Kritik der deutschen Feierlichkeiten zum Ende des Zweiten Weltkrieges am 8./9. Mai.

Eine der schockierenden Erkenntnisse, die sich bei der historischen Analyse der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, dem deutschen Griff nach der Weltherrschaft und dem im Holocaust verübten Zivilisationsbruch ergibt, ist die Tatsache, dass Hunderttausende von „normalen“ Bürgern mit Feuereifer und frohen Mutes am Vernichtungsfeldzug teilgenommen haben und bis zuletzt lieber mit der Waffe in der Hand starben, anstatt sich den einrückenden Alliierten zu ergeben. Lässt man diese Tatsache wirken, zwingen sich mitunter zwei Fragen auf. Erstens: Welche Umstände sorgten dafür, dass sich das banale Böse so losbrechen konnte und zweitens: Gab es eine Traditionslinie evtl. spezifisch deutschen Denkens, die vielleicht auch heute noch sowohl latent wie virulent ist?

Raus aus der Geschichte

Es gibt viele Arten, sich diesen Fragen nicht stellen zu müssen. Die billigste mag die Leugnung des Holocausts sein, die dauerhafteste seine Relativierung; die perfideste Art aber ist wohl die Identifikation mit den tatsächlich Befreiten oder den tatsächlichen Befreiern. Das mag verständlich sein, denn welcher Deutsche will schon akzeptierten, dass Opa und Oma eben Täter und nicht Opfer waren? Doch Demos, Sektempfänge und Partys zum 8./9. Mai, die unter dem Motto „Wer nicht feiert, hat verloren“ einladen, scheinen eher ein Angebot zu sein, sich aus der historischen Verantwortung zu stehlen, die den Nachfahren deutscher Täter aufgeladen wurde. Sie mögen gut gemeint sein, sind als Abgrenzung zur nationalaffirmativen Geschichtskultur auch sinnvoll, sachlich jedoch sind sie falsch und irreführend.

Immerhin bietet die Identifikation mit den Befreiern bzw. den Betroffenen nationalsozialistischer Gewalt die Möglichkeit, sich frei zu machen von dem damals durchaus kollektiv getragenen Vernichtungs- und Raubfeldzug deutscher Couleur. Anders als die Leugnung der deutschen Taten ermöglichen Feiern dieser Art die Möglichkeit individueller Reinwaschung und erneuern damit die Persilscheine der postnazistischen Phase im rituellen Gewand der Erinnerungskultur. Sie eröffnen zudem das Potential, die Taten der Hans-Jürgens und Utes von damals zu verteufeln, bürden aber nicht die Verantwortung auf, sich mit den jeweils eigenen latenten oder offenen, sicherlich aber historisch tradierten autoritären und antisemitischen Denkmustern auseinandersetzen zu müssen. Gleichsam verstellt die seit 1985 hegemoniale Erinnerungskultur zum 8. Mai als Tag der Befreiung die Kontinuitätslinien von erster und zweiter Geschichte des Nationalsozialismus. Damit bilden Feiern zum Ende des Zweiten Weltkrieges aber eben nicht das Gegenteil der kaum noch vorhanden Holocaustleugnung, sondern vielmehr ihr Komplement.

Postfaschismus statt Befreiung

Auch auf historischer Ebene wirkt sich der Feierritus eher als Geschichtsklitterung denn als kritische Geschichtspolitik aus – als ob die Deutschen 1945 nur darauf warteten, sich befreien zu lassen und endlich das Joch des NS-Regimes abzuschütteln. Zweifelsohne war der 8./9. Mai 1945 für die Welt ein glückliches Ereignis – für die Deutschen Zeitgenossen jedoch war es die eigentliche Katastrophe. Bis zum Vortag der Befreiung knöpfte mancherorts ein treuer Siegfried doch lieber seinen Nachbarn auf, als sich den Rotarmisten oder den Yankees in die Arme zu geben und bald nach der Befreiung konnte so manch ehemaliges Braun- und Schwarzhemd wieder einen angenehmen Bürosessel in Politik, Verwaltung und Wirtschaft in Anspruch nehmen. Bis weit in die sechziger Jahre saßen Nazis in staatlichen Behörden der Bundesrepublik. Sie saßen im Auswärtigen Amt und im Justizministerium, sie saßen im Bundestag und der Regierung. Sie saßen im bundesdeutschen Geheimdienst und im Gericht. Sie urteilen über ehemaligen Opfer, tradierten das NS-Unrecht und gab dem nazistischen Antikommunismus ein demokratisches Deckchen.

