Wenn wir taumeln Seit‘ an Seit‘

Rezension von: Andrea Ypsilanti – Und morgen regieren wir uns selbst…

Je näher die deutsche Sozialdemokratie dem Abgrund der Bedeutungslosigkeit kam, desto größer geriet das Spektakel, mit dem sie im Vorlauf der Bundestagswahlen aufwartete. Auf Steinmeier, der 2009 wohl selbst nicht wusste, warum er gegen die amtierende Bundeskanzlerin antritt folgte 2013 Steinbrück, der sich als Finanzminister sogar noch gegen den deutschen Minimalkeynesianismus der Konjunkturpakete zur Abschwächung der Wirtschaftskrise aussprach. 2017 sollte alles anders werden und man nahm den Vorsitzenden des Europaparlaments Martin Schulz in die Pflicht. Die Kampagnenmaschine nahm – erst recht mit der einstimmigen Wahl zum Parteivorsitzenden – Fahrt auf und bald las man vom Schulzzug ins Kanzleramt, wo der Gottkanzler schließlich schalten und walten werde. Das Spektakel hatte dabei freilich die Funktion zu verdecken, was die Nullformulierungen von der Gerechtigkeit und das Zynische rumeiern um die „Nachbesserungen an der Agenda 2010“ offensichtlich machten: das sich hinter den spektakulären Gegensätzen (zwischen Regierungschefin und Herausforderer) die Einheit des Elends verbirgt (vgl. Debord 1978: 11). Im Windschatten der sich daran anschließenden Sondierungen und Koalitionsverhandlungen leckten die sozialdemokratischen Parteien ihre Wunden. In der Linkspartei machte sich etwa der nationale Flügel daran, eine „neue linke Sammelbewegung“ zum Weg aus der Krise für die parlamentarische Linke zu erheben, wobei die führenden Vertreter/-innen Wagenknecht und Lafontaine lediglich die Hoffnung nährten, dass diese Sammelbewegung als eine Art nationalistische „Bad Bank“ in der politischen Linken fungieren könnte, abseits der tatsächlich progressive Kooperationen möglichen wären. Abgesehen von dieser mimétisme de Mélenchon regt sich indes auch in der SPD der Wunsch nach einem Kurswechsel – von der #NoGroko-Kampagne bis zur Plattform Pro-Initiative versuchen Parteimitglieder die Partei wieder „auf links“ zu drehen. Das Ziel teilen sie dabei mit dem schon länger bestehenden Institut Solidarische Moderne, einer NGO, die sich zum Ziel gesetzt hat den Brückenschlag zwischen außerparlamentarischen linken Bewegungen und dem sozialdemokratisch-grünen Parteienspektrum herzustellen.
Als Vorstandssprecherin des Instituts wirkt die ehemalige Landesvorsitzende des SPD in Hessen Andrea Ypsilanti, die mit dem nun vorliegenden „Und morgen regieren wir uns selbst“ ebenfalls in die Debatte um eine Neuausrichtung der SPD einwirken will. Grundlage ihrer Analyse ist dabei eine historische Auseinandersetzung mit den konzeptionell als Neoliberalismus gefassten politischen und ökonomischen Entwicklungen, der sich in seiner roll out Phase vermittelt über die catch phrases New Labour bzw. Neue Mitte auch in der Sozialdemokratie zum hegemonialen Projekt entwickelte. Dies schlägt sich im Aufbau des Buches dergestalt nieder, dass Ypsilanti in einem ersten Kapitel zunächst die politischen und ökonomischen Umwälzungen der 1980er und frühen 90er darstellt, wie sie nach Peck & Tickell (2002) als