis in dem Beitrag „Iranischer Imperialismus, antiimperialistischer Egalitarismus“, dass „Antiimperialismus – gleich welcher Form und Schule“ abzulehnen sei. Folgt man dem Sozialwissenschaftler Samuel Salzborn, so gälte es bezüglich Antiimperialismus und Antikolonialismus eher in „eine aufgeklärt-egalitäre, eine identitär-universalistische und eine – so paradox es klingen mag – selbst rassistische“ Variante zu unterscheiden.4

Es wäre zudem äußerst sinnvoll gewesen, den Queerfeminismus ideengeschichtlich richtig zu verorten. Erst so ließe sich eine überzeugende Fundamentalkritik auf die Füße eines historisch-materialistischen Feminismus stellen, dessen Begriff von Universalismus nicht so unvermittelt wäre, wie dies bisweilen in Freiheit ist keine Metapher erscheint. Einer der zentralen Blöcke von Freiheit ist keine Metapher „Sediment des Zeitgeists – Zur Popularität des unkritischen Werks von Judith Butler“, kommt dagegen allzu polemisch daher; so ersucht Marco Ebert in seinem Beitrag Butler mit Bezug zu Leo Löwenthal als Falsche Prophetin auszuweisen. Natürlich ist es geboten, Butlers Verharmlosungen und Relativierungen von Jihadismus im Allgemeinen sowie Hamas und Hizbollah im Besonderen scharf zu kritisieren, was auch Ebert in seinem Beitrag schafft; das gilt besonders für Butlers in der Theorie angelegten Antizionismus. Sie jedoch als ordinäre Faschistin vom Schlage eines William Dudley Pelley zu markieren, erscheint allzu leichtfertig und plump. Hinsichtlich Butlers Gender-Theorie sollte vielleicht auch noch einmal eine generelle Debatte darüber angestoßen werden, worin eigentlich tatsächlich ein kritischer Gehalt liegen könnte und was in der Rezeption daraus gemacht worden ist. Denn Butlers Theorie war von ihrer Stoßrichtung her explizit antiidentitär ausgerichtet und forderte nicht das Kategorisieren um des Kategorisieren willen; jedoch ist es im queeren Milieu längst Usus, Schublade um Schublade zu öffnen und jegliche Emotion, Charaktereigenschaft oder sexuelle Orientierung neu zu kategorisieren, was einem vom Anspruch her antiidentitären Denken ziemlich zuwider läuft. Dass ‚Freiheit‘ keine Metapher sei, bleibt insgesamt ob der begrifflichen Unschärfe zu vage, da genau dies laut dem – wohlgemerkt – didaktischen Anspruch des Titels verdient hätte, genauer ausgeführt zu werden. Kurzum: Dem Band fehlt damit deutlich ein einführender Beitrag, der sich den Kategorien von Freiheit, Mündigkeit, Wahrheit etc. annimmt. Man hätte diese in einer an Hegel angelehnten bestimmten Negation verorten können, die z.B. deutlicher den Ausschluss des ‚Weiblichen‘ zu fassen vermag und diese Begriffe und Kategorien im Sinne einer dialektischen Betrachtung beweglich und offen hält, anstatt sie – wie das partiell getan wird – so starr und ahistorisch gegen die zurecht kritisierten Dogmen der Postcolonial und Gender Studies anzuführen.

Dass das anders geht, zeigt der bereits 1993 erschienene Sammelband, Der Streit um Differenz, in dem es Seyla Benhabib im Streitgespräch mit Judith Butler überzeugend gelang, eine universalistische Position, die sich in der kritischen Theorie verortet, zu beziehen. Die dort verhandelten Debatten zwischen Benhabib, Butler, Drucilla Cornell und Nancy Fraser können als Gespräch zwischen zweiter und dritter Welle des Feminismus gelesen werden und haben an Aktualität nichts eingebüßt. Sich gegen das vermeintlich offenkundige Bündnis von Postmoderne und Feminismus wendend, welches zeitgenössisch noch stärker als 1993 ausgeprägt sein dürfte, fragte Benhabib: „Feminismus oder Postmoderne?“ und unterstrich, dass „die postmodernen Positionen nicht nur das Spezifische der feministischen Theorie auslöschen, sondern sogar das Emanzipationsideal der Frauenbewegung schlechthin in Frage stellen“.5 Gegen Postfeminismus und Poststrukturalismus Butlerscher Provenienz, die auf dem Tod des Subjekts, der Geschichte und aller Metaphysik beruhen, plädiert Benhabib darin für eine schwache Version dieser „Tode“, die zugleich versucht das politische Subjekt der Frau zu erhalten. Wollte man dem selbst gesetzten didaktischen Anspruch daher gerecht werden, der explizit herauszuarbeiten hätte, was eben genau am Partikularismus und Kulturrelativismus postmoderner Provenienz und der damit verbundenen Absage an einen universalistischen Feminismus so problematisch sei, hätte man dies deutlicher anhand einer immanenten Kritik der feministisch-postmodernen Positionen herausarbeiten können. Recht unterbelichtet bleibt in Freiheit ist keine Metapher zudem das Konzept des Intersektionalismus. So bezieht sich Rocio Rocha Dietz in ihrem Beitrag zwar auf die Kritik durch die Sozialwissenschaftlerin Karin Stögner und streicht korrekt heraus, dass in der Trias von Race, Class und Gender der Antisemitismus nicht vorkomme bzw. lediglich unter der Kategorie Race subsumiert werde. Von Dietz ausgeblendet wird hierbei jedoch, dass Stögner sich vielmehr an einer rettenden Kritik des Intersektionalismus versucht, die Ideologien wie Antisemitismus, Sexismus und Rassismus in ihren Verstrickungen zur Gesamttotalität zu begreifen sucht und damit eine Vermittlung zur kritischen Theorie Horkheimers und Adornos anstrebt. Die Frage nach dem Intersektionalismus – gleich ob man sich affirmativ oder kritisch dazu positioniert – bleibt im Band kaum berührt, wenn dieser nicht nahezu vollends negiert und für unbrauchbar erklärt wird.6

Verbleibt der zeitgenössisch vorherrschende Begriff des Intersektionalismus tatsächlich unterkomplex, was das Verhältnis von Rassismus und Antisemitismus angeht, so weisen Sama Maani, Polina Kiourtidis und Hannah Kassimi mit Verweis auf die in der Tradition der kritischen Theorie stehenden Wissenschaftler Moishe Postone und Detlef Claussen auf eine notwendig vorzunehmende Unterscheidung beider Phänomene hin. Kiourtidis stellt hierbei auch heraus, dass es ein „Mythos“ sei, dass „zwischen Antisemitismus und Antizionismus“ eine „klare Trennung“ vorliege.

