Unterwerfung. Skizze zum autoritären Charakter in islamischen Gesellschaften

Die Theorie des sadomasochistischen bzw. des autoritären Charakters der frühen Kritischen Theorie wurde seit ihrem Entstehen immer wieder erweitert und aktualisiert. Allerdings beschränken diese Erweiterungen sich zum Großteil auf die bürgerliche Moderne des sogenannten Westens und deren Entwicklung. Genau an dieser Stelle soll dieser Text das bisher geleistete transferieren: In diesem Text soll die spezifische Sozialisation eines Jungen[1] in islamisch geprägten Ländern und Familien nachvollziehen und untersuchen, ob dies zu einem bestimmten Sozialcharakter[2] führt. Ziel ist es darüber hinaus eine theoretische Debatte anzustoßen, um die Theorieentwicklung voranzutreiben, ohne dabei Anspruch auf eine vollständige Analyse zu erheben.

Geschlechterrollen und Autorität

In der islamisch-patriarchalen Gesellschaft erhalten Frauen ihre relative Macht über den oikos nur durch eine tatsächliche Gebährfähigkeit; ihre Stellung innerhalb der Familie hängt also maßgeblich davon ab, ob sie realiter Mutter sind; sprich, dass sie die Potenz des Mannes beweisen. (vgl. Charlier 2017a: 46) Durch die für islamische Familien typische enge Beziehung zwischen Mutter und Sohn, fließen in die Erziehung des Jungen sowohl kompensatorische Bestrebungen der Mutter, wie z.B. durch den Sohn an der Macht des Patriarchats teilhaben zu können, als auch unbewusste Aggressionen und Hassgefühle, die aus der Ausgeschlossenheit der Frau aus der Männerwelt resultieren, ein, sodass der Junge widersprüchlichen Verhaltensweisen und Gefühlen von Seiten der Mutter ausgesetzt ist. (vgl. ebd.) Gleichzeitig erfährt der Junge sehr früh die Wertvorstellungen und die Rollenverteilung zwischen der entwerteten Mutter und dem mächtigen Vater, welches nicht zuletzt durch die Verschleierung als Zeichen der Sittlichkeit der Frau offenbar wird..
Der Vater bleibt bis zum siebten Lebensjahr des Jungen zwar aus dem konkreten Erziehungsprozess ausgeschlossen, trotzdem wird er gerade durch seine Verbindung von Abwesenheit und Macht als ehrwürdiges und furchteinflößendes Objekt vom Jungen erlebt. (vgl. ebd. 48) Für den Jungen ist der Vater nun real das Objekt, das ihn aus der engen Mutter-Sohn-Beziehung, und damit aus der Minderwertigkeit der Frauenwelt, retten kann. Die Unnahbarkeit des Vaters und seine konkrete Stellung im Erziehungsprozess sorgen dafür, dass dieser sich nicht als verbietendes Objekt im Sinne einer klassischen ödipalen Auseinandersetzung angesehen wird, denn der Vater wird nicht als zwischen dem Jugend und der Mutter stehend erlebt, sondern als außenstehend wahrgenommen. (vgl. ebd.)

Identifikation und Unterwerfung

Dies hat zur Folge, dass „die Notwendigkeit einer Internalisierung väterlicher Ge- und Verbote und damit die Bildung eines internalisierten Über-Ichs mit dem Inzesttabu als Zentrum des ödipalen Konflikts nicht in dem Maße gegeben ist, wie dies in der Freud´schen Formulierung des Über-Ichs als Erbe des Ödipuskomplexes expliziert ist.“ (ebd.) Stattdessen bleibt das frühere, idealisierte Vaterimago intakt und es kommt zu einer Unterwerfung unter den und einer gleichgeschlechtlichen Bindung an den Vater, welche Teilhabe an der Macht und der Dominanz der Männerwelt ohne Infragestellung der väterlichen Macht verspricht. (vgl. ebd.)
An dieser Stelle wird die ödipale Situation also nicht in der Art gelöst, dass der Junge durch den imaginären Vatermord Autonomie erlangt, sondern er bleibt abhängig vom Vater. (vgl. Charlier 2017c: 82) Allerdings wird die Rettung aus der Mutterwelt rituell erkauft: Die Kastrationsangst des Jungen wird durch die Beschneidung, welche in der Regel im Alter zwischen zwei und sieben Jahren geschieht, bestätigt (vgl. Wilting 2007: 156) Der Junge erlebt diese bewusst, sodass sich die Beschneidung als ein permanentes Zeichen der Macht des Vaters in die psychische Struktur des Jungen einbrennt; zugleich ist die Beschneidung eine symbolische, präventive Schutzmaßnahme des islamischen Patriarchats gegen Inzest und Vatermord. (vgl. Maciejewski 2003: 540)
Durch das Ausbleiben des Freud`schen Ödipuskomplexes bleiben die inzestuösen Wünsche gegenüber der Mutter ständig präsent. Diese werden durch Projektion auf andere Mitglieder der islamischen Gesellschaft unter Kontrolle gebracht; dies erklärt wieso zum Beispiel in der islamischen Welt alle sich als Brüder und Schwestern bezeichnen. Es handelt sich also um eine weitere Vergesellschaftung des Inzesttabus. (vgl. Charlier 2017a: 49)
Das archaische Bild des Vaters wird in der weiteren Entwicklung nicht korrigiert, denn für den Vater liegt der erfolgreiche Weg des Knaben in die Männerwelt im Gehorsam und in der Unterwerfung unter die religiösen Autoritäten respektive unter Gott, sodass für den Knaben die Unterwerfung Basis für die physische und psychische Existenz bleibt. (vgl. Charlier 2017b: 74) In der islamischen Sagenwelt endet der Konflikt mit dem Vater nicht etwa in der (symbolischen) Tötung des Vaters, sondern wie in der Rostam-Sage im Gegenteil: In der Tötung des Sohnes durch den Vater (vgl. Charlier 2017c: 98)
Gehad Mazaweh schreibt daher zum Verhältnis des Sohnes zum Vater in der arabischen Welt folgendes:

„Der Hass auf den Vater und die Todes- und Mordwünsche werden aus Angst- und Schuldgefühlen verdrängt. Die Ängste der Knaben (…) werden bestätigt durch die Gewalttätigkeit der Väter, die Angst bleibt nicht nur in der Fantasie, sondern sie ist eine Realität (…). Die Furcht vor dem Vater zwingt die Söhne ihre Hassgefühle zu verdrängen, den Hass nicht bewusst werden zu lassen. Kaum ein arabischer Sohn würde mit dem bewussten Hass auf den Vater leben können.“ (Mazaweh 2005: 82)

Mazaweh geht an anderer Stelle soweit zu sagen, dass der Sohn an Schuldgefühlen umkommen würde, gewänne er den ödipalen Kampf mit dem Vater. (vgl. Mazaweh 2011). Diese Beobachtungen werden von Charlier geteilt. Allerdings handelt es sich an dieser Stelle nicht (oder nicht nur?) um eine Verdrängung, sondern auch um eine volle Identifizierung mit dem Angreifer. Der Sohn identifiziert sich demnach mit den Wunschvorstellungen, die der Vater von ihm hat, welches mit einer Unterwerfung unter die Bedürfnisse des Vaters identisch ist. Diese Identifizierung mit dem Wunschbild des Vaters ist der Grund dafür, dass der Vater im weiteren Prozess der Entwicklung nicht desillusioniert wird (vgl. Charlier 2017b: 74). Realiter wird das Hinterfragen der väterlichen Autorität respektive das aktive Vorgehen gegen diese – also der symbolische Vatermord – mit dem Ausschluss aus der Männerwelt und damit mit Verbannung in die Mutterwelt bestraft. (vgl. Charlier 2017c: 98)
Diese Unterschiede in der Lösung der ödipalen Situation – im Vergleich zur okzidentalischen – bewirken Unterschiede in der gesellschaftlichen Struktur, während die Unterschiede selbst auch wieder Ausdruck der unterschiedlichen, gesellschaftlichen Struktur sind. So entstehen die Schuldgefühle des Jungen nicht aus dem symbolischen Vatermord, sondern aus den Gedanken an den Vatermord, sodass das Kind eine spezielle Form der Emotionalität in Form einer libidinösen-inzestuösen Bindung an die Mutter entwickelt. Diese Emotionalität ist geprägt von Empathie, Beschützer‚instinkten‘ und Verantwortungsgefühl.