roll back Phase des Neoliberalismus bezeichnet werden. Sie zeichnet dabei ein Bild dieser Umwälzungen als geradezu revolutionärer Praxis (S. 21) die vermittelt über den Abbau bzw. den Niedergang des Wohlfahrtsstaats zu einer Prekarisierung breiter Teile der Bevölkerung geführt haben. Dies hat man freilich schon alles einmal an anderer Stelle gelesen – schließlich achtet die Autorin daran auch jeden linken Säulenheiligen zu referenzieren – von Adorno bis Žižek, Nachtwey und Eribon bis Naomi Klein und Oskar Negt. Über die selektive Schwerpunktsetzung im Kulturbereich und der vertieften Darstellung der Entsolidarisierungsporozesse gelingt es der Autorin jedoch den Eindruck eine Aneinanderreihung von einfachen Textzusammenfassungen zu vermeiden. Das zweite Kapitel widmet sich dann der Geschichte der Sozialdemokratie in Europa und im speziellen der Geschichte der SPD seit dem Ende des Kalten Kriegs. Von der Öffnung der Partei für das neu entstandene Yuppie-Milieu bis hin zum Schröder-Blair-Papier von 1999 zeichnet sie den letzten in der langen Reihe von Sündenfällen der deutschen Sozialdemokratie nach. Durch die Bezugnahme auf Anthony Giddens und seine Vordenkerrolle für die Entwicklungen der Mitte-Links Parteien und die rückblickende Einschätzung Nachtweys der neuen deutschen Sozialdemokratie als „Marktsozialdemokratie“ (S. 69) fehlt es auch diesem Kapitel nicht an konzeptioneller Tiefe. Ein anschließendes, kurz gehaltenes, drittes Kapitel trägt stärker biographische Züge und handelt von den Monaten vor und nach der hessischen Landtagswahl 1999, bei der Andrea Ypsilanti als Spitzenkandidaten der SPD angetreten war. Den Fokus legt sie dabei insbesondere auf ihr Konzept der solidarischen Moderne, mit dem die SPD in Hessen – gegen den marktfreundlichen Mittetrend der Bundesebene und so manchen Schüssen aus den eigenen Reihen für eine links-progressive Politik gegen einen heute nur noch als Karikatur denkbaren Roland Koch antrat. Letztendlich scheiterte ihre Wahl zur Ministerpräsidentin einer rotgrünen Regierung unter Tolerierung der Linkspartei am plötzlich entdeckten Gewissen einer Handvoll ihrer Parteigenoss/-innen. Auch wenn Ypsilanti an dieser frühen Stelle des Buches bereits versucht die Grundpfeiler einer Idee der „solidarischen Moderne“ nachzuzeichnen: Letztendlich ist das Kapitel wohl für die Leserinnen und Leser außerhalb Hessens weniger interessant. Im vierten Kapitel schafft die Autorin wieder den Sprung von der Narration hin zur Zeitanalyse und legt dabei den maßgeblichen Schwerpunkt auf die Wirtschafts- und Finanzkrise der Jahre 2007/08 und insbesondere die daran anschließenden Staatsschuldenkrisen in der EU. Ihr gelingt es dabei die Wirkmächtigkeit von Verblendungszusammenhängen in den Krisenjahren darzustellen, wenn sie beschreibt, wie die Bankenkrisen kommunikativ in Staatsschuldenkrisen transformiert wurden, und plötzlich die faulen Griechen, die renitenten Spanier und Portugiesen oder die bornierten Franzosen zu den Schuldigen an der Misere gemacht wurden (S. 91). Tiefere wissenschaftliche Diskussionen – etwa über die Austeritätspolitik als maßgebliche