Schlussendlich hätte man auch Edward Saids Orientalism sowie dessen überbordende Rezeption in den Geisteswissenschaften, auf das mitunter weite Teile Butlers Argumentation rekurriert7, umfassend diskutieren müssen. Das Saidsche Gründungswerk des Postkolonialismus verfügt etwa in Ethnologie und Religionswissenschaft über maßgebliche Deutungshoheit und hat der politisch Linken über zahlreiche Multiplikatoren vermittelt die Fähigkeit zu einer Religionskritik – gleich ob im Voltaireschen, Feuerbachschen oder Marxschen Sinn – ausgetrieben.8 Bis auf wenige Ausnahmen – Ljiljana Radonić, Hannah Kassimi, Fathiyeh Naghibzadeh und Janina Marte – die sich rudimentär mit Said auseinandersetzen oder ihn als problematischen Angelpunkt der Postcolonial Studies zumindest benennen, lässt dies das Buch leider vermissen. Ungeachtet der mangelnden inhaltlichen Tiefe und diesen Versäumnis bleibt offenkundig, dass eine an den Postcolonial und Gender Studies angelehnte kulturrelativistische Haltung Kinderehen, Angriffe und Säureattacken auf Frauen sowie Vollverschleierung und Genitalverstümmelung schön redet bzw. gar verleugnet. Man reibt sich immer wieder verwundert die Augen über derartige Relativierungen und mag kaum glauben, dass sich als Feministen verstehende Subjekte derartig positionieren, aber diese Dinge sind evident und werden im Band anhand zahlreicher Beispiele veranschaulicht. Trotz der angesprochenen Schwächen soll hier eine Leseempfehlung stehen bleiben, die zugleich einfordert, sich umfassender mit den Ikonen der Gender und Postcolonial Studies auseinander zu setzen. Im Zentrum einer kritischen Auseinandersetzung mit postmodernen Dogmen hätten dabei unbedingt Saids Rassismus und „Israelkritik“ zu stehen, ohne das Theorem des Orientalismus vollends zu negieren, denn dieses gälte es im Sinne kritischer Theorie einem Zeitkern der Wahrheit nach entsprechend kritisch zu reflektieren. Die Kritik postkolonialer Theoriebildung im Allgemeinen und Saids sowie Butlers im Besonderen darf deshalb auch nicht darin umschlagen, die Geschichte des wissenschaftlichen Rassismus und Kolonialismus zu verleugnen. Das Problem besteht viel eher in der Dogmatisierung dieses Theorems sowie im Ausblenden Saids eigener rassistischer Perspektive, die alles westliche Denken negiert9 und jeglichen antiimperialistischen Bewegungen einen Freifahrtschein ausstellt, weil sie auf der Romantisierung des ‚Anderen‘ beruht. Ein gutes Beispiel für eine emanzipatorische Analyse liefert hingegen Dennis Schnittler in seinem Beitrag „Der ewige Neger“, in dem er eine umfangreiche materialistische Analyse des Rassismus und der Verschränkung von Produktivitätsgefällen mit kolonialer Geschichte vorlegt.

Positiv hervorzuheben sind auch die Beiträge, die sich mit dem Iran und dem Jihadismus beschäftigen. So wird der totalitäre Charakter des theokratischen Regimes der Iranischen Republik bündig und prägnant analysiert. Dieser zeichnet sich dadurch aus, dass er auf der Sharia fußend die Negation einer Gewaltenteilung legitimiert und bis ins äußerste Privatleben durchgesetzt wird sowie als oberstes Ziel die Auslöschung des Staates Israel inne hat. Der politische Islam wird dabei als nicht mit den Grundsätzen universeller Menschenrechte und persönlicher Freiheit vereinbar charakterisiert. Dies wird von vielen westlichen Linken aufgrund der Dogmen des Kulturrelativismus und Antiimperialismus geleugnet und fußt auf einem unterkomplexen Weltbild (Unterdrücker versus Unterdrückte). Das führt mitunter dazu, dass koloniale Vergangenheit islamisch-arabischer Herrschaft ignoriert wird, bedienen sich derartige Perspektiven doch einem strikten Okzidentalismus (Ian Buruma und Avishai Margalit), der ausschließlich den Westen, nicht aber das imperialistische Regime in Teheran zu betrachten in der Lage ist. Richtig ist auch, dass dem Weltbild des postmodernen Antiimperialismus und Kulturrelativismus folgend, der imperialistische Charakter des Iranischen Regimes ignoriert wird, was in der Unterstützung des Al-Quds-Tages sowie der BDS-Kampagne durch Linke gipfelt. Beides hat seine Ursprünge im Iran.10

Hinsichtlich des Jihadismus analysiert der Psychoanalytiker Maani die klagende „Weltsicht aller Islamisten“, die den Verlust von „Würde“ und „Ehre“ und damit den Machtverlust des politischen Islam fürchten; Maanis Deutung nach identifiziere und sehne sich der Islamist nach einem goldenen Zeitalter des „frühen Islam“, was seinen „Wut und seinen Hass“ „radikalisieren“ und an den USA, Israel, Juden sowie dem Kapitalismus ausagieren lasse. Das Gezeter um die Mohammed-Karikaturen dient Maani hierfür als negatives Exempel, dem er das Beispiel vom 2011 aufgeführten Theaterstück The Book of Mormon entgegenhält, was nicht ansatzweise zu ähnlichen Reaktionen geführt habe, da im kollektiven Bewusstsein der Mormonen der Ehrbegriff nicht annähernd so verankert sei; vielmehr habe die mormonische Kirche lakonisch wie folgt reagiert: „Sie haben das Stück gesehen, lesen sie jetzt – das Buch“. Es bleibt zu hoffen, dass sich linke Gesellschaftskritik reformulieren lässt, die sich gegen die Neue Rechte positionieren kann, ohne die Kritik der Religion der Kritik des Rassismus zu opfern. Dass „Freiheit weder westlich, noch östlich, sondern universal“ sei, wie es iranische Feministinnen zuletzt Anfang 2018 forderten, bleibt damit an den Marxschen kategorischen Imperativ zu koppeln: „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“. Freiheit ist keine Metapher kann bei allen angesprochenen Kritikpunkten durchaus einige Argumente hierfür liefern.

von Mathias Beschorner

Vojin Saša Vukadinović (Hg.)