„Hass und Aggressivität haben hier ihre Quelle in der frühen Mutter-Sohn-Beziehung und werden nicht durch die ödipale Triangulierung überformt. Sie sind gegenüber dem Vater tabuisiert und müssen in den außenfamiliären Bereich projiziert werden.“ (Charlier 2017c: 99)

Aus diesem Gründen bietet die daraus geprägte psychische Struktur des Jungen mehr Raum für empathische Objektbeziehungen als für rational gesteuertes Verhalten. Die Unhinterfragbarkeit der Autorität des Vaters spiegelt sich auf der ideologischen Seite in der Unhinterfragbarkeit Gottes; so sind im Islam weder Kritik an Gott und Mohammad, noch ambivalente Gefühle gegenüber eben diesen erlaubt. (vgl. Charlier 2017b: 71) Wer nicht nach den Gesetzen der Religion lebt, d.h. sich nicht der Autorität Gottes bzw. religiöser Führer unterwirft, wird als Kufr, also als Ungläubiger, gebrandmarkt. Der Kufr leistet Widerstand gegen die Autorität, er zeigt also adoleszentes Verhalten, welches unter Strafe gestellt ist und als verachtenswert angesehen wird. Parallel zur Kritik innerhalb der Familie am Vater, wird dieses Verhalten schwer bestraft: Mit dem Verstoßen aus der Umma, welche in der extremen Form die Todesstrafe ist.
Die Intensität der, durch volle Identifizierung mit dem Vater, unbewussten, aggressiven Affekte, sowie das Ausmaß des Verlangens nach Liebe und Anerkennung können dazu führen, dass der Knabe später dazu bereit ist, für den Vater, die religiösen Autoritäten, bzw. für die Gewinnung seiner/ihrer Liebe zu opfern. Dieses findet seinen stärksten Ausdruck im Opfermythos des Märtyrertums als Beweis von Männlichkeit, religiöser Treue und Unterwerfung, was bis hin zur sadomasochistischen Selbst- und Objektvernichtung, also zum Selbstmordattentat, als Zeichen von Liebe und Stolz führen kann. (vgl. ebd.: 75) Im Märtyrerkult verliert die Signalangst ihre Funktion als Warnung vor den mit Gewalt und Destruktivität verknüpften Gefühlen.
Dies zeigt sich in Interviews, die Nasra Hassan in den 1990er Jahren mit zukünftigen Selbstmordattentätern bzw. mit Selbstmordattentätern führte, deren Anschläge scheiterten. Dort heißt es z.B.

The boy has left that stage far behind,“ he said. The fear is not for his own safety or for his impending death. It does not come from lack of confidence in his ability to press the trigger. It is awe, produced by the situation. He has never done this before and, inshallah, will never do it again! It comes from his fervent desire for success, which will propel him into the presence of Allah. It is anxiety over the possibility of something going wrong and denying him his heart’s wish. The outcome, remember, lies in Allah’s hands.” (Hassan 2000)

Diese Angstfreiheit in der konkreten Attentatssituation belegen auch andere Zeugnisse von islamistischen Terroristen, wie die von Mohammad Atta. (vgl. Stein 2005: 111) Wir sehen also, dass in den Extremfällen alle Ängste sich in eine Furcht verwandeln, die sich auf ein überhöhtes Objekt bezieht: in Gottesfurcht. So schreibt Mohammad Atta: „Furcht ist eine großartige Form der Anbetung, die einzige, die Gottes würdig ist. Er ist der Einzige, dem sie zusteht“. (Atta, zit. n. Stein 2005: 111) Diese Transformation von Ängsten in Gottesfurcht findet ihren Eingang in die islamistische Ideologie, in der keine Furcht an weltlich-triviale Dinge vergeudet werden soll. Durch Furcht und Terror, die die Terroristen notwendig verbreiten wollen, wollen sie die Kufr herabsetzen und selbst von diesen angebetet werden. Die Gefühle von Hilflosigkeit und Verwirrung haben sie durch ihre neue Identität zum Verschwinden gebracht. (vgl. ebd: 112) Dies denkt sich mit den Beobachtungen Sigmund Freuds, dass unter dem Schutz des geliebten und gefürchteten Gotts jegliche Gewissensangst verschwindet. (vgl. Freud 1921) Durch die Unterwerfung unter einen gefürchteten und geliebten Gott fühlen sich die Terroristen von allen moralischen Schranken befreit, andere zu töten und bei denen, die sie nicht töten, Angst und Schrecken zu verbreiten.
Die Liebe zu Gott und der Liebe zum Märtyrertum befindet sich auf einer vertikalen Achse, an deren Ausdruck Selbstwert oder Unwert, Überlegenheit oder Unterlegenheit, Erniedrigung, Mitleid, Ehrfurcht und Verehrung beteiligt sind; es ist also prä-ambivalente Liebe. (vgl. Abraham 1924) In einem der von Hassan geführten Interviews heißt es demgemäß:

“Love of martyrdom is something deep inside the heart. But these rewards are not in themselves the goal of the martyr. The only aim is to win Allah’s satisfaction. That can be done in the simplest and speediest manner by dying in the cause of Allah.“ (zit. n. Hassan 2000)

Durch die Unterwerfung unter Gott, hat dieser die Führung über die Psyche übernommen: Der Terrorist ist nun der festen Überzeugung, dass es Gott gefällt, wenn er seine Freunde vernichtet. Gott wird nicht trotz der Erlaubnis zum Töten geliebt, sondern gerade weil er es erlaubt Kufr, und damit das Schlechte im eigenen Seelenapparat, zu töten. Die Ekstase des Töten selbst und die Erwartung des baldigen Einsatz als Gotteskrieger, bereiten enormen sadomasochistischen Lustgewinn. (vgl. Stein 2005: 118):

„I asked S. to describe his preparations for the suicide mission. “We were in a constant state of worship,” he said. “We told each other that if the Israelis only knew how joyful we were they would whip us to death! Those were the happiest days of my life.”“ (Hassan 2000).

Durch das Töten des beunruhigenden Teil des eigenen Selbst, das vorher nach außen projiziert wurde, versucht der Terrorist ebendiesen ein für alle Mal zu besiegen und damit die Unlust auf ewig zu vermeiden. (vgl. Stein 2005: 119).

Göttliche Autorität im Islam

Die psychoanalytische Interpretation der der Erziehung von Jungen in islamisch geprägten Ländern und Familien verdeutlicht, dass es explizite Übereinstimmungen mit den von der frühen Kritischen Theorie postulierten autoritären bzw. sadomasochistischen Charakter gibt, die im Folgenden begründet werden soll. Wir sehen, dass der Charakter sich an die gesellschaftlichen respektive familiären Bedingungen angepasst hat, was besonders in den Extremfällen der Selbstmordattentäter dazu führt, dass diese sowohl am Leid anderer als auch am eigenem Leiden Lustgewinn erfahren. In dieser Situation kann das eigene Ich sich an die religiöse Autorität hingeben und gleichzeitig kann es andere zum Leiden zwingen.
Fromm beobachtete ferner, dass die Liebe zur Autorität aus der Furcht vor ebendieser entsteht, welche sich im Laufe der Zeit zu Ehrfurcht, Bewunderung und Liebe entwickelt. (vgl. Fromm 1936: 172) Der gleichzeitig unbewusst empfundene Hass auf die Autorität wird, wie bereits gezeigt, nicht gegen die eigene Autorität gerichtet, sondern gegen die Autoritäten anderer; insbesondere gegen die Götter anderer. (Freud 1921: 107) So ist in der islamischen Sozialisation die Trennung in Gläubige/Erlaubt und Ungläubige/Verboten nicht, wie im Vergleich zur westlichen Gesellschaft, verdinglicht worden, sondern hat nach wie vor noch in der religiösen Form bestand. (vgl. Adorno 1951: 332) Je stärker die eigene Ambivalenz gegenüber der eigenen Autorität, desto mehr Hass gegen eine andere Autorität liegt vor. (vgl. Fromm 1936: 173).  Der Mangel an Potenz sich gegen die eigene Autorität aufzurichten ist das negative Charakteristikum des autoritären Charakters. (vgl. ebd.) Da dieser Mangel sowohl auf das Denken, als auch auf das Handeln sich bezieht, wird damit die konkrete Gesellschaftsordnung aufrechterhalten.