politische Artikulation der finanzdominierten Akkumulationsphase (vgl. Jessop 2016), oder, wenn wenige Seiten später mit Anspielung auf Poulantzas vom autoritären Wettbewerbsetatismus [im] […] Ausnahmestaat die Rede ist (S.103) auch aktuelle populistische Tendenzen als neoliberale Krisenbewältigungsstrategie zu begreifen (vgl. Demirovic 2018) – würden hier anschließend ermöglichen, auf andere Art über Potenzial und Limitationen sozialdemokratischer Kurswechsel und deren Aussichten zur Erkämpfung des Menschenrechts zu sprechen. Ypsilanti geht an dieser Stelle den konventionellen Weg, indem sie mit dem Begriff der kulturellen Hegemonie nach Gramsci argumentierend die Partei als – in eine Massenbewegung eingebettete – parlamentarische Vertretung der subalternen avisiert. Bei aller notwendigen kritischen Auseinandersetzung mit dieser Position (vgl. Agnoli 1990) überkommt einem beim Lesen Freude, wenn eine Sozialdemokratin erkennt, dass ihre Partei „den ursprünglichen Sinn des Begriffs der Reform zu einer faktischen Drohung gegen das eigene Milieu und die eigene Klasse gewendet hat“ (S. 142) oder mit Marcuse die Dauer des Arbeitstages als entscheidenden Faktor für die Unterdrückung des Lustprinzips bezeichnet (S.175). Das titelgebende abschließende Kapitel des Buches bleibt indes überraschend nebulös. Von einer, an der pragmatischen Lösungsfindung geschulten Berufspolitikerin hätte man vielleicht konkrete Entwicklungsstrategien für eine zukunftsfähige, demokratische Linke erwartet. Mit Rekurs auf Albert Camus beschwört die Autorin eine neue Lust auf Utopien, deren Erlangung die Prinzipien der französischen Revolution aufs Neue bedarf.
Mit „und morgen regieren wir uns selbst“ hat Andrea Ypsilanti ein Buch vorgelegt, mit dem es ihr gelingt eine auf den breiteren Lesekreis angelegte Analyse des Neoliberalismus mit einer kritischen Perspektive auf den aktuellen Zustand der deutschen Sozialdemokratie zu verbinden. Dabei weißt sie einen vertieften und aktuellen Quellenbezug auf. Auffällig sind an diesem Buch, das sich auf der Höhe des politischen Geschehens bewegt aber auch die Lücken und Leerstellen. Bereits vor Erscheinen des Buches war die öffentliche Debatte maßgeblich von Flucht, Migration und der Frage nach dem Umgang mit Rechtspopulismus dominiert. Nun ist es an und für sich angenehm 2018 ein politisches Sachbuch lesen zu können, das der scheinbaren Omnipräsenz von Ängsten und der rechtspopulistischen Inkarnation völkischer Befindlichkeit, der AfD nur eine Nebenrolle zuweist. Jedoch schließen sich an die von Ypsilanti aufgeworfenen Fragen zum Politischen im Neoliberalismus weiterführende an – etwa, wie oben bereits angedeutet, ob der grassierende Populismus als Strategie zur Bewältigung der Krise an Bedeutung gewinnt, oder inwiefern aktuelle Austeritätspolitiken rechten Ressentiments in die Hände spielen und damit dem Populismus Aufschub leisten. Wenn im Herbst dieses Jahres der neue hessische Landtag gewählt wird, tritt Andrea Ypsilanti nicht erneut als Kandidatin an. Einem zweiten Buch, das sich dieser Fragen annimmt sollte damit also nichts im Wege stehen.