Freiheit ist keine Metapher. Antisemitismus, Migration, Rassismus, Religionskritik

Querverlag zu Berlin 2018

489 Seiten

20 Euro

1 Z.B. an der Reaktion Judith Butlers und Sabine Harks, bei der die Kritik von Beißreflexe in die Nähe der Neuen Rechten gerückt worden ist, ablesbar: Vgl. Butler, Judith; Hark, Sabine: Die Verleumdung. Denunzieren die „Emma“ und die Verfasser des Buches Beißreflexe die Gender-Theorie? Judith Butler und Sabine Hark finden die Angriffe infam und wehren sich. In: Zeit: https://www.zeit.de/2017/32/gender-studies-feminismus-emma-beissreflex, 2. August 2017, abgerufen am 16.10.2018.

2 Vgl. Vukadinović, Vojin Saša: Butler erhebt „Rassismus“-Vorwurf. In: Emma: https://www.emma.de/artikel/gender-studies-sargnaegel-des-feminismus-334569, 28. Juni 2017, abgerufen am 16.10.2018.
3 Exemplarisch hierfür: Maul, Thomas; Schneider, David: Asexuelle Belästigung. Warum #MeToo ein großangelegter Übergriff auf die Residuen bürgerlicher Zivilisation ist. In: Bahamas: Nr. 78, 2018.
4 Siehe Salzborn, Samuel: Kampf der Ideen. Die Geschichte politischer Theorie im Kontext, Baden-Baden 2015, S. 113ff.
5 Siehe Benhabib, Seyla: Feminismus und Postmoderne. Ein prekäres Bündnis. In: Benhabib, Seyla; Butler, Judith; Cornell, Drucilla; Fraser, Nancy (Hg.): Der Streit um Differenz. Feminismus und Postmoderne in der Gegenwart, Frankfurt am Main 1993, S. 9 bzw. 13.
6 Vgl. Pintul, Naida: Regressive Lifestyles bewerben. Queerfeminismus – das aktivistische Verfallsprodukt des Gender-Paradigmas, im vorliegenden Sammelband.
7 Vgl. Butler, Judith: Am Scheideweg. Judentum und die Kritik am Zionismus, Frankfurt am Main 2013.
8 Siehe Weiß, Volker: Dröhnendes Schweigen. Früher war Religionskritik die vornehmste aller marxistischen Tugenden. Doch zum Glaubensterror des islamischen Fundamentalismus hat die westliche Linke nichts zu sagen. In: Zeit: http://www.zeit.de/2015/15/religionskritik-linke-fundamentalismus-islamismus. 23. April 2015, Abgerufen am 16.10.18.
9 Vgl. Salzborn: Kampf der Ideen, S. 34 und S. 149.
10 Vgl. Markl, Florian: Der Ursprung der Israel-Boykottbewegung. In: Sans Phrase, Zeitschrift für Ideologiekritik, Nr. 11, 2017, S.49ff.

Feministisch streiten oder: Zum Stand des zeitgenössischen materialistischen Feminismus

Besprechung von Koschka Linkerhand (Hrsg.): Feministisch streiten. Texte zu Vernunft und Leidenschaft unter Frauen

Allerorten herrscht Einigkeit darüber, dass mit dem derzeitigen Feminismus nicht mehr viel anzufangen ist. Der Queerfeminismus dominiert dieses Feld politischer Theorie und Praxis so allgegenwärtig, dass selbst diejenigen ihn oft notgedrungen ins Zentrum ihres feministischen Denkens stellen, die ihn ausdrücklich ablehnen – wenn auch ex negativo, in Form der Kritik. So notwendig diese Kritik auch ist: Die oft in einem Nebensatz eingestreute Bekundung, sich der „zweiten Frauenbewegung“ und/oder einem „materialistischen Feminismus“ verpflichtet zu fühlen, geht selten über dieses Bekenntnis hinaus und bleibt theoretisch vage, wie man zuletzt am Beispiel von dem (nichtsdestotrotz notwendigen) Sammelband Beißreflexe sehen konnte.[1] Dazu kommt, dass die wegweisende Theorieproduktion jenes vielbeschworenen ‚materialistischen Feminismus‘ schon einige Jährchen auf dem Buckel hat – man denke an Silvia Federicis Wages against housework (1975), Jessica Benjamins Bonds of Love (1988) oder Roswitha Scholz‘ Das Geschlecht des Kapitalismus (2000). Was also versteht man heute, im Jahr 2018, unter materialistischem Feminismus‘? Hier will Feministisch streiten von der in Leipzig lebenden feministischen Theoretikerin Koschka Linkerhand Antworten geben. Der Band, der 25 Beiträge von verschiedenen Theoretikerinnen und Aktivistinnen aus Leipzig und dem Rest Deutschlands versammelt, versteht sich zwar nicht primär als wissenschaftlich. Er schafft es aber, kompakt und pointiert einige grundsätzliche theoretische und praktische Eckpfeiler dessen, was ein universalistischer, materialistischer und an der Kritischen Theorie geschulter Feminismus im Jahr 2018 sein könnte, zu skizzieren und zusammenzubringen.
Gemäß seiner titelgebenden Leitmaxime stellt der Sammelband zentrale gegenwärtige Kampfplätze des Feminismus aus seiner eigenen, zum Queerfeminismus quer liegenden Perspektive vor. Die Kampfplätze werden in den Kapitelüberschriften angedeutet: Es geht um geschlechtliche Differenz, Sexualität/Körper/Sozialisation, Lohnarbeit, Bewegung, Sprache, Intersektionalität, Streit. Aufgrund der Prägnanz und des Überblickscharakters vieler Beiträge kann der Band mit gutem Gewissen als Einstiegslektüre empfohlen werden. Er mag als Streitschrift für Anhängerinnen der postmodernen Identitätspolitik dienen, eignet sich aber auch gut als theoretische Einführung für jene, die sich mit dieser nicht (mehr) identifizieren können und nach Alternativen suchen sowie für jene, die sich bereits mit materialistischer Gesellschaftskritik befasst haben und sich einen Überblick über feministische Theoriebildung verschaffen wollen. Angesichts der Fülle der verhandelten Themen und Theorien scheint es mir sinnvoll, zur näheren inhaltlichen Bestimmung vier übergeordnete Denkbewegungen hervorzuheben, die meines Erachtens einen aktuellen materialistischen Feminismus im Sinne der Autorinnen von Feministisch streiten charakterisieren und den Sammelband wie rote Fäden durchziehen.