„Die relative Undurchschaubarkeit des gesellschaftlichen und damit des individuellen Lebens schafft eine schier hoffnungslose Abhängigkeit, an die sich das Individuum anpaßt [sic!], indem es eine sado-masochistische Charakterstruktur entwickelt.“ (Fromm 1936: 174)

Aus diesem Grunde wird jederlei Kritik oder Selbsterkenntnis als narzisstische Kränkung wahrgenommen, die direkt Wut hervorbringt; (vgl. Adorno 1951: 333) was z.B. die wütenden Reaktionen auf jede Mohammed-Karikatur eindrucksvoll beweisen.
Der islamisch-sadomasochistische Charakter erlebt sein Verhältnis zur Welt als Schicksal, sodass das eigene real erfahrene Leid, sowie die angebliche Befreiung davon als Wille Gottes auftreten. So sehen sich Selbstmordattentäter als Verlängerung des göttlichen Willens und nicht etwa als eigenständige Subjekte. Für sie untersteht das menschliche Leben einzig und allein Gott; wer das anzweifelt, verübt ein Verbrechen. Im Masochismus liegt also der Teil der Charakterstruktur, der sich der Autorität unterwirft und die Unterwerfung gleichsam genießt; Im Sadismus liegt der offensive Teil der Charakterstruktur. Das Ausleben von Gewalt, Djihad und Selbstmordattentat ist nur deshalb möglich, weil die Autorität dies gestattet hat und weil die jeweilige Person der Überzeugung ist, im Namen der Autorität zu handeln. Realiter muss die Autorität Macht über die menschliche Gefühlswelt besitzen, d.h. sie muss in der Lage sein dem Subjekt sowohl Schutz und Sicherheit versprechen sowie,  Angst hervorrufen zu können.
Genau diese Macht wird durch die Strafen bzw. dessen Androhung erzeugt, denn durch die Beschneidung sind die Strafe und der Schmerz keine bloße Fantasie, sondern durchlebte Realität. Zusätzlich ist der strafende Gott ein permanentes Damokles-Schwert, dessen Strafe nach dem Leben einsetzt. Die göttliche Autorität hat für den islamisch-sadomasochistischen Charakter noch eine weitere Funktion: die der Moral. Durch das Ausbleiben des Ödipuskomplex und der damit mangelhaften Bildung des Über-Ichs, muss die Autorität als eine Moralische existieren. D.h. die Autorität muss den Anschein erwecken, dass sie nichts für sich selbst will und alles, was sie von den Unterworfenen fordert, selbst erfüllt. (vgl. ebd.: 183) Genau diese Funktion erfüllt Gott, erfüllen Mohammed und die religiösen Führer der islamischen Theologie. Da sie religiöse Führer sind undda das Über-Ich beim islamisch-sadomasochistischen Charakter kaum ausgeprägt ist, ist eben dieser Charakter anfällig für autoritäre Einstellungen, da bei diesen das eigene Über-Ich durch die Identifizierung mit dem Führer durch das Über-Ich des Führers respektive der Masse ersetzt wird, was von Djihadisten propagandistisch genutzt werden kann und wird.
Es bleibt also festzustellen, dass der islamisch-autoritäre Charakter genau wie der von der Kritischen Theorie herausgestellte autoritäre Charakter, dazu fähig ist, in neue Barbarei zuführen, zwischen ihnen aber dennoch eine Nichtidentität besteht. So können also westlicher und islamischer Autoritarismus nicht identisch gesetzt werden, denn diese würde die Spezifika der Entstehung, die besonders in der Sozialisation des Knaben und deren möglichen Endpunkt im Selbstmordattentat zum Vorschein kommen, des islamisch-autoritären Charakters leugnen, und so dessen Überwindung verhindern.

von Lucas Koch

Literatur:
Abraham, Karl (1924): Versuch einer Entwicklungsgeschichte der Libido auf Grund der Psychoanalyse seelischer Störungen, in: Gesammelte Schriften, Bd. 2. Fischer-Verlag, Frankfurt a.M., S. 32-102
Adorno, Theodor W. (1951): Die Freudsche Theorie und die Struktur der faschistischen Propaganda, in: Dahmer, Helmut (2013): Analytische Sozialpsychologie, Psychosozial-Verlag, Gießen
Charlier, Mahrokh (2017a): Geschlechtsspezifische Entwicklung in patriachalisch-islamischen Gesellschaften und deren Auswirkungen auf den Migrationsprozess, in: ders.: Ost-westliche Grenzgänge, Psychosozial-Verlag, Gießen, S. 43-64
Charlier, Mahrokh (2017b): Macht und Ohnmacht – Religiöse Traditionen und die Sozialisation des muslimischen Mannes, in: ders.: Ost-westliche Grenzgänge, Psychosozial-Verlag, Gießen. S. 65-78
Charlier, Mahrokh (2017c): Eine orientalisierte Version des Ödipuskomplexes, in: ders.: Ost-westliche Grenzgänge, Psychosozial-Verlag, Gießen, S.79-101
Freud, Sigmund (1921): Massenpsychologie und Ich-Analyse, in: GW XIII, S.71-161
Fromm, Erich (1936): Studien über Autorität und Familie. Sozialpsychologischer Teil, in: ders. (1989): Gesamtausgabe, Bd. 1, dtv, München, S. 141-206
Fromm, Erich (1941): Die Furcht vor der Freiheit, in: ders. (1989): Gesamtausgabe, Bd. 1, dtv, München, S. 217-394
Hassan, Nasra (2000): An Arsenal Of Believers – Talking to the „human bombs“, unter https://www.newyorker.com/magazine/2001/11/19/an-arsenal-of-believers (abgerufen am 01.04.18 um 12.22 Uhr)
Maciejewski, F. (2003): Der kleine Hans: Über das vergessene Trauma der Beschneidung, in: Psyche – Z Psychoanal, 57, 523-550
Mazaweh, Gehad (2005): Sterben und Lebenwollen, in: Zeitschrift für gruppenanalytische Psychotherapie, Beratung und Supervision, 15(1), 67-91
Mazaweh, Gehad (2011): Voller Hass auf das sadistische Über-Ich, unter http://www.taz.de/!336204/ (abgerufen am 22.03.18 um 12.16 Uhr)
Stein, Ruth (2005): Das Böse als Liebe und Befreiung: Zur psychischen Verfassung religiös motivierter Selbstmordattentäter, in: Psyche Z Psychoanal, 59, S.97-126
Wilting, Natascha (2007): Die Lust an der Unlust oder warum der Islam so attraktiv ist, in: Göllner, Renate, Radonic, Ljiljana: Mit Freud – Gesellschaftskritik und Psychoanalyse (2007), ca-ira, Freiburg, S. 143-168


[1] Selbstredend gibt es Unterschiede in der männlichen und weiblichen Erziehung, die allerdings erst an anderer Stelle ausformuliert werden können.
[2] Der Gesellschaftscharakter beschreibt die Charaktereigenschaften, die die meisten Subjekte einer Gesellschaft gemeinsam haben, als Resultat der gemeinsamen Erfahrungen und Lebensweisen. Zu unterscheiden ist davon der Individualcharakter, der den kompletten Charakter eines Menschen beschreibt. Dies bedeutet, dass einzele Personen sich trotz identischen Gesellschaftscharakters unterscheiden (Fromm 1941: 379).