von Simon Dudek

Agnoli, J. (1990): Die Transformation der Demokratie und andere Schriften zur Kritik der Politik. Freiburg:  Ça ira.
Demirovic, A. (2018): Autoritärer Populismus als neoliberale Krisenbewältigungsstrategie. In: Prokla 190, S. 27-42.
Jessop, B. (2016): The heartlands of neoliberalism and the rise of the austerity state. In: Springer, S.; Birch, K. & J. MacLeavy: The Handbook of Neoliberalism. London: Routledge, 410-421.
Peck, J. & A. Tickell (2002): Neoliberalizing space. In: Antipode, 34, 380-404.
Andrea Ypsilanti
Und morgen regieren wir uns selbst… Eine Streitschrift.
Westend Verlag: 2018
256 Seiten
18,00 Euro
 
 

Tierliebe und Menschenhass

Rund 300.000 Unterschriften erreichte die Online-Petition für den Hund Chico, der Anfang April seinen Halter und dessen Mutter getötet hatte. Die Causa des Hundes, der zwei Menschenleben auf dem Gewissen hat, führte auch außerhalb von social media zu Protesten. So berichtet der Spiegel von immerhin 80 Menschen, die in Hannover zu einer Mahnwache kamen: für den Hund, nicht für die getöteten Menschen. Nun ließe sich ja vermuten, dass es sich dabei schlicht um ein Phänomen großen Mitleids handelt. Dass Menschen noch einem Hund, der zwei Menschen umgebracht hat, zugestehen, selbst weiterzuleben, als Zeichen einer friedfertigen Gesellschaft lesen. Kurz, wer so gut zu Tieren ist, der ist auch seinen Mitmenschen gegenüber menschlich gesinnt. Doch die Rechnung geht nicht auf. Die Tierliebe wirkt nicht als Damm gegen Gewalt und Hass auch dem Menschen gegenüber. Ganz im Gegenteil ist so oft mit genau dieser vergesellschaftet, will, wer sich Tierliebe auf die Fahnen schreibt, nicht selten seinen Mitmenschen an den Kragen (1). Wie geht das zusammen? Continue reading „Tierliebe und Menschenhass“

Das Elend der Pluralen Wirtschaftswissenschaften

2017 feierte Das Kapital – das Hauptwerk von Karl Marx – den hundertfünfzigsten Geburtstag seiner Ersterscheinung. Man stelle sich einmal vor dieses Fest fiele in die Nachkriegsära Konrad Adenauers oder in die Kiesingers und die Autoren jener Blätter, die maßgeblich für die Meinungsbildung in der Bundesrepublik sind, schrieben sich die Finger wund ob der Frage, ob man denn noch etwas von Marx lernen könne oder ob er irgendwie Recht gehabt habe.[1] Das ist zwar eine nette Vorstellung, entbehrt aber jeder realen Möglichkeit. Denn außer bei einigen kritischen Studentinnen oder Studenten und deren entsprechend kritischen Lehrenden, K-Gruppen und später Autonomen wäre dieses Ereignis nicht auf Interesse, geschweige denn auf Liebe gestoßen. Nachdem aber bekanntlich 1991 die Geschichte zu Ende ging (Fukuyama) und es seit dem in der Wissenschaft nicht mehr um einen emphatischen Wahrheitsbegriff, der sich an seinen Gegenständen entwickelt, im Vorhaben mit bestimmter Erkenntnis etwas am Dasein der Menschen zu verbessern,[2] sondern um den Austausch von meist theoretischen Ansichten zum Ding des Interesses geht, scheint es kein Problem mehr zu sein, dass auch das Aufwerfen einer marxistischen Perspektive nicht mehr diesen linken Randerscheinungen der Gesellschaft vorenthalten bleibt, sondern eben auch von der Journaille, aber auch von sich kritisch dünkenden Studentinnen und Studenten erledigt werden kann, die Symptom eines gesellschaftlichen Umstands sind. Um was es hier in aller Kürze gehen soll, ist das Problem der Abstraktion von der wirklichen gesellschaftlichen Totalität der „kritischen Studierenden“, die sich in der Initiative Plurale Ökonomik engagieren, durch kursorische Darstellung der Kritik der politischen Ökonomie Marxens darzustellen. Continue reading „Das Elend der Pluralen Wirtschaftswissenschaften“

Medikamentenknappheit. Anatomie einer Mangelwirtschaft

Als im Oktober 2016 im ostchinesischen Jinan eine Explosion die örtliche Fabrik des Pharma-Subunternehmens Qilu stilllegte, waren die Folgen bald darauf weltweit zu spüren. In dem Werk fand ein großer Teil der weltweiten Produktion von Piperacillin/Tazobactam statt. Auch in Deutschland kam es daraufhin über einen großen Teil des folgenden Jahres zu Lieferengpässen für das Medikament. Continue reading „Medikamentenknappheit. Anatomie einer Mangelwirtschaft“