  1. Das Ineinander von (Selbst-)Kritik und Theoriebildung

Ja, auch Feministisch streiten arbeitet sich an fragwürdigen bis gefährlichen Positionen innerhalb des Feminismus ab. Zu nennen wären etwa die Sprachpolitik, die Auflösung des politischen Subjekts Frau oder ein Kulturrelativismus, der antirassistisch sein will und doch selbst rassistisch und antisemitisch ist. Der Band gibt sich mit Kritik allein allerdings nicht zufrieden, sondern fragt dezidiert danach, wie eine universalistisch-materialistische Perspektive auf oben genannten Probleme, z.B. einer diskriminierenden Sprache etc. aussehen könnte. Damit kommt der Band einer Forderung nach, die Linkerhand in dem programmatischen Beitrag Angst und Aggressivität im Feminismus als „die wichtigste Bestimmung“ des gegenwärtigen materialistischen Feminismus benennt: nämlich sich Objekte jenseits seiner selbst zu setzen, d.h. über die permanente selbstreferentielle Kritik an der feministischen Theorie, die den gegenwärtigen Stand des Feminismus kennzeichnet, hinauszugehen und die Kritik wieder auf äußere Objekte zu richten. Die Tendenz im Queerfeminismus und in ‚betroffenheitsfeministischen‘ Bewegungen wie #metoo, sich gegen Widerspruch und Reflexion abzuschotten zugunsten eines möglichst sensiblen und rücksichtsvollen Umgangs untereinander, sowie Aggressionen primär gegen sich selbst zu richten – in Form autoritärer Verhaltens- und Sprachregulationen – deutet Linkerhand als Effekt der typisch weiblichen Sozialisation und damit als Fortsetzung geschlechtsstereotyper Angst- und Schulddynamiken. Feministinnen, so die richtunggebende These des Bandes, müssen entgegen dieser Sozialisation (wieder) lernen, ihre Aggressionen (sublimiert) gegen äußere Gegenstände feministischer Kritik, wie die kapitalistische Ökonomie, die Politik, Sexualität, Geschichte, Kunst, Sozialisation etc. zu wenden und – neben der Selbstkritik – dezidiert Streit zu suchen. Wie Formen des Streits aussehen können und warum auch die Form der Polemik nicht unangetastet bleiben sollte, wird so kontrovers wie erhellend in einem eigenen Kapitel diskutiert, aber auch an den einzelnen Beiträgen vorgeführt.
2.Die Wiederaneignung der vom Queerfeminismus besetzten Themen
In der Auseinandersetzung mit zentralen Objekten feministischer Kritik wird schnell deutlich, dass nicht wenige vom Queerfeminismus geradezu „besetzt“ sind. Das meint: Bestimmte Problematiken scheinen so eng mit der queerfeministischen Theoriebildung verzahnt, so tief von ihr durchdrungen, dass sie von Gegnerinnen derselben mit der postmodernen Theorie in eins gesetzt und daher vernachlässigt, einseitig aufgelöst oder als Probleme gar ausgeblendet oder geleugnet werden. Dies betrifft zum Beispiel die Themen Transsexualität bzw. trans Weiblichkeit, Sprachkritik, Körperpolitik à la Body-positivity und natürlich auch Rassismus und eine wie auch immer gedachte ‚Intersektionalität‘. Es ist das große Verdienst des Bandes, hier nicht in reflexhafter Abwehrhaltung einfache, entgegengesetzte Schlüsse zu ziehen und die Themen damit sich selbst bzw. der queerfeministischen Ideologie zu überlassen, wie dies sowohl in feministischen, als auch in linken oder postlinken Kreisen teilweise üblich ist. Beispiel: Weil der gegenwärtige antirassistische Feminismus an Islamapologie, Antizionismus, Kulturalismus etc.pp. krankt, wird sich von der Emma bis zur Bahamas gar nicht mehr mit Rassismus befasst oder schlimmer noch, es wird mit rechten Positionen kokettiert. Dagegen erhebt Feministisch streiten den Anspruch, das Problem selbst (z.B. die Verschränkung von Rassismus und Sexismus oder diskriminierende Sprache) wieder ernst zu nehmen, sie aus einer universalistisch-materialistischen Perspektive neu zu denken und etwa auch Konzepte wie das der Intersektionalität begrifflich zu ‚retten‘, ohne sie gegen andere Konfliktfelder auszuspielen oder in eine Hierarchie der Probleme einzuordnen. Das gelingt nicht immer gleich gut. Während es z.B. der Beitrag Das Unbehagen mit dem Sternchen des Antifaschistischen Frauenblocks Leipzig schafft, für eine materialistische Sprachkritik als ein Teil feministischer Kämpfe zu argumentieren, bleiben die Beiträge zu Rassismus und Feminismus sowie der Beitrag über trans Weiblichkeit im Austarieren all der Ambivalenzen ihrer Sujets streckenweise im Vagen und manchmal Floskelhaften („Widersprüche aushalten“) stecken. Auch wenn man nicht vergessen darf, dass beide geradezu Pionierarbeit leisten, wünscht man sich für kommende Bearbeitungen noch mehr analytische Schärfe.