Praxis und Aktion. Über die Aufgabe kritischer Theorie und die Armut der 'Ideologiekritiker'

Hat man die zentralen Vertreter der Kritischen Theorie studiert, und von sog. ideologiekritisch bewegten hofft man, es erwarten zu dürfen, weiß man zur Ideologiekritik wenigstens zweierlei zu sagen. Das eine betrifft ihren Zweck, das andere ihren Modus.
In Horkheimers 1937 veröffentlichten, programmatischen Aufsatz „Traditionelle und kritische Theorie“ legte er den Grundstein für die spätere Entwicklung der sog. Frankfurter Schule, indem er die kritische Theorie systematisch von der dominanten positivistischen Sozialwissenschaft abgrenzte. Während der Positivismus methodologisch nur das Bestehende abbildet und zweckmäßig den totalitären Zusammenhang menschlichen Lebens im kapitalistischen Tauschprinzip verwischt. Entgegen dieser Ideologieproduktion bürgerlicher Wissenschaft muss kritische Theorie die Sphären menschlichen Lebens aus dem kapitalistischen Tauschprinzip heraus deduzieren, um den totalitären Zustand der spätkapitalistischen Gesellschaft offenzulegen. Dieses Erkenntnisinteresse band Horkheimer in einen politischen Zweck ein:

„Die Konstruktion des Geschichtsverlaufs als des notwendigen Produkts eines ökonomischen Mechanismus enthält zugleich den selbst aus ihm hervorgehenden Protest gegen diese Ordnung und die Idee der Selbstbestimmung des menschlichen Geschlechts, das heißt eines Zustands, in dem seine Taten nicht mehr aus einem Mechanismus, sondern aus seinen Entscheidungen fließen. Das Urteil über die Notwendigkeit des bisherigen Geschehens impliziert hier den Kampf um ihre Verwandlung aus einer blinden in eine sinnvolle Notwendigkeit.“[1]

Kritische Theorie sollte in den blinden Lauf der Geschichte eingreifen, indem die Adressaten der Theorie in die Lage versetzt werden, die kapitalistische Wirtschaft und die auf ihr begründete Kultur und Politik der Gesellschaft als Produkt menschlicher Arbeit zu erkennen. Diese Erkenntnis ist dialektisch insofern sich die Subjekte mit der Gesellschaft als Ergebnis ihrer Produkte identifizieren und gleichsam erkennen, dass Gesellschaft mit „außermenschlichen Naturprozessen, bloßen Mechanismen zu vergleichen ist,“[2] die Marx im Begriff des automatischen Subjekts zusammenführte. In der spätkapitalistischen Gesellschaft ist also Identität und Nichtidentität ineinander verflochten – und das herauszuarbeiten ist die besondere Herausforderung der Ideologiekritik. Sie operiert im Modus der Identitätskritik, die Adorno später in seinem Hauptwerk zur Negativen Dialektik ausbaute. Darin warnte er vor den Fallstricken der Kritischen Theorie infolge der inneren Widersprüche der Identitätskritik.[3] So heißt es über die Dialektik der Identitätskritik, dass sie

„mehr und anders als das Identitätsdenken, identifiziert. Sie will sagen, was etwas sei, während das Identitätsdenken sagt, worunter etwas fällt, wovon es Exemplar ist oder Repräsentant, was es also nicht selbst ist.“[4]

Eingebunden ist dieser Modus in den Zweck kritischer Theorie, die aus dem automatischen Subjekt des Kapitals geborene Notwendigkeit des historischen Geschehens nicht nur aufzuhalten, sondern in die Notwendigkeit „selbstbewusster Menschheit“ zu überführen, die „in einem Zustand ohne Ausbeutung und Unterdrückung“ waltet.[5] Dazu steht kritische Theorie auf dem festen Fundament der Marx‘schen Kategorien (Klasse, Ausbeutung, Mehrwert, Profit, Verelendung…). Denn sie sind „Momente eines begrifflichen Ganzen, dessen Sinn nicht in der Reproduktion der gegenwärtigen Gesellschaft, sondern in ihrer Veränderung zum Richtigen zu suchen ist.“[6]
Die Aufgabe kritischer Theorie ist deshalb eine zwingend praktische, denn mit der Kritik von Identität und Nichtidentität der kapitalistischen Totalität als Produkt menschlicher Arbeit ist die Erwartung verbunden, dass sie das Aufbegehren gegen das falsche Ganze anleitet und ihr die geschichtliche Notwendigkeit entreißt. Die Notwendigkeit der spätkapitalistischen Einrichtung der Welt mitsamt all ihrer Zumutungen und Verwerfungen fatalistisch grimmend zu akzeptieren, sich in ihr einzurichten, statt sie, gründend auf menschlicher Vernunft und kraft menschlicher Arbeit, zu verändern, fußt dagegen auf der „Unfähigkeit, die Einheit von Theorie und Praxis zu denken“[7].
Eine sich gegenwärtig als Wahrer Kritischer Theorie verstehende, politische Gruppe fürchtet in der Präsidentschaftskandidatur eines sozialdemokratischen Juden in den USA den Verlust US-amerikanischer Identität mit globalen Folgewirkungen, da mit der zukünftigen Präsidentschaft ein Rückzug der USA aus der globalen Sicherheitspolitik in den heimeligen Schoß des Isolationismus drohe, was Europa zwingen würde, das sicherheitspolitische Zepter in die Hand zu nehmen. Ganz aufgehoben im identifizierenden Denken fällt allzu leicht tautologisches in die Tastatur: „Europa kann nur dann Europa sein, wenn die USA die USA bleiben.“
Die Voraussetzung der Einheit von Theorie und Praxis in der kritischen Theorie ist die Existenz von Vernunft im vergesellschafteten Subjekt. Man kann nur noch hoffen.

von Benjamin W.

[1] Horkheimer, Traditionelle und kritische Theorie, in: Ders.: Vier Aufsätze, 1968, S. 45-46.
[2] Ebd., S. 28
[3] Andere Fallstricke freilich wurden als solche gar nicht wahrgenommen, etwa der Verlust des kritischen Potentials durch die Radikalisierung des Ideologischen. In der Konsequenz schlitterte die Kritische Theorie in Aporie, denn alle politischen Ziele seien ideologisch verstellt. Damit sich der ihr kritischer Sinn darin, „reine Negation im Bewusstsein zu bleiben.“ Ideologiekritik wurde zum Idealismus. Hans Heinz Holz, Die heilige Familie von Frankfurt, in: Ders.: Deutsche Ideologie nach 1945, 2003, S. 174.
[4] Theodor Adorno, Negative Dialektik, 1966, S. 150.
[5] Max Horkheimer, Traditionelle und kritische Theorie, in: Ders.: Vier Aufsätze, 1968, S. 55.
[6] Ebd., S. 37.
[7] Ebd., S. 47.

Pour mes amis

„The thought that I might for one moment abandon you is pure fantasy. You remain my most intimate friend, as I hope I remain yours. -K. Marx. P.S. – Your old man is a pig, to whom we shall write a swinish letter.“

Marx to Engels in Lausanne, 1848

Jesus hatte keine Freunde, starb er doch für die Freundschaft an und für sich. Montaigne hatte einen ganz besonderen Freund. Heute jedoch ist jede einer jeden Freundin. Dem tragischen Helden in Emmanuel Boves Roman würde es wohl deutlich leichter fallen, der Einsamkeit zu entfliehen. Aber Intimität, Geheimnis und Vertrautheit der aristotelischen Tugendfreundschaft haben sich dem Tauschprinzip zu beugen. Freundschaft korrumpiert. Es verbleiben nur kümmerliche Reste ihrer selbst. Allein der inflationär betriebene Gebrauch des Begriffs ‚Freundschaft‘ im digitalen Zeitalter, kündet vom Verfall seiner Bedeutung, wo doch jeder hinlänglich weiß, dass es im Grunde um das eigene Netzwerk, um die Nutzenfreundschaft, geht.
Die Positivisten sprechen allzu unaufgeregt vom Heil der ‚differenzierten Freundschaft‘ und machen sich einmal mehr der Verteidigung des Bestehenden schuldig. Wer sich diesem modus vivendi entzieht, hat zwar die Erkenntnis der Distanzierten, wird jedoch mit Einsamkeit gestraft. Die Reaktionären suchen ihr Heil und den Schutz vor gesellschaftlicher Kälte in der Anbetung der Familie, des Kollektivs sowie niederer Vergemeinschaftung patriarchaler Provenienz; sie wussten schon immer, dass es ‚früher doch besser war‘. Die Progressiven hingegen betreiben – trotz allem Wohlwollen – die stetige Verfeinerung des stahlharten Gehäuses. Eine erst noch zu antizipierende Vergesellschaftung hätte alle drei zu verachten und einzufordern, sich endlich aus dem Zustand der Vorgeschichte zu erheben.
Eine solche hätte Kollektiv wie Robinson gleichermaßen auf den Müllhaufen der Geschichte zu verbannen. Aber dazu wäre zumindest eine Renaissance der politischen Freundschaft von Nöten. Dagegen vom Ende der Geschichte zu sprechen, erscheint auch weiterhin wohlfeil und schal zugleich. Jedoch: Ab und an steht der Fluss der rastlosen Unvernunft und kündet von einem möglichen Vorschein auf etwas anderes; vom beinahe hoffnungslosen Widerstand gegen die Totalität des Tauschs und vom Schimmer einer nahezu unmöglich gemachten Spontanität. Marx und Engels sahen eine solche mitunter in der Liebe zwischen sich anschauenden Subjekten.
Allerdings sind es gar nur Augenblicke sich freundschaftlich und zärtlich verbundener Menschen, die in derartiger Negativität hin und wieder das aufwiegen können, was das falsche Ganze auszutreiben sucht. Bloß allerlei Alltag und die stetig drohende Deprivation für solch kurze Momente zu zerfetzen, ist das romantische Geschenk der Freunde – ähnlich dem der Liebe. Dass es mit derlei Romantik jedoch vorbei ist, können nur Diejenigen erahnen, die einen Sinn dafür haben, was es mit solch absurdem Habitus in der radikal entzauberten Welt noch auf sich hat. Alle ins Subjekt eingehämmerte Ironie zerfetzt jedoch allzu schnell jenen Vorschein und damit zugleich den platonischen Schutz vor Deprivation.