Heimat of late capitalism

Eine gesunde Portion Skepsis empfiehlt sich im Hinblick auf den Begriff der Heimat, um den es nachfolgend gehen soll, alleine schon, weil es sich um ein deutsches Idiom, also ein Wort, dass sich nicht ohne Bedeutungsverlust in eine andere Sprache übersetzen lässt, handelt. Dieser verstärkt sich, bedenkt man die völkischen Konnotationen des Begriffs und seiner Karriere im nationalistischen Jargon. Roger Behrens baut seine Ausführungen zum Heimatbegriff in der Jungle World Ausgabe 43 entsprechend richtig auf das Bonmot Jean Amerys auf, wonach Links da ist, wo keine Heimat ist. Vergegenwärtigt man sich indes, dass der Weltgeist gerade alles andere als auf der Suche nach dem ist, was Links sein könnte, sondern antifaschistische Organisation als Defensivstrategie das Gebot der Stunde ist, lohnt es, die Wirkmächtigkeit des Heimatbegriffs zu analysieren.

In einer bereits etwas älteren Annäherung an das, was Gegenstand des Wortes Heimat ist, macht die Anthropologin Ina-Maria Greverus drei Dimensionen aus, die Grundvoraussetzung einer jeden Empfindung von Heimat sind, nämlich Gemeinschaft, Tradition und Raum. Die beiden erstgenannten sozialen Verhältnisse werden gegenwärtig im Kontext der Diskussion um die sogenannten „Verlierer der Globalisierung“ verstärkt thematisiert. Diese diskursive Verschiebung ist darauf zurückzuführen, dass genau in jenen Regionen, die als Verlierer aus den wirtschaftlichen Transformationsprozessen der Globalisierung hervorgegangen sind, die höchsten Stimmanteile für rechtspopulistische Parteien zu finden sind. Der Rust-belt, zu Zeiten ökonomischer Prosperität noch ‘manufacturing belt’ genannt und Stammland der Demokratischen Partei, steht prototypisch für eine abgehängte Region, die sich einem populistischen Kandidaten – Donald Trump – zugewandt hat. Ähnlich verhält es sich mit den Departements im Norden Frankreichs und den ehemaligen durch Kohleabbau und Schwerindustrie geprägten Landstrichen Großbritanniens, die sich bei der französischen Präsidentschaftswahl und dem Brexit-Votum rechtspopulistische Positionen zu eigen gemacht haben. Auch in Deutschland wird das Erstarken der Alternative für Deutschland stark unter regionalen Gesichtspunkten („der rechte Osten“) betrachtet. Der Heimatbegriff erfährt durch diese Entwicklungen eine Repolitisierung. Nachdem das 2013 in Bayern geschaffene Heimatministerium lange Zeit als regionales Kuriosum christsozialer Prägung wahrgenommen wurde. Nun, nach der Bundestagswahl, und anscheinend als Reaktion auf die Verbreitung rechtspopulistischer Einstellungen in der deutschen Gesellschaft, wird eine Änderung des ministeriellen Ressortzuschnitts zu Gunsten eines Heimatministeriums diskutiert. Die policy-Dimension eines solchen Ministeriums hat, darauf lässt auch die Erfahrung mit dem Pendant in Bayern schließen, vor allem Aufgaben der Regionalentwicklung nach Maßgabe des Raumordnungsgesetzes zum Gegenstand. Insofern orientiert sich das politische Handeln im Rahmen des Heimatbegriffs an der dritten Greveruschen Dimension des Raums.