3. Die Neuperspektivierung von klassischen linken Themen
Doch nicht nur um queerfeministisch besetzte Objekte wird gestritten, sondern auch um klassische linke Themen. Dass ein Feminismus, der sich materialistisch nennt, auf der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie fußt, liegt auf der Hand. Es ist die Feministinnen seit langem umtreibende Verquickung von Patriarchat und Kapitalismus, sowie die für den Neoliberalismus konstitutive Doppelbelastung von Lohnarbeit und Reproduktionsarbeit der Frauen, die hier im Fokus stehen. Sowohl die Beiträge von Charlotte Mohs als auch von Sabrina Zachanassian erarbeiten eine Theoriegeschichte feministischer Ökonomiekritik und machen diese anschlussfähig sowohl an neue Lesarten des Marxismus wie Fetischkritik und Kritische Theorie, als auch an die gegenwärtige wirtschaftliche und politische Lage der Frau in Europa. Dabei wird wahlweise nach konkreten Klassenkämpfen von Frauen, oder gesellschaftlichen Utopien gefragt. Das (wiederentdeckte) Interesse an Ökonomie, der Klassenfrage und einer materialistisch fundierten Perspektive auf politische Praxis treibt derzeit noch weitere progressive kommunistische Projekte um[2] – es bleibt zu hoffen, dass sich hier auch theoretische Synergien ergeben, wo sie nicht schon bestehen. Problematisch, weil weder mit dem sonst so dialektischen Vorgehen noch einem kritisch-theoretischen Verständnis von Aufklärung vereinbar, wird es allerdings dort, wo in der notwendigen Abkehr von queeren ‚safe spaces‘ implizit Gewalt gegen frauenverachtende Männer als legitime Praxisform gebilligt wird – wie im Beitrag des Autorinnenkollektivs „Zora Zobel findet die Leiche“ über weibliche Militanz. Bis in die kleinsten und unangenehmsten Widersprüche hinein reflektiert dagegen ist Koschka Linkerhands Wiederbelebung der feministischen Religionskritik. In ihrer scharfen und zugleich differenzierten materialistisch-universalistischen Kritik des Islam zeigt sie die Notwendigkeit feministischer Theorie für eine solche auf.
4. Die dialektische Verschränkung von Identitätspolitik und universalistischer Gesellschaftskritik
Der wohl wichtigste rote Faden des Bandes ist der Versuch einer dialektischen Vermittlung von Partikularismus und Universalismus, welche Emanzipationsbestrebungen seit jeher innewohnt: Auf der einen Seite, so die Autorinnen, sei es notwendig, sowohl das individuelle, als auch das politische Subjekt Frau, wiederum verstanden als Ineinander von Gleichheit und Differenz, zu stärken. Das heißt, dass in konkreten Fällen bis zu einem gewissen Grad Identitätspolitik betrieben werden muss. Gleichzeitig tut es wiederum not, Differenzen unter den Frauen, aber auch unter Frauen und Männern zugunsten einer universalistischen Perspektive, die die Emanzipation der Frau im Kontext des gesellschaftlichen Ganzen und der Befreiung der Menschheit im Allgemeinen einfordert, zurückzustellen.
5. Fazit
Der Vorteil des Bandes – einen tendenziell niedrigschwelligen und möglichst breitgefächerten Einblick in eine Vielzahl von Themen und Theorien zu geben – ist zugleich sein Nachteil. So kommen notgedrungen viele Themen zu kurz, werden nur angerissen oder zu knapp ausformuliert. Dazu zählt meines Erachtens besonders weibliche Sexualität und weibliches Begehren oder der Standpunkt des Mannes in der feministischen Theorieproduktion und –rezeption. Jetzt, wo eine gewisse Vielseitigkeit bewiesen wurde, bleibt zu hoffen, dass sich ein etwaiger Folgeband stärker in die analytische Tiefe wagt – und dass die Autorinnen bzw. Akteurinnen in Union mit etwa den kritischen Genossinnen der Beißreflexe tatsächlich einen – von Linkerhand einleitend postulierten – Paradigmenwechsel im zeitgenössischen Feminismus einleiten.