von Mathias Beschorner

Besprechung von Vojin Saša Vukadinović (Hg.): Freiheit ist keine Metapher. Antisemitismus, Migration, Rassismus, Religionskritik

Nach den Sammelbänden Feministisch streiten und Beißreflexe, die hohe Wellen in den Debatten linker, feministischer und akademischer Provenienz schlugen1, legt der Berliner Querverlag einen neuen Sammelband auf, der vom Historiker Vojin Saša Vukadinović herausgegeben wird und thematisch anschließt. Vukadinović war bereits als Autor an Beißreflexe beteiligt, tritt als scharfer Kritiker der Gender Studies und queerem Aktivismus hervor und schrieb unter anderem für Emma und Jungle World eingreifende Kritiken. Insgesamt zeichnet sich der Band durch ein breites Themenspektrum aus, das sich in 38 Beiträgen um die dem Untertitel entsprechenden Kategorien entfaltet und in 7 Sektionen untergliedert ist.

Vukadinović leitet den mit fast 500 Seiten recht voluminösen Essayband damit ein, dass „[d]er Genderfeminismus, der Antirassismus und der Queerfeminismus“ „Karikaturen geschlechter-, migrations- und sexualpolitischer Emanzipationsregungen“ seien. Diesen „pessimistischen Befund“ nimmt der Band „zum Ausgangspunkt, um über den Verrat an der Mündigkeit nachzudenken“. Das Spektrum der Kritik reicht von den nach „Euphemismen für Genitalverstümmelung“ suchenden AkademikerInnen über die fatale Deutungshoheit von Sprechort- und Kollektivierungskategorien, die mit der „Akzeptanz noch für die absurdesten Identitätsentwürfe“ zusammenfallen, bis zum Ausblenden und Marginalisieren von Antisemitismus. Weiter wird konstatiert, dass die Gender Studies unfähig seien, sich kritisch zum Jihadismus zu positionieren und dieser Disziplin nolens volens jeder „Bezug zur Wirklichkeit“ abhanden gekommen sei, während „Nizza, Berlin und Barcelona“ offenkundig die reale Wirkmächtigkeit des Jihadismus aufzeigten. Hierbei stellt Vukadinović Thomas Maul, Fathiyeh Naghibzadeh sowie Philippe Witzmann als Dissidenten heraus: diese ehemaligen Studenten der Gender Studies hätten bereits seit den 2000ern auf „Fehlentwicklung in Wissenschaft und Aktivismus“ hingewiesen, wobei deren „harsche, aber notwendige Kritik“ jedoch „ignoriert“ oder schlichtweg als Rassismus gebrandmarkt werde. Vukadinović schließt mit einer Klage an die der postmodernen Theorie entsprungenen Postcolonial und verwandten Gender Studies: so kennen diese nur noch „’Wahrheiten’“ und würden sich im höchsten Maß am „Verfall des Denkens“ beteiligen. Wie Vukadinović an anderer Stelle ausführt, ist ihm an einem Paradigmenwechsel gelegen, der sich wieder vermehrt aus der Tradition der zweiten Frauenbewegung speist.2

Wie Beißreflexe und Feministisch streiten trägt auch dieser Band berechtigte Kritik an postmodernen Ansätzen und am politischen Aktivismus queerer Provenienz vor. Dass hierbei kaum grundsätzlich neue Argumente verhandelt werden, könnte man nun wie folgt deuten: die linke (und feministische) Debatte scheint ziemlich auf der Stelle zu treten, was sich in der stetigen Veröffentlichung von einführenden Sammelbanden und Debattensammlungen, die zum überwiegenden Teil Zweitverwertung darstellen, äußert. Deshalb sei hier auch auf eine deutliche Schwäche verwiesen, die schon die beiden Vorgängerbände auszeichnete: Die AutorInnen jonglieren zwar mit Universalkategorien, wie Freiheit, Mündigkeit und Wahrheit, die jedoch großflächig unbestimmt und undialektisch sowie unvermittelt nebeneinander stehen bleiben. Gerade dadurch liefern sie sich allzu leicht einer (dann auch berechtigten) Kritik durch postmoderne Positionen aus. Manche Argumente erscheinen damit als verlängerter Arm Maulscher Restvernunft, die zwar mit Buzzwords wie ‚Freiheit‘ und ‚Mündigkeit‘ um sich wirft, aber längst zum bloßen Jargon verkommen ist – was nicht allzu untypisch für zeitgenössische Positionen aus dem Spektrum der antideutschen bzw. ideologiekritischen Szene ist. Das ist jedoch keine Absage an das Buch, denn en détail bleiben einige der darin verhandelten Beiträge, Ausführungen und Kritiken sehr lesenswert, andere hingegen sehr grobschlächtig und theoretisch vage, wodurch sich insgesamt ein ambivalenter Leseeindruck einstellt. Polemiker wie Maul und Witzmann mögen durchaus in einigen Punkten berechtigte Einwände erheben – darin ist auch Vukadinović zuzustimmen – dennoch bleibt auch zu reflektieren, dass Mauls ‚Kritik‘ an #MeToo unter anderem in die völlige Affirmation des Bestehenden umschlägt.3 Sehr kritikwürdig ist in diesem Kontext exemplarisch die Aussage Anastasia Iosselianis in dem Beitrag „Iranischer Imperialismus, antiimperialistischer Egalitarismus“, dass „Antiimperialismus – gleich welcher Form und Schule“ abzulehnen sei. Folgt man dem Sozialwissenschaftler Samuel Salzborn, so gälte es bezüglich Antiimperialismus und Antikolonialismus eher in „eine aufgeklärt-egalitäre, eine identitär-universalistische und eine – so paradox es klingen mag – selbst rassistische“ Variante zu unterscheiden.4

Es wäre zudem äußerst sinnvoll gewesen, den Queerfeminismus ideengeschichtlich richtig zu verorten. Erst so ließe sich eine überzeugende Fundamentalkritik auf die Füße eines historisch-materialistischen Feminismus stellen, dessen Begriff von Universalismus nicht so unvermittelt wäre, wie dies bisweilen in Freiheit ist keine Metapher erscheint. Einer der zentralen Blöcke von Freiheit ist keine Metapher „Sediment des Zeitgeists – Zur Popularität des unkritischen Werks von Judith Butler“, kommt dagegen allzu polemisch daher; so ersucht Marco Ebert in seinem Beitrag Butler mit Bezug zu Leo Löwenthal als Falsche Prophetin auszuweisen. Natürlich ist es geboten, Butlers Verharmlosungen und Relativierungen von Jihadismus im Allgemeinen sowie Hamas und Hizbollah im Besonderen scharf zu kritisieren, was auch Ebert in seinem Beitrag schafft; das gilt besonders für Butlers in der Theorie angelegten Antizionismus. Sie jedoch als ordinäre Faschistin vom Schlage eines William Dudley Pelley zu markieren, erscheint allzu leichtfertig und plump. Hinsichtlich Butlers Gender-Theorie sollte vielleicht auch noch einmal eine generelle Debatte darüber angestoßen werden, worin eigentlich tatsächlich ein kritischer Gehalt liegen könnte und was in der Rezeption daraus gemacht worden ist. Denn Butlers Theorie war von ihrer Stoßrichtung her explizit antiidentitär ausgerichtet und forderte nicht das Kategorisieren um des Kategorisieren willen; jedoch ist es im queeren Milieu längst Usus, Schublade um Schublade zu öffnen und jegliche Emotion, Charaktereigenschaft oder sexuelle Orientierung neu zu kategorisieren, was einem vom Anspruch her antiidentitären Denken ziemlich zuwider läuft. Dass ‚Freiheit‘ keine Metapher sei, bleibt insgesamt ob der begrifflichen Unschärfe zu vage, da genau dies laut dem – wohlgemerkt – didaktischen Anspruch des Titels verdient hätte, genauer ausgeführt zu werden. Kurzum: Dem Band fehlt damit deutlich ein einführender Beitrag, der sich den Kategorien von Freiheit, Mündigkeit, Wahrheit etc. annimmt. Man hätte diese in einer an Hegel angelehnten bestimmten Negation verorten können, die z.B. deutlicher den Ausschluss des ‚Weiblichen‘ zu fassen vermag und diese Begriffe und Kategorien im Sinne einer dialektischen Betrachtung beweglich und offen hält, anstatt sie – wie das partiell getan wird – so starr und ahistorisch gegen die zurecht kritisierten Dogmen der Postcolonial und Gender Studies anzuführen.

