Alle sind Charlie, keiner ist Jude.

Nach den blutigen Anschlägen islamistischer Terroristen auf die Pariser Satire-Zeitschrift „Charlie Hebdo“ entwickelte sich innerhalb weniger Stunden eine erstaunliche, globale Solidaritätskampagne. In Karikaturen wurde der Angriff auf die Redaktion unter anderem mit dem Terroranschlag auf das World Trade Center verglichen und in der Gefühlswelt vieler Menschen wohl auch als ähnlich verstanden, denn:
Alle sind Charlie…
Der Angriff auf die antiklerikale Satire-Zeitschrift galt als Angriff auf einen zentralen Grundsatz westlicher Gesellschaften, und zwar der Meinungs- und Pressefreiheit. Deshalb solidarisierten sich viele unter dem Slogan „Ich bin Charlie – Je suis Charlie“. Diese Mimesis galt aber nicht der Trauer um die konkreten Opfer islamistischen Terrors, sondern der Vergewisserung, auf der richtigen Seite eines Werte- und Gesellschaftskonflikts zu stehen. Das ist der Grund, weshalb sich soziale Gruppen als „Charlie“ verstanden, die Zeitschriften dieser Art sonst als „Lügenpresse“ bezeichnen würden. Das ist auch der Grund, weshalb sich innerhalb der Presselandschaft mittlerweile ein Streit darum gebildet hat, wer alles „Charlie“ sein darf – und wer nicht. Sogar die Hamas und der Iran verurteilen den Anschlag auf die Redaktion von „Charlie Hebdo“ und faselten irgendetwas von der Meinungsfreiheit, freilich nicht, ohne einige „Aber“ einzubauen1.
…und keiner ist Jude.
Was sie nicht verurteilten, ist die Geiselnahme im koscheren Supermarkt – und auch in der Gedankenwelt der Deutschen scheint hierbei keine größere Beschäftigung notwendig. Keiner will Jude sein – obwohl doch eindeutig ist, dass die Geiselnahme gezielt in einem jüdischen Supermarkt stattfand und jüdische BürgerInnen stetes und häufiges Ziel islamistisch motivierter Gewalttaten sind.
 

vergleich christentum islam

Das liberale Bürgertum ging mittlerweile zu einer anderen Aufgabe über: Man müsse zwischen Muslimen, dem Islam und Islamisten trennen, so der Tenor, dürfe keinen Islamhass schüren und müsse bedenken, dass Gewalt und Islam nicht (immer) korrelieren. Zitiert werden unter anderem Gegenüberstellungen des KuKluxKlans und IS-Truppen. Anscheinend wird hier die unterschiedliche Tragfähigkeit und Relevanz beider Gruppen völlig ignoriert. Selbst während seiner Hochphase in der Mitte des 19. Jahrhunderts erreichte der KuKluxKlan nicht die Relevanz, den die IS-Terrororganisation heute besitzt. Wenn der Vergleich etwas zeigt, dann doch eher, dass sich mit dem Christentum in einer säkularisierten Gesellschaft kaum noch gewalttätiges Potential anhäufen lässt. Dazu bedurfte bereits der KuKluxKlan einer rassistisch grundierten Weltanschauung, stützte sich also auf die Dialektik der instrumentellen Vernunft.
Gebetsmühlenartig wird auch die Studie der Bertelsmannstiftung zitiert, nach der sich ein Großteil der Muslime in Deutschland zur Demokratie bekenne und sich als unschuldig angegriffen fühle.2 Angesichts der Tatsache, dass es Muslime in Querfront mit Linken und Rechten waren, die 2014 durch die Straßen deutscher Städte zogen und „Juden ins Gas“ skandierten – dass es Juden sind, die aus Angst um ihre Sicherheit zu Tauenden von Frankreich nach Israel auswandern, dass es jüdische Einrichtungen und Privatpersonen sind, die dieses Jahr mit rasanter Zunahme angegriffen wurden, ist ein Diskurs über „Islamophobie“ verstörend und ähnelt vielmehr einer typischen deutschen Tugend: der Umkehr von Opfer und Täter.
Das es zu keiner ernstzunehmenden Solidaritätskampagne mit den Opfern islamistischer Gewalt kommt, stattdessen aber ein Diskurs über Islamophobie geführt wird, ist kein gutes Zeichen für Jüdinnen und Juden in Deutschland. Während der Anschlag auf „Charlie Hebdo“ zu einem Angriff auf das westliche Wertesystem abstrahiert werden konnte und so zur Integration fast aller politischer Spektren diente, die sich auf der richtigen Seiten wähnen wollten, gelingt dies mit jüdischen Opfern nicht. Aus Sicht der Deutschen scheinen Juden kein integraler Bestandteil der Gesellschaft zu sein – ganz anders der Islam, denn der „gehört zu Deutschland.“
Wie damit umgehen
Zugegeben, als Nachfahre deutscher Täter ist es befremdlich, sich heute unter dem Slogan „Je suis juif“ mit den jüdischen Opfern islamistischer Gewalt zu solidarisieren. Schließlich bietet sich doch ein solcher Slogan auch dazu an, sich den Nachkommen der Opfer des Holocausts gleichzumachen – sich folglich von der historischen Schuld nicht nur zu läutern, sondern sogar reinzuwaschen. Solidarität mit den konkreten und zentralen Opfern islamistischen Terrors – nämlichen den Juden – ist allerdings zwingend. Dies bedeutet aber, eine Debatte um die ideologischen Grundlagen islamistischer Gewalt zu führen. Dies bedeutet dann tatsächlich auch eine Trennung in Muslime, Islam und Islamismus, jedoch nicht mit der Folge, den Islam zu entschuldigen, sondern mit dem Ziel einer klaren Kritik an den Islamisten, ohne „Aber“3 und vor allem: ohne die Gewalt an Jüdinnen und Juden mit dem Israelkonflikt nachträglich zu relativieren. Dies bedeutet dann schließlich die eindeutige Solidarität mit Israel als dem einzigen ernstzunehmenden Schutzraum für Jüdinnen und Juden. Schuld am islamischen Antisemitismus haben nicht die Juden, sondern die islamischen Antisemiten.

von Benjamin W.

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1Thomas von der Osten-Sacken, Wer so alles Charlie ist, in: Jungle World 11. Januar 2015

2Das ganze begann am Tag des Anschlags auf die Redaktion von „Charlie Hebdo“. In völliger Geschichtsvergessenheit wird die Islamophobie mit dem Antisemitismus des 19. Jahrhunderts gleichgesetzt, so als ob die Diskurse um Fremdheit sich seitdem nicht gewandelt hätten. http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2015-01/islamfeindlichkeit-bertelsmann-studie-hintergruende

3Ähnlich zeigt Deniz Yücel in der Taz, dass eine Kritik des Angriffs auch Charlie Hebdo, die in ein „Aber“ mündet, den Angriff nu rechtfertigt. Deniz Yücel, Jede Menge falsche Freunde, in: taz.de 8. Januar 2015

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