von Anja Thiele

Linkerhand, Koschka (Hrsg.). Feministisch streiten. Texte zu Vernunft und Leidenschaft unter Frauen.
Querverlag 2018
328 Seiten
16,90 Euro
 
[1] Einige Beiträge, wie etwa der Leitartikel von Patsy L‘amour laLove sind davon auszunehmen. Feministisch streiten wiederum wurde laut der Herausgeberin durch den ermutigenden Erfolg von Beißreflexe angeregt und erscheint auch im selben Verlag.
[2] Speziell für Leipzig wäre hier die translib – Communistisches Labor zu nennen. Ein bundesweites Beispiel wären die Salonkommunisten, aber auch das vorliegende Magazin.

Besprechung von: „Karl Marx in Paris, die Entdeckung des Kommunismus“ von Jan Gerber

Dass zum 200. Geburtstag von Karl Marx etliche Bücher erscheinen, die sich mit Leben und Werk Marx‘ auseinandersetzen ist kaum verwunderlich. Jedoch hat Marx bereits seit der Finanzkrise von 2008 nicht nur in der Linken, sondern auch in Wissenschaft und Feuilleton Hochkonjunktur. Jan Gerber legt mit Karl Marx in Paris dagegen ein Buch vor, das detailliert Marx‘ Aufenthalt in Paris – von Oktober 1843 bis Februar 1845 – rekonstruiert. Geht es den anderen um eine Reaktualisierung von Marx in bedenkenloser Übernahme seiner Begriffe, so geht es Gerber um eine kritische und historisierende Perspektive auf die Marxschen Begrifflichkeiten. So schreibt er, dass die „Diskussionen […] ohne jeden Hinweis auf das bereits stattgefundene Dementi mindestens eines Teiles der Marx’schen Grundbegriffe“ auskommen und die „im 19. Jahrhundert entwickelten Kategorien“ nolens volens „blindlings auf die Situation des 21. Jahrhunderts übertragen“ werden. Friedrich Pollocks These von 1941 – „In den Marxschen Begriffen stimmt etwas nicht“ – gibt den Ausgangspunkt des Buches vor, anhand dessen Gerber versucht zu analysieren, was Pollock – Mitarbeiter am Institut für Sozialforschung um Max Horkheimer – damit im Sinn gehabt haben könnte. Der Essay hat den Anspruch, aus dem Wust an Büchern der vergangenen Dekade herauszuragen und könnte helfen, zu beantworten, was von Marx im 21. Jahrhundert – entgegen allem neuerlichen Personenkult – tatsächlich aktuell wäre.
Implizit der Kritischen Theorie folgend stellt Gerber heraus, dass der Marxsche Geschichtsoptimismus schon mit dem „Ersten Weltkrieg in Mitleidenschaft geraten“ und sich spätestens vor dem „Zivilisationsbruch“ (Dan Diner) Auschwitz blamiere. Im Gegensatz zu traditionellen Marxisten – die nach 1945 den Klassenkampf nahtlos weiter propagierten – verdeutlicht er, dass die Marxschen Kategorien „bei der Erklärung des Nationalsozialismus“ versagen und „durch die braune Revolution, die Integration der Arbeiterschaft in das Regime und das Ausmaß der Verbrechen dementiert“ seien, da sich der Widerstand lediglich „auf das Konto kleiner Gruppen und Einzelner, die aus den unterschiedlichsten Bevölkerungsgruppen kamen“ rekrutierte. Eine an Marx inspirierte Gesellschaftskritik, die dem nicht Rechnung trüge, entledigte sich dem Anspruch einer materialistischen Perspektive auf Geschichte, so könnte man Gerbers Position fassen.
In dem 238 Seiten umfassenden Band historisiert der am Simon-Dubnow-Institut forschende Historiker anhand des gesellschaftlichen Klimas im Paris der 1840er die Herausbildung der Marxschen Kategorien Klasse, Proletariat und Geschichte, die zur „Einheit verschmolzen: Revolutionen wurden als die Schrittmacher der Geschichte begriffen, das Proletariat galt als revolutionäres Subjekt, dem eine historische Mission zukomme“. In vier Passagen, die Marx‘ Leben über Deutschland, Frankreich und Belgien überwiegend chronologisch verhandeln, gelingt es die Entwicklung vom liberalen „Radikaldemokraten“ der Rheinischen Zeitung – der nicht vom Klassenkampf sprach und hinsichtlich des Kommunismus 1842 noch polemisierte, dass auf diesen „mit Kanonen geantwortet werden“ solle – zum Klassenkämpfer des Kommunistischen Manifests zu zeichnen. Darüber hinaus macht Gerber knappe Einlassungen darüber, dass Marx selbst möglicherweise Zweifel an seiner postulierten Mission hatte, da „einiges dafür“ spreche, „dass Marx der Klasse am Ende seines Lebens nicht mehr dieselbe Bedeutung beimaß“. Ohne dies gesondert zu benennen scheint Gerber der These zu folgen, die eine Unterscheidung zwischen dem jungen Philosophen und dem reifen Kritiker der politischen Ökonomie annimmt.
Sehr detailliert erhellt der Essay den zeithistorischen Kontext sowie die biografischen Besonderheiten und das Klima im Paris des 19. Jahrhunderts und verdeutlicht, welch immensen Eindruck Paris auf den jungen Marx gehabt haben muss. Die Stadt erschien in den 1840ern als „Sehnsuchtsort der Verbannten und Revolutionäre“, die vor der Restauration im Nachklang des Wiener Kongresses von 1815 flohen. Ebenso wie viele Emigranten traf Marx auf eine Stadt, die sich zum „Zentrum gesellschaftskritischen Denkens“ entwickelte. Gerber charakterisiert das politische Klima damit, dass der „Glaube, die Welt aus den Angeln heben zu können […] zum guten Ton“ gehörte und Kommunismus für Marx als „aufgelöste[s] Rätsel der Geschichte“ erschien. Aufgrund der rasch wachsenden Bevölkerung wurde Paris zur Metropole und Symbol der uneingelösten Forderung nach Gleichheit, zum „Zentrum der Rede von der Klasse“, in dem die „soziale Frage auf der Straße“ lag, da sich die sozialen Unterschiede, Armut und Kriminalität deutlich zeigten. Während jedoch in weiten Teilen Europas die Restauration den politischen Kontext prägte, unterlag Paris – kosmopolitische „Hauptstadt der neuen Welt“ (Marx) – einem liberaleren Klima, das mehr polit-ökonomische Freiheit erlaubte und sich am Boom des Zeitungsmarktes zeigte. Anhand der Deutsch-Französischen Jahrbücher, in denen Marx noch nicht emphatisch vom Kommunismus sprach, macht Gerber hierbei auf die erstmalige Verwendung der Kategorien Klasse und Proletariat in Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung aufmerksam, die „fortan als Motor der Geschichte“ ausgemacht wurden. Stand und Klasse verwendete Marx noch synonym, da die gedankliche und analytische Schärfe noch fehlte.