Dass das anders geht, zeigt der bereits 1993 erschienene Sammelband, Der Streit um Differenz, in dem es Seyla Benhabib im Streitgespräch mit Judith Butler überzeugend gelang, eine universalistische Position, die sich in der kritischen Theorie verortet, zu beziehen. Die dort verhandelten Debatten zwischen Benhabib, Butler, Drucilla Cornell und Nancy Fraser können als Gespräch zwischen zweiter und dritter Welle des Feminismus gelesen werden und haben an Aktualität nichts eingebüßt. Sich gegen das vermeintlich offenkundige Bündnis von Postmoderne und Feminismus wendend, welches zeitgenössisch noch stärker als 1993 ausgeprägt sein dürfte, fragte Benhabib: „Feminismus oder Postmoderne?“ und unterstrich, dass „die postmodernen Positionen nicht nur das Spezifische der feministischen Theorie auslöschen, sondern sogar das Emanzipationsideal der Frauenbewegung schlechthin in Frage stellen“.5 Gegen Postfeminismus und Poststrukturalismus Butlerscher Provenienz, die auf dem Tod des Subjekts, der Geschichte und aller Metaphysik beruhen, plädiert Benhabib darin für eine schwache Version dieser „Tode“, die zugleich versucht das politische Subjekt der Frau zu erhalten. Wollte man dem selbst gesetzten didaktischen Anspruch daher gerecht werden, der explizit herauszuarbeiten hätte, was eben genau am Partikularismus und Kulturrelativismus postmoderner Provenienz und der damit verbundenen Absage an einen universalistischen Feminismus so problematisch sei, hätte man dies deutlicher anhand einer immanenten Kritik der feministisch-postmodernen Positionen herausarbeiten können. Recht unterbelichtet bleibt in Freiheit ist keine Metapher zudem das Konzept des Intersektionalismus. So bezieht sich Rocio Rocha Dietz in ihrem Beitrag zwar auf die Kritik durch die Sozialwissenschaftlerin Karin Stögner und streicht korrekt heraus, dass in der Trias von Race, Class und Gender der Antisemitismus nicht vorkomme bzw. lediglich unter der Kategorie Race subsumiert werde. Von Dietz ausgeblendet wird hierbei jedoch, dass Stögner sich vielmehr an einer rettenden Kritik des Intersektionalismus versucht, die Ideologien wie Antisemitismus, Sexismus und Rassismus in ihren Verstrickungen zur Gesamttotalität zu begreifen sucht und damit eine Vermittlung zur kritischen Theorie Horkheimers und Adornos anstrebt. Die Frage nach dem Intersektionalismus – gleich ob man sich affirmativ oder kritisch dazu positioniert – bleibt im Band kaum berührt, wenn dieser nicht nahezu vollends negiert und für unbrauchbar erklärt wird.6

Verbleibt der zeitgenössisch vorherrschende Begriff des Intersektionalismus tatsächlich unterkomplex, was das Verhältnis von Rassismus und Antisemitismus angeht, so weisen Sama Maani, Polina Kiourtidis und Hannah Kassimi mit Verweis auf die in der Tradition der kritischen Theorie stehenden Wissenschaftler Moishe Postone und Detlef Claussen auf eine notwendig vorzunehmende Unterscheidung beider Phänomene hin. Kiourtidis stellt hierbei auch heraus, dass es ein „Mythos“ sei, dass „zwischen Antisemitismus und Antizionismus“ eine „klare Trennung“ vorliege.

Schlussendlich hätte man auch Edward Saids Orientalism sowie dessen überbordende Rezeption in den Geisteswissenschaften, auf das mitunter weite Teile Butlers Argumentation rekurriert7, umfassend diskutieren müssen. Das Saidsche Gründungswerk des Postkolonialismus verfügt etwa in Ethnologie und Religionswissenschaft über maßgebliche Deutungshoheit und hat der politisch Linken über zahlreiche Multiplikatoren vermittelt die Fähigkeit zu einer Religionskritik – gleich ob im Voltaireschen, Feuerbachschen oder Marxschen Sinn – ausgetrieben.8 Bis auf wenige Ausnahmen – Ljiljana Radonić, Hannah Kassimi, Fathiyeh Naghibzadeh und Janina Marte – die sich rudimentär mit Said auseinandersetzen oder ihn als problematischen Angelpunkt der Postcolonial Studies zumindest benennen, lässt dies das Buch leider vermissen. Ungeachtet der mangelnden inhaltlichen Tiefe und diesen Versäumnis bleibt offenkundig, dass eine an den Postcolonial und Gender Studies angelehnte kulturrelativistische Haltung Kinderehen, Angriffe und Säureattacken auf Frauen sowie Vollverschleierung und Genitalverstümmelung schön redet bzw. gar verleugnet. Man reibt sich immer wieder verwundert die Augen über derartige Relativierungen und mag kaum glauben, dass sich als Feministen verstehende Subjekte derartig positionieren, aber diese Dinge sind evident und werden im Band anhand zahlreicher Beispiele veranschaulicht. Trotz der angesprochenen Schwächen soll hier eine Leseempfehlung stehen bleiben, die zugleich einfordert, sich umfassender mit den Ikonen der Gender und Postcolonial Studies auseinander zu setzen. Im Zentrum einer kritischen Auseinandersetzung mit postmodernen Dogmen hätten dabei unbedingt Saids Rassismus und „Israelkritik“ zu stehen, ohne das Theorem des Orientalismus vollends zu negieren, denn dieses gälte es im Sinne kritischer Theorie einem Zeitkern der Wahrheit nach entsprechend kritisch zu reflektieren. Die Kritik postkolonialer Theoriebildung im Allgemeinen und Saids sowie Butlers im Besonderen darf deshalb auch nicht darin umschlagen, die Geschichte des wissenschaftlichen Rassismus und Kolonialismus zu verleugnen. Das Problem besteht viel eher in der Dogmatisierung dieses Theorems sowie im Ausblenden Saids eigener rassistischer Perspektive, die alles westliche Denken negiert9 und jeglichen antiimperialistischen Bewegungen einen Freifahrtschein ausstellt, weil sie auf der Romantisierung des ‚Anderen‘ beruht. Ein gutes Beispiel für eine emanzipatorische Analyse liefert hingegen Dennis Schnittler in seinem Beitrag „Der ewige Neger“, in dem er eine umfangreiche materialistische Analyse des Rassismus und der Verschränkung von Produktivitätsgefällen mit kolonialer Geschichte vorlegt.