Heimat als Spatial Imaginary

Neben ihrer politischen Realität in der Ministerialbürokratie – also dem formellen Bedeutungszugewinn der Raumordnungspolitik in der kommenden Legislaturperiode – fungiert der Begriff „Heimat“ indes auch als Orientierungssemantik für breitere gesellschaftliche Entwicklungen. Dem Staatstheoretiker Bob Jessop nach lassen sich diese als (spatial) imaginaries, also “semiotic systems that frame individual subjects’ lived experience of an inordinately complex world and/ or inform collective calculation about that world” (Jessop 2010: 344) auffassen. Imaginaries sind demnach Anpassungsstrategien um die überkomplexe Realität überhaupt erfahrbar zu machen bzw. kognitiv zu verarbeiten. Spatial imaginaries wie „Heimat“ reduzieren also diverse soziale Phänomene auf räumliche Differenzen von hier und dort, nah und fern oder eben Heimat und Fremde. Der Cultural Political Economy-Ansatz (Sum & Jessop 2005) Diese imaginaries sind interessengeleitet: Akteure handeln demnach strategisch kalkulierend innerhalb von Strukturen, die „strategisch selektiv“ Handlungsmöglichkeiten einschränken, aber auch ermöglichen. Imaginaries nehmen darin die Rolle potenzieller Ideologien ein, die eine antizipierende und konstitutive Rolle in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen spielen. Insofern bedeutet die Schaffung eines Heimatministeriums eine Verschiebung des Kräfteverhältnisses weg von anderen politischen Differenzen wie „Kapital und Arbeit“, oder aber auch in der räumlichen Perspektive von Dependenztheorien „Zentrum und Peripherie“ hin zu einer vagen Unterscheidung von dem was Heimat ist und was es nicht ist. Zu einer genaueren Klärung dessen, welche Funktion „Heimat“ als spatial imaginary hat, möchte ich es als sozialräumliches Verhältnis fassen, was auch der einführenden Annäherung von Greverus entspricht. Hierzu greife ich auf das TPSN-Framework (Brenner et al. 2008) zurück, das auf die sozialräumlichen Dimensionen Territorialität (territory), Place (Ort), Scale (Maßstabsebene) und Network (Netzwerk) aufbaut: Im folgenden wird das Schema entfaltet, und so die Ursachen und Konsequenzen – Wirtschaftskrise und Antiliberalismus – des Heimatbegriffs aufzuzeigen.

Territorialität

Für Territorialität (territoriality) als sozialräumliches Beziehungskonzept bedeutet dies eine Bedeutungszunahme des Grenzprinzips. Territorialität kann verstanden warden als „the attempt by an individual or group to affect, influence, or control people, phenomena, and relationships, by delimiting and asserting control over a geographic area. This area will be called territory“ (Sack 1986:19). Heimat lässt sich demnach als soziale Technik einer physischen Grenzziehung – auch wenn diese nicht manifest in Form eines Zauns oder einer Mauer erscheint – fassen. Diese Grenzziehung wird in Folge relevant für maßgebliche Unterscheidungen des Wir & die Anderen, Eigen & Fremd bis hin zu Zivilisation & Barbarei – wobei Heimat konsequenterweise immer positiv attribuiert wird. Mehr noch als an den deutschen Grenzen (dann auch zumeist als völkisches Maas-Memel-Etsch-Belt-Phantasma) wird dies an den europäischen Außengrenzen, an denen das EU-Grenzregime patrouilliert, und innerhalb deren Grenzen die Neue Rechte unter „Europa nostra“ die letzte Bastion des Abendlandes imaginiert und ihr Erbe für sich beansprucht deutlich. Im Hinblick auf die territoriality-Dimension des Heimatbegriffs bedeutet diese somit auch immer das Erstarken der Verblendungszusammenhänge Nation und Kultur, was eine progressive Antwort auf den Klassenwiderspruch in weite Ferne rückt.