Friedrich Engels – den Marx bis dato kaum kannte – stieß in Paris mit seinem Manuskript Zur Lage der arbeitenden Klasse in England zu Marx. Im Zuge Marx‘ weiterer Emigration nach Belgien verknüpfte er die in Paris gewonnenen Überzeugungen mit dem inzwischen zum guten Freund gewordenen Engels im Kommunistischen Manifest zum teleologisch zugespitzten Klassenkampf, gipfelnd in einer Revolutionserwartung. Die geschichtsphilosophisch aufgeladene Kategorie Klasse war jedoch, so verdeutlicht Gerber, schon vorher ein „Bewegungs-, Erwartungs-, und Beschleunigungsbegriff“, der „revolutionär, umstürzlerisch, zumindest aber dynamisch aufgeladen“ und zu einer „sozioökonomischen Ordnungskategorie“ wurde. Sie zielte auf Kritik sozialer Ungleichheit der neuen Ordnung und wurde von Frühsozialisten sowie Historikern namens Saint-Simon und Augustin Thierry – deren Werke sich Marx bereits gen Paris intensiv aneignete – als maßgebliches Prinzip in der Geschichte ausgemacht. Marx war dementsprechend bereits vor seiner Zeit in Paris von 1789 begeistert. Obwohl diese Begeisterung damals laut Gerber noch „unter demokratisch-republikanischen Vorzeichen“ stand, wurde die Revolution von 1789 zur „Blaupause zukünftiger Erhebungen“. Über diesen Rückgriff und Vermittlung zur Literatur der Französischen Revolution wandelte er sich im aufrührerischen Klima zum überzeugten Kommunisten.
In Paris und Belgien gelangten Marx und Engels zur gedanklichen Ausarbeitung des Historischen Materialismus, womit die Kategorie Proletariat sowie die Verelendungsthese unter dem Hegelianisch gefärbten Geschichtsoptimismus ausgestaltet wurden. Während Marx in Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung noch einem Klassenbegriff anhing, der „blutleer“ und „frei von Empirie“ gewesen sei, sei die Lücke durch Engels im Manifest gefüllt wurden. Engels kannte Verelendung, Kinderarbeit sowie Krankheit der arbeitenden Klasse vor allem aus seinen Erfahrungen aus seiner Zeit in Manchester, das den Industrialisierungsgrad anderer Regionen weit überragte. Die damit verbundene Annahme, der sich zuspitzenden Verelendung unterlag laut Gerber jedoch einer schiefen Empirie, da das, was Engels in Manchester beobachtete, nicht der allgemeinen Entwicklung entsprochen hätte. Zwar verkam Manchester in den 1840ern tatsächlich zum Epizentrum der Verelendung und hatte durchaus besonderen Charakter inne, jedoch erreichte die Verelendung der 1840er nie wieder dieses Ausmaß. Analog zum Symbol der Globalisierung der 1990er – Detroit – argumentiert Gerber, sei Manchester das Symbol der Industrialisierung in den 1840ern gewesen, woraus sich jedoch kein „unweigerliche[r] Vorschein auf die zukünftige Entwicklung“ schließen ließ und die Historie die Verelendungsthese widerlegte. Gerber spitzt zu, dass, wenn Engels das Manchester der 1850er erlebt hätte, der Charakter des Manifests anders hätte ausfallen müssen, da die „strikte Polarisierung“ von Bourgeoisie und Proletariat ausblieb. Wirft man einen Blick in das Vorwort zur Neuausgabe Zur Lage der arbeitenden Klasse in England von 1892, so scheint es Engels selbst zu sein, der Gerber hierbei recht gibt, da Engels dort seine empirischen Grundlagen sowie „jugendlichen Eifer“ und Teile seiner Prognosen von 1845 selbst hinterfragt. Gerber verdeutlicht zudem, dass es bis zum Ende des 19. Jahrhunderts keine strikte Ausbildung eines Proletariats gegeben hätte und die Produktionsverhältnisse noch eher vormodernem Charakter entsprachen, somit Manufakturen statt Fabriken, eher Handwerker denn Proletarier, die „nicht miteinander identisch“ gewesen seien. Gegen die These der Verelendung spricht außerdem, dass der Marxismus in den fortgeschrittensten Industrieländern – entgegen der Marxschen Erwartung– kaum über Einfluss verfügte, was insgesamt deutlich macht, dass die Marxschen Kategorien auf einer „Generalisierung räumlich und zeitlich begrenzter Phänomene“ beruhten. Marx selbst, so Gerber, sei aufgrund dessen möglicherweise von der „historischen Mission des Proletariats“ abgerückt, was ihn im Londoner Exil die „Verelendungstheorie zur Krisentheorie“ transformieren ließ.
Darüber hinaus positioniert sich Gerber kritisch gegenüber „kritischen Marxisten“, denen er einen Taschenspielertrick vorwirft, da sie Engels für den zum Dogmatismus geronnenen Marxismus-Leninismus verantwortlich machten. Engels komme dabei die Rolle des „großen Vereinfacher[s]“ zu, der dem „reflektierte[n] Dialektiker“ Marx entgegengestellt werde. Gerber unterstreicht dagegen, dass Engels‘ Anteil „kaum überschätzt werden“ könne und die Beziehung eher auf einer Symbiose beruhte: Dafür spricht, dass sich Engels lange vor Marx mit der ökonomischen Klassik Smiths und Ricardos beschäftigte, Marx von Engels verfasste Schriften „unter seinem Namen“ veröffentlichte und er den Anti-Dühring entgegen der These „kritischer Marxisten“ hoch bewertete. Zwar ist Gerbers Argumentation überzeugend, jedoch scheint es wiederum etwas verkürzt, dies auf folgende Entgegensetzung herunterzubrechen: „Marx lieferte dem ‚Historischen Materialismus‘ die Philosophie, Engels die Empirie“. Bezüglich des philosophischen Gehalts macht Gerber deutlich, dass sich unter der dem Hegelianismus verbundenen Vorstellung der List der Vernunft eine Teleologie und Theologie verbarg, die vom säkularisierten Fortschrittsoptimismus getragen wurde: der Weltgeist wurde durch den Klassenkampf abgelöst.