Positiv hervorzuheben sind auch die Beiträge, die sich mit dem Iran und dem Jihadismus beschäftigen. So wird der totalitäre Charakter des theokratischen Regimes der Iranischen Republik bündig und prägnant analysiert. Dieser zeichnet sich dadurch aus, dass er auf der Sharia fußend die Negation einer Gewaltenteilung legitimiert und bis ins äußerste Privatleben durchgesetzt wird sowie als oberstes Ziel die Auslöschung des Staates Israel inne hat. Der politische Islam wird dabei als nicht mit den Grundsätzen universeller Menschenrechte und persönlicher Freiheit vereinbar charakterisiert. Dies wird von vielen westlichen Linken aufgrund der Dogmen des Kulturrelativismus und Antiimperialismus geleugnet und fußt auf einem unterkomplexen Weltbild (Unterdrücker versus Unterdrückte). Das führt mitunter dazu, dass koloniale Vergangenheit islamisch-arabischer Herrschaft ignoriert wird, bedienen sich derartige Perspektiven doch einem strikten Okzidentalismus (Ian Buruma und Avishai Margalit), der ausschließlich den Westen, nicht aber das imperialistische Regime in Teheran zu betrachten in der Lage ist. Richtig ist auch, dass dem Weltbild des postmodernen Antiimperialismus und Kulturrelativismus folgend, der imperialistische Charakter des Iranischen Regimes ignoriert wird, was in der Unterstützung des Al-Quds-Tages sowie der BDS-Kampagne durch Linke gipfelt. Beides hat seine Ursprünge im Iran.10

Hinsichtlich des Jihadismus analysiert der Psychoanalytiker Maani die klagende „Weltsicht aller Islamisten“, die den Verlust von „Würde“ und „Ehre“ und damit den Machtverlust des politischen Islam fürchten; Maanis Deutung nach identifiziere und sehne sich der Islamist nach einem goldenen Zeitalter des „frühen Islam“, was seinen „Wut und seinen Hass“ „radikalisieren“ und an den USA, Israel, Juden sowie dem Kapitalismus ausagieren lasse. Das Gezeter um die Mohammed-Karikaturen dient Maani hierfür als negatives Exempel, dem er das Beispiel vom 2011 aufgeführten Theaterstück The Book of Mormon entgegenhält, was nicht ansatzweise zu ähnlichen Reaktionen geführt habe, da im kollektiven Bewusstsein der Mormonen der Ehrbegriff nicht annähernd so verankert sei; vielmehr habe die mormonische Kirche lakonisch wie folgt reagiert: „Sie haben das Stück gesehen, lesen sie jetzt – das Buch“. Es bleibt zu hoffen, dass sich linke Gesellschaftskritik reformulieren lässt, die sich gegen die Neue Rechte positionieren kann, ohne die Kritik der Religion der Kritik des Rassismus zu opfern. Dass „Freiheit weder westlich, noch östlich, sondern universal“ sei, wie es iranische Feministinnen zuletzt Anfang 2018 forderten, bleibt damit an den Marxschen kategorischen Imperativ zu koppeln: „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“. Freiheit ist keine Metapher kann bei allen angesprochenen Kritikpunkten durchaus einige Argumente hierfür liefern.

von Mathias Beschorner

Vojin Saša Vukadinović (Hg.)

Freiheit ist keine Metapher. Antisemitismus, Migration, Rassismus, Religionskritik

Querverlag zu Berlin 2018

489 Seiten

20 Euro

1 Z.B. an der Reaktion Judith Butlers und Sabine Harks, bei der die Kritik von Beißreflexe in die Nähe der Neuen Rechten gerückt worden ist, ablesbar: Vgl. Butler, Judith; Hark, Sabine: Die Verleumdung. Denunzieren die „Emma“ und die Verfasser des Buches Beißreflexe die Gender-Theorie? Judith Butler und Sabine Hark finden die Angriffe infam und wehren sich. In: Zeit: https://www.zeit.de/2017/32/gender-studies-feminismus-emma-beissreflex, 2. August 2017, abgerufen am 16.10.2018.

2 Vgl. Vukadinović, Vojin Saša: Butler erhebt „Rassismus“-Vorwurf. In: Emma: https://www.emma.de/artikel/gender-studies-sargnaegel-des-feminismus-334569, 28. Juni 2017, abgerufen am 16.10.2018.
3 Exemplarisch hierfür: Maul, Thomas; Schneider, David: Asexuelle Belästigung. Warum #MeToo ein großangelegter Übergriff auf die Residuen bürgerlicher Zivilisation ist. In: Bahamas: Nr. 78, 2018.
4 Siehe Salzborn, Samuel: Kampf der Ideen. Die Geschichte politischer Theorie im Kontext, Baden-Baden 2015, S. 113ff.
5 Siehe Benhabib, Seyla: Feminismus und Postmoderne. Ein prekäres Bündnis. In: Benhabib, Seyla; Butler, Judith; Cornell, Drucilla; Fraser, Nancy (Hg.): Der Streit um Differenz. Feminismus und Postmoderne in der Gegenwart, Frankfurt am Main 1993, S. 9 bzw. 13.
6 Vgl. Pintul, Naida: Regressive Lifestyles bewerben. Queerfeminismus – das aktivistische Verfallsprodukt des Gender-Paradigmas, im vorliegenden Sammelband.
7 Vgl. Butler, Judith: Am Scheideweg. Judentum und die Kritik am Zionismus, Frankfurt am Main 2013.
8 Siehe Weiß, Volker: Dröhnendes Schweigen. Früher war Religionskritik die vornehmste aller marxistischen Tugenden. Doch zum Glaubensterror des islamischen Fundamentalismus hat die westliche Linke nichts zu sagen. In: Zeit: http://www.zeit.de/2015/15/religionskritik-linke-fundamentalismus-islamismus. 23. April 2015, Abgerufen am 16.10.18.
9 Vgl. Salzborn: Kampf der Ideen, S. 34 und S. 149.
10 Vgl. Markl, Florian: Der Ursprung der Israel-Boykottbewegung. In: Sans Phrase, Zeitschrift für Ideologiekritik, Nr. 11, 2017, S.49ff.