Maßstabsebene

Eine zweite Annäherung an den Begriff der Heimat lässt sich anhand der Maßstabsebene (Scale) als sozialräumlicher Dimension vornehmen. So lässt sich in den Jahren seit Beginn der Finanzkrise ein Erstarken der regionalen, sowie – im breiteren Kontext der Globalisierung ein Bedeutungsgewinn der supranationalen Ebene feststellen. Als europäische Beispiele für einen stärkeren Regionalismus können die Unabhängigkeitsreferenden in Schottland, Katalonien und Venetien gesehen werden. Als vermeintlich kosmopolitischer Gegenentwurf zur Region als Heimat dient etwa der Bezug auf Europa als Heimat. Generell lässt sich eine Hierarchisierung der verschiedenen Maßstabsebenen feststellen. Gegenüber einer supranationalen Ebene, wie sie die EU in Europa darstellt, entstehen Ressentiments gegen ein abgehobenes, technokratisches Brüssel, das die Lebensrealität in den Regionen ignoriere und in ihrer Gesetzgebung alles über einen Kamm schere. Umgekehrt werde die Region schnell zur imaginierten Scholle von Hinterwäldlern deren geistiger Horizont am nächsten Gebirgskamm ende. Maßstabsebenen treten, beladen mit dem Heimatbegriff, also in Konkurrenz zueinander und laden zu Abstraktionen ein, die zu einer Hierarchisierung von Affekt und Aversion beitragen.

Ort

Als konkretes Bild manifestiert sich Heimat individuell zumeist als Ort (place). Um den diffusen Ortsbegriff konzeptionell zu fassen, bietet sich eine Annäherung an den Ortsbegriff anhand dreier Eigenschaften an: Seine physisch-materiellen Koordinaten (also das „Wo“ des Ortes), die Materialität des Ortes selbst (also dessen Gestaltung, Form und Architektur) und die – individuelle – affektive Aufladung des Ortes (also symbolische Zuschreibungen und emotionale Beziehungen zu dieser Materialität). Bezogen auf die erste Dimension kann ein prominenterer Heimatbegriff dazu führen, dass die Territorialität (s.o.) an Bedeutung gewinnt – aus „Home is where your heart is“ oder deren spätkapitalistischer Wendung es dort zu finden wo sich das Wifi automatisch verbindet, gewinnt die klare territoriale Abgrenzung dessen, was Heimat ist wieder an Bedeutung. Wenn der Bayerische Rundfunk in seiner Eigenwerbung MigrantInnen neben Biodeutschen „do bin i dahoam“ in die Kamera grinsen lässt, ist es ein Indiz für einen Heimatbegriff, der „Blut und Boden“ zu Gunsten einer affirmativen Identifikation mit dem „Where you’re at“ eintauscht.

Zweitens kann der Heimatbegriff auch einen Einfluss auf die Materialität eines Ortes haben. Der Neue Regionalismus als architektonisches Paradigma der Postmoderne mag sinnbildlich dafür stehen. Der traditionalistische beeinflusste Baustil berücksichtigt dabei lokale Gegeben- und Besonderheiten und reproduziert dabei spezifische örtliche Identitäten. Beim Berliner Stadtschloss lässt sich dabei etwa nachvollziehen, welche Bedeutung architektonische Projekte haben (vgl. http://distanz-magazin.de/versuch-ueber-das-berliner-stadtschloss/). An der Stelle des Palasts der Republik entsteht inzwischen ein Nachbau des Wilhelminischen Stadtschlosses. Dieses wird zukünftig das Humboldtforum beherbergen und mit jener, der Berliner Republik eigenen, Inklusivität die deutschen Kolonialverbrechen aufarbeiten. Das bedeutet „Heimat wieder positiv besetzen“ in der Architektur.