In toto erhellt der Band anhand der Debatten, die Marx mit Frühsozialisten und Anarchisten führte, die Entwicklung zum Klassenkämpfer. Im Gegensatz zum Frühsozialismus seien Marx‘ utopische Einlassungen recht spärlich, da sich lediglich in den Pariser Manuskripten sowie im Manifest Konkretionen finden lassen – mehr, „als er je wieder darüber schreiben sollte“. Im Kapital komme er sogar „ohne jeden Hinweis auf die Gestalt des Kommunismus“ aus. Hinsichtlich der Wirkungsgeschichte Marx‘ im realen Sozialismus argumentiert Gerber gar, dass es vielleicht besser gewesen wäre, hätte er mehr Aussagen getroffen, da sich bereits Arnold Ruge – Mitherausgeber der Jahrbücher – in einem Brief an Ludwig Feuerbach darüber beklagte, dass die „zukünftige Gesellschaft, von der in der Seine-Metropole gesprochen wurde“, „auf einen ‚förmlichen Polizei- und Sklavenstaat’“ hindeutete, was laut Gerber als „knappe Voraussage“ interpretiert werden könne. Da das Marxsche Werk zudem vom Eklektizismus seiner Zeit geprägt sei, streicht Gerber mit Verweis auf Max Horkheimer und Walter Ulbricht heraus, dass „sich mit Marx […] die widersprüchlichsten Dinge rechtfertigen“ ließen, denn es könne sowohl die „Diktatur des Proletariats“, als auch das „Bombenbasteln“ der RAF sowie Kritik an derlei mit Marx gerechtfertigt werden, da „[z]u fast jedem Marx-Zitat“ ein „Gegenzitat“ vorliege.
Bei aller kritischen Historisierung bleibt die Frage, was von Marx für das 21. Jahrhundert bliebe, offen, worin zugleich die Stärke des Buchs liegt, das sich nicht am neuerlichen Personenkult beteiligt, sondern Marx in seinem philosophischen Denken und Widersprüchen ernst nimmt. Insgesamt ragt Gerbers Essay nicht nur aus dem eingangs erwähnten Wust heraus, sondern könnte auch dazu beitragen, eine selbstkritische Perspektive linker Provenienz zu fördern. Bezüglich der zeitgenössischen Linken lässt sich Gerber lediglich einmal zu einer Polemik hinreißen, die etwas überzeichnet scheint und aus der ansonsten sachlich gehaltenen Diskussion heraussticht, da er markiert, dass es Marx nicht um ein „Elend für alle“ ging, sondern dieser „[i]n seinen besten Momenten […] den Lebensstil des untergehenden Adels als Blaupause für eine zukünftige Gesellschaft vor Augen“ hatte und die „Rede vom Glück“ noch nicht „für Hühner und Kühe reserviert“ gewesen sei.
Im Epilog umreißt Gerber Aspekte jüngerer Debatten und verweist anhand André Gorz‘ Adieux au prolétariat und Didier Eribons Retour à Reims auf die von der Linken vollzogene Abwendung sowie Verachtung des Proletariats – das zunehmend zur Rechten tendiere – womit zugleich ein Abschied der sozialen Frage einhergehe, was Gerber deutlich moniert. Seine abschließenden Einlassungen zur „schönen neuen Arbeitswelt“, in der die Imperative von Selbstoptimierung und Flexibilisierung herrschen, lassen sich konvergierend zur Analyse Luc Boltanskis und Ève Chiapellos deuten, die in Le nouvel Ésprit du Capitalisme aufzeigten, wie die Gesellschaftskritik der 68er vom Kapitalismus neoliberalen und postmodernen Zuschnitts aufgenommen wurde. Dieser „doppelten Misere“ und die damit verbundene Ausblendung der sozialen Frage könne jedoch nicht mit den Kategorien der Klasse und des Proletariats begegnet werden; möglicherweise jedoch mit Rekurs auf den ökonomiekritischen Marx, auch wenn die Kategorien Ware und Wert ebenfalls durch Auschwitz und das 20. Jahrhundert beschädigt seien.
Den eingangs erwähnten Anspruch die Marxschen Kategorien – Klasse, Proletariat, Geschichte – entgegen dem neuerlichen Marx-Boom zu historisieren, kann der Band zweifelsfrei einlösen. Die offen gehaltene Frage, was von Marx für das 21. Jahrhundert bliebe, könnte beantwortet werden mit einer Lesart, die sich nicht des Repertoires des Klassenkämpfers aus den 1840ern bedient, sondern Marx als Kritiker der kapitalistischen Produktionsweise – dem Untertitel des Kapitals entsprechend als Kritik der politischen Ökonomie – und als Denker einer Wertformanalyse sowie Fetischkritik ernst nähme. Hierfür stünde zuvörderst der erst kürzlich verstorbene Moishe Postone, der bereits 1993 mit Time, Labor and Social Domination: A Reinterpretation of Marx’s Critical Theory eine fundamentale Neuinterpretation vorlegte und sich entsprechend vom traditionellen Marxismus abgrenzte. In Postones an der Kritischen Theorie orientierten Lesart Marx‘ und der Abkehr der List der Vernunft, ließen sich Globalisierung, Elendsausweitung, Digitalisierung sowie Automatisierung von Produktion besser fassen – was auf einem solideren Marx als dem Klassenkämpfer der 1840er stünde. In Zeiten der Eindampfung bzw. Auslagerung des Sozialstaates ließe diese Lesart auch die soziale Frage wieder in den Fokus rücken, womit der von Kultur und Authentizität schwadronierenden kulturrelativistischen Linken – was die vom Konzept des Ethnopluralismus überzeugte Rechte ohnehin besser kann – kritisch begegnet werden kann.

von Mathias Beschorner

Jan Gerber: Karl Marx in Paris. Die Entdeckung des Kommunismus, Piper-Verlag, München 2018, 238 Seiten, 22 Euro.
 
 

Anwalt & selbsternannter Klassensprecher: Christian Barons „Proleten, Pöbel, Parasiten“

Beim neuerlichen Besuch eines Gastwissenschaftlers aus Großbritannien kam das Gespräch – vermittelt über den Brexit – auf die Mitgliedschaft meines Kollegen in der Green Party. Der Gefahr bewusst, dass dieses Gespräch kippen könnte, lenkte ich den Fokus von der Insel schnell auf Deutschland, gab vor keine Kenntnisse von der britischen Ausprägung der Bewegungspartei zu haben und führte an, dass diese in Deutschland eine Partei von und für die gehobene Mittelschicht ist. Der Kollege antwortete in einem Tonfall, den ich zunächst für beispielhaftes britisches Understatement hielt: „Let’s say well educated“. Continue reading „Anwalt & selbsternannter Klassensprecher: Christian Barons „Proleten, Pöbel, Parasiten““