Wenn wir taumeln Seit‘ an Seit‘

Rezension von: Andrea Ypsilanti – Und morgen regieren wir uns selbst…

Je näher die deutsche Sozialdemokratie dem Abgrund der Bedeutungslosigkeit kam, desto größer geriet das Spektakel, mit dem sie im Vorlauf der Bundestagswahlen aufwartete. Auf Steinmeier, der 2009 wohl selbst nicht wusste, warum er gegen die amtierende Bundeskanzlerin antritt folgte 2013 Steinbrück, der sich als Finanzminister sogar noch gegen den deutschen Minimalkeynesianismus der Konjunkturpakete zur Abschwächung der Wirtschaftskrise aussprach. 2017 sollte alles anders werden und man nahm den Vorsitzenden des Europaparlaments Martin Schulz in die Pflicht. Die Kampagnenmaschine nahm – erst recht mit der einstimmigen Wahl zum Parteivorsitzenden – Fahrt auf und bald las man vom Schulzzug ins Kanzleramt, wo der Gottkanzler schließlich schalten und walten werde. Das Spektakel hatte dabei freilich die Funktion zu verdecken, was die Nullformulierungen von der Gerechtigkeit und das Zynische rumeiern um die „Nachbesserungen an der Agenda 2010“ offensichtlich machten: das sich hinter den spektakulären Gegensätzen (zwischen Regierungschefin und Herausforderer) die Einheit des Elends verbirgt (vgl. Debord 1978: 11). Im Windschatten der sich daran anschließenden Sondierungen und Koalitionsverhandlungen leckten die sozialdemokratischen Parteien ihre Wunden. In der Linkspartei machte sich etwa der nationale Flügel daran, eine „neue linke Sammelbewegung“ zum Weg aus der Krise für die parlamentarische Linke zu erheben, wobei die führenden Vertreter/-innen Wagenknecht und Lafontaine lediglich die Hoffnung nährten, dass diese Sammelbewegung als eine Art nationalistische „Bad Bank“ in der politischen Linken fungieren könnte, abseits der tatsächlich progressive Kooperationen möglichen wären. Abgesehen von dieser mimétisme de Mélenchon regt sich indes auch in der SPD der Wunsch nach einem Kurswechsel – von der #NoGroko-Kampagne bis zur Plattform Pro-Initiative versuchen Parteimitglieder die Partei wieder „auf links“ zu drehen. Das Ziel teilen sie dabei mit dem schon länger bestehenden Institut Solidarische Moderne, einer NGO, die sich zum Ziel gesetzt hat den Brückenschlag zwischen außerparlamentarischen linken Bewegungen und dem sozialdemokratisch-grünen Parteienspektrum herzustellen.
Als Vorstandssprecherin des Instituts wirkt die ehemalige Landesvorsitzende des SPD in Hessen Andrea Ypsilanti, die mit dem nun vorliegenden „Und morgen regieren wir uns selbst“ ebenfalls in die Debatte um eine Neuausrichtung der SPD einwirken will. Grundlage ihrer Analyse ist dabei eine historische Auseinandersetzung mit den konzeptionell als Neoliberalismus gefassten politischen und ökonomischen Entwicklungen, der sich in seiner roll out Phase vermittelt über die catch phrases New Labour bzw. Neue Mitte auch in der Sozialdemokratie zum hegemonialen Projekt entwickelte. Dies schlägt sich im Aufbau des Buches dergestalt nieder, dass Ypsilanti in einem ersten Kapitel zunächst die politischen und ökonomischen Umwälzungen der 1980er und frühen 90er darstellt, wie sie nach Peck & Tickell (2002) als roll back Phase des Neoliberalismus bezeichnet werden. Sie zeichnet dabei ein Bild dieser Umwälzungen als geradezu revolutionärer Praxis (S. 21) die vermittelt über den Abbau bzw. den Niedergang des Wohlfahrtsstaats zu einer Prekarisierung breiter Teile der Bevölkerung geführt haben. Dies hat man freilich schon alles einmal an anderer Stelle gelesen – schließlich achtet die Autorin daran auch jeden linken Säulenheiligen zu referenzieren – von Adorno bis Žižek, Nachtwey und Eribon bis Naomi Klein und Oskar Negt. Über die selektive Schwerpunktsetzung im Kulturbereich und der vertieften Darstellung der Entsolidarisierungsporozesse gelingt es der Autorin jedoch den Eindruck eine Aneinanderreihung von einfachen Textzusammenfassungen zu vermeiden. Das zweite Kapitel widmet sich dann der Geschichte der Sozialdemokratie in Europa und im speziellen der Geschichte der SPD seit dem Ende des Kalten Kriegs. Von der Öffnung der Partei für das neu entstandene Yuppie-Milieu bis hin zum Schröder-Blair-Papier von 1999 zeichnet sie den letzten in der langen Reihe von Sündenfällen der deutschen Sozialdemokratie nach. Durch die Bezugnahme auf Anthony Giddens und seine Vordenkerrolle für die Entwicklungen der Mitte-Links Parteien und die rückblickende Einschätzung Nachtweys der neuen deutschen Sozialdemokratie als „Marktsozialdemokratie“ (S. 69) fehlt es auch diesem Kapitel nicht an konzeptioneller Tiefe. Ein anschließendes, kurz gehaltenes, drittes Kapitel trägt stärker biographische Züge und handelt von den Monaten vor und nach der hessischen Landtagswahl 1999, bei der Andrea Ypsilanti als Spitzenkandidaten der SPD angetreten war. Den Fokus legt sie dabei insbesondere auf ihr Konzept der solidarischen Moderne, mit dem die SPD in Hessen – gegen den marktfreundlichen Mittetrend der Bundesebene und so manchen Schüssen aus den eigenen Reihen für eine links-progressive Politik gegen einen heute nur noch als Karikatur denkbaren Roland Koch antrat. Letztendlich scheiterte ihre Wahl zur Ministerpräsidentin einer rotgrünen Regierung unter Tolerierung der Linkspartei am plötzlich entdeckten Gewissen einer Handvoll ihrer Parteigenoss/-innen. Auch wenn Ypsilanti an dieser frühen Stelle des Buches bereits versucht die Grundpfeiler einer Idee der „solidarischen Moderne“ nachzuzeichnen: Letztendlich ist das Kapitel wohl für die Leserinnen und Leser außerhalb Hessens weniger interessant. Im vierten Kapitel schafft die Autorin wieder den Sprung von der Narration hin zur Zeitanalyse und legt dabei den maßgeblichen Schwerpunkt auf die Wirtschafts- und Finanzkrise der Jahre 2007/08 und insbesondere die daran anschließenden Staatsschuldenkrisen in der EU. Ihr gelingt es dabei die Wirkmächtigkeit von Verblendungszusammenhängen in den Krisenjahren darzustellen, wenn sie beschreibt, wie die Bankenkrisen kommunikativ in Staatsschuldenkrisen transformiert wurden, und plötzlich die faulen Griechen, die renitenten Spanier und Portugiesen oder die bornierten Franzosen zu den Schuldigen an der Misere gemacht wurden (S. 91). Tiefere wissenschaftliche Diskussionen – etwa über die Austeritätspolitik als maßgebliche politische Artikulation der finanzdominierten Akkumulationsphase (vgl. Jessop 2016), oder, wenn wenige Seiten später mit Anspielung auf Poulantzas vom autoritären Wettbewerbsetatismus [im] […] Ausnahmestaat die Rede ist (S.103) auch aktuelle populistische Tendenzen als neoliberale Krisenbewältigungsstrategie zu begreifen (vgl. Demirovic 2018) – würden hier anschließend ermöglichen, auf andere Art über Potenzial und Limitationen sozialdemokratischer Kurswechsel und deren Aussichten zur Erkämpfung des Menschenrechts zu sprechen. Ypsilanti geht an dieser Stelle den konventionellen Weg, indem sie mit dem Begriff der kulturellen Hegemonie nach Gramsci argumentierend die Partei als – in eine Massenbewegung eingebettete – parlamentarische Vertretung der subalternen avisiert. Bei aller notwendigen kritischen Auseinandersetzung mit dieser Position (vgl. Agnoli 1990) überkommt einem beim Lesen Freude, wenn eine Sozialdemokratin erkennt, dass ihre Partei „den ursprünglichen Sinn des Begriffs der Reform zu einer faktischen Drohung gegen das eigene Milieu und die eigene Klasse gewendet hat“ (S. 142) oder mit Marcuse die Dauer des Arbeitstages als entscheidenden Faktor für die Unterdrückung des Lustprinzips bezeichnet (S.175). Das titelgebende abschließende Kapitel des Buches bleibt indes überraschend nebulös. Von einer, an der pragmatischen Lösungsfindung geschulten Berufspolitikerin hätte man vielleicht konkrete Entwicklungsstrategien für eine zukunftsfähige, demokratische Linke erwartet. Mit Rekurs auf Albert Camus beschwört die Autorin eine neue Lust auf Utopien, deren Erlangung die Prinzipien der französischen Revolution aufs Neue bedarf.
Mit „und morgen regieren wir uns selbst“ hat Andrea Ypsilanti ein Buch vorgelegt, mit dem es ihr gelingt eine auf den breiteren Lesekreis angelegte Analyse des Neoliberalismus mit einer kritischen Perspektive auf den aktuellen Zustand der deutschen Sozialdemokratie zu verbinden. Dabei weißt sie einen vertieften und aktuellen Quellenbezug auf. Auffällig sind an diesem Buch, das sich auf der Höhe des politischen Geschehens bewegt aber auch die Lücken und Leerstellen. Bereits vor Erscheinen des Buches war die öffentliche Debatte maßgeblich von Flucht, Migration und der Frage nach dem Umgang mit Rechtspopulismus dominiert. Nun ist es an und für sich angenehm 2018 ein politisches Sachbuch lesen zu können, das der scheinbaren Omnipräsenz von Ängsten und der rechtspopulistischen Inkarnation völkischer Befindlichkeit, der AfD nur eine Nebenrolle zuweist. Jedoch schließen sich an die von Ypsilanti aufgeworfenen Fragen zum Politischen im Neoliberalismus weiterführende an – etwa, wie oben bereits angedeutet, ob der grassierende Populismus als Strategie zur Bewältigung der Krise an Bedeutung gewinnt, oder inwiefern aktuelle Austeritätspolitiken rechten Ressentiments in die Hände spielen und damit dem Populismus Aufschub leisten. Wenn im Herbst dieses Jahres der neue hessische Landtag gewählt wird, tritt Andrea Ypsilanti nicht erneut als Kandidatin an. Einem zweiten Buch, das sich dieser Fragen annimmt sollte damit also nichts im Wege stehen.

von Simon Dudek

Agnoli, J. (1990): Die Transformation der Demokratie und andere Schriften zur Kritik der Politik. Freiburg:  Ça ira.
Demirovic, A. (2018): Autoritärer Populismus als neoliberale Krisenbewältigungsstrategie. In: Prokla 190, S. 27-42.
Jessop, B. (2016): The heartlands of neoliberalism and the rise of the austerity state. In: Springer, S.; Birch, K. & J. MacLeavy: The Handbook of Neoliberalism. London: Routledge, 410-421.
Peck, J. & A. Tickell (2002): Neoliberalizing space. In: Antipode, 34, 380-404.
Andrea Ypsilanti
Und morgen regieren wir uns selbst… Eine Streitschrift.
Westend Verlag: 2018
256 Seiten
18,00 Euro