Eng einher mit diesen Projekten geht die – stilistisch antizipierte dritte Dimension des Heimatbegriffs – der „sense of place“. Einen Ort konkret als Heimat zu besetzen ermöglicht eine Unsicherheitsabsorbtion. Der Ort, den man sich zur Heimat erkoren hat, wird dann auch zur Scholle auf die man sich zurückziehen kann von den Unzumutbarkeiten der Globalisierung. Die entsprechende sozialräumliche Reaktion wäre ein Rückzug in Räume, die man mit „heiler Welt“ assoziiert. Denkt man die genannten Dimensionen zusammen, so wird die Heimat im konzeptionellen Rahmen des Ortes in Verbindung gebracht mit einem Absichern – gegen empfundene Bedrohungen außerhalb dieses Ortes wie auch einer Vergangenheit, die verloren zu gehen scheint. Menschen suchen und erzeugen diese Orte als intakten Gegenentwurf, als Persistenz einer besseren Zeit und eines besseren Hier.

Netzwerk

Ein erstarkender Heimatbegriff rahmt Netzwerke – die vierte Dimension des TSPN-Schemas –  stärker durch das Prinzip der räumlichen Nähe. Heimat als Ordnungsinstanz räumt für die Auswahl von Netzwerkpartnern der Kategorie Raum eine höhere Bedeutung ein. Das Imaginary Heimat dient hier zur Unsicherheitsabsorption – gerade in Krisen wie eben der seit 2007 anhaltenden Wirtschaftskrise. Folglich beeinflusst es die Selektion der Netzwerkpartner: Imaginiert wird eine Zeit vor der Krise (eine Chimäre kapitalistischer Vergesellschaftung). Dabei dient die Globalisierung als abstraktes Vexierbild alles Schlechten. Dem entgegengestellt wird das Kieznetzwerk oder die Nachbarschaft. Lokale Netzwerke treten an die Stelle des vormaligen Ziels einer Weltgemeinschaft. Unter dem Schlagwort des „Think global, act local“ ist dieses Prinzip auch bei Globalisierungskritikern und Postwachstumsökonomen anschlussfähig (vgl. hierzu Distanz Magazin #4). Beide Entwicklungen bedeuten eine Schwächung raumunabhängiger Netzwerke, wie sie dem liberalen Prinzip des Kosmopolitismus oder dem sozialistischen Prinzip der (internationalen) Klassensolidarität zu Grunde liegen

  Territory Scale Place Network
Beobachtbare Entwicklungen Abschottung Downscaling Traditionalismus Antiliberalismus;
Antikommunismus

Fazit

Im eingangs erwähnten Beitrag von Roger Behrens zitiert dieser Detlev Claussen: »›Heimat‹ ist eine exemplarische Kategorie des Verschwindens, eine Erfahrung, die lebensgeschichtlich gemacht wird, es ist eine raumzeitliche Koordinate, die man verlassen muss, in die man nie mehr zurückkehren kann, die man als ›Heimat‹ benennt (…) Heimat ist eine raumzeitliche Koordinate des Verlusts.« Dies mag für das individuelle betrauern, dass der Kirchturm nicht mehr so groß erscheint, oder ein Kanal jetzt den Fluss verdeckt, zutreffen. Gleichwohl wirken diese lebensgeschichtlichen Erfahrungen gerade in Krisenzeiten handlungsleitend. Sie dienen als Imaginaries eines Zustands, den es wieder herzustellen gilt, und dienen dem verunsicherten Subjekt des Spätkapitalismus dabei als vermeintlich sicherer Hafen. Diese gesellschaftlichen Entwicklungen sind eng verbunden mit politischen Entscheidungen und Prozessen. Die in der TSPN-Analyse erarbeiteten Konsequenzen – wenn auch weit davon entfernt eine erschöpfende Darstellung zu liefern – zeigen eine Reihe gesellschaftlicher Entwicklungen auf, die in der näheren Zukunft verstärkt auftreten werden. Der Heimat-Begriff steht im wechselseitigen Verhältnis zu diesen Entwicklungen. Einerseits verdankt er seine Prominenz sozialen Spannungen, denen er nicht als Grundlage dient. Zugleich verstärkt er diese jedoch weiter und bietet sich dabei zugleich als komplexitätsreduzierende Vorstellungswelt wie auch als Heilsversprechen einer humanen Zukunft an.

von Alf Philips