Für displaced persons, die sich noch in Deutschland aufhielten, hieß das oft auch, Personal an die Seite gestellt zu bekommen, das sie schon aus KZ kannten, oder beim Versuch der Ausreise ins noch nicht gegründete Israel wie auf der Rampe in Auschwitz behandelt zu werden1. Für Sozialisten und Kommunisten hieß der Tag der Befreiung der Beginn ihrer strafrechtlichen Verfolgung der demokratisch gewendeten politischen Justiz. Mit dem Verbot der KPD verloren ehemalige kommunistische KZ-Häftlinge oft auch ihren Anspruch auf finanziellen Ausgleich als Verfolgte des Regimes. Für Überlende der Vernichtungsaktionen gegen ‚unwertes Leben‘ hieß es, sich vom ehemaligen NS- heute Amtsartz untersuchen zu lassen, ob die Sterilisation auch wirklich sinnvoll war, um Entschädigungsanspruch zu erhalten. Die Täter kamen ungeschoren davon, lebten weiter, bauten den demokratischen Staat auf. Wenn Deutsche also heute feiern „like it`s 1945“, dann wird nicht nur die gegenwärtige Verantwortung beiseite geschoben – eine solche Form von Erinnerung ignoriert die Täter und relativiert die Kontinuität und Transformation des Faschismus. Sie redet der Ideologie der „Stunde Null“ das Wort.

Deutsches Gedenkmonopol

Zweifelsohne ist auch der 8./9. Mai ein Grund zu feiern – denn er bedeute für die Befreiten das sichere Ende des Holocausts und für die Befreier das Ende der Kriegsgräuel. Das Deutsche Reich ist zerstört und die faschistische Weltherrschaft wurde erfolgreich abgewandt. Das zentrale Motiv der Deutschen. die Vernichtung des europäischen Judentums, konnte gestoppt werden. Deswegen ist der 8./9. Mai ein Feiertag für alle Opfer der deutschen Gewalt und alle Alliierten – sowie deren Nachfahren.

Die mahnende Erinnerung an den Nationalsozialismus ist Teil der deutschen Identität geworden – so der damalige Bundespräsident Gauck bei seiner Rede zum 70. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz. Im Gedenken an die Barbarei wird sich der Deutsche seiner Lehren bewusst und erkennt sich als geläutert wieder, weswegen die deutsche Nation längst zum „Aufarbeitungsweltmeister“ wurde. Die Erinnerung an den 8. Mai als Tag der Befreiung erlaubt es, sich in die Reihe der Siegermächte und Opfer zu stellen. Eine die Opfer und Sieger affirmierende, die Täter jedoch ignorierende deutsche Geschichtspolitik avancierte längst zur geschichtskulturellen Hegemonie, die im Staat gewordenen Feierritus nicht nur das Gedenken und historische Deutung monopolisiert, sondern auch die Machtpolitik der Bundesrepublik legitimiert.

Damit hat das ritualisierte Feiern des 8./9. Mai aber seinen progressiven Gehalt verloren. „Wer nicht feiert, hat verloren“ – Partys treiben das deutschen Gedenkmonopols voran, statt die bundesdeutsche  Deutungshoheit über die Geschichte zu kritisieren. Dagegen im Hause des Henkers über die Täter zu reden, bleibt bei aller Wiedergutwerdung verstellt. Hier sollte antideutsche Geschichtspolitik ansetzen.

von Benjamin W.
[Der Artikel ist eine Weiterbearbeitung einer früheren Version von 2015]
1 So berichtet das Jüdische Gemeindeblatt für die britische Zone vom 13. September 1947 in Bezug auf Zwangsausschiffung der „Exodus“-Passagiere in der Nähe Lübecks; die „Exodus“ hatte Tel Aviv als Zielhafen, wo jüdische Holocaustüberlebende eine neue Heimstatt finden Wollten.

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