Eine der bürgerlichen Erzählungen zur Legitimierung kapitalistischer Herrschafts- und Produktionsverhältnisse ist der brutale Naturzustand Hobbs`scher Prägung, aus dem die Menschheit nur durch einen Vertragsschluss untereinander herauskam. Dieser Vertrag festigte erstens eine Minimalmoral und delegierte zweitens alle politische Macht an eine übergeordnete staatliche Instanz. Den Schwachen wurde so das Leben und die formale Freiheit, ihre Arbeitskraft auf den Markt zu werfen, geschenkt. Diesen Markt schufen die Starken, die nun ohne Angst, dass jemand nach ihrem Leben trachten könne oder die Schwachen sich gegen sie zusammenrotteten, ihr Eigentum ausbauten.
Es ist der Warenverkehr, der diesen Vertragsschluss stetig aktualisiert und in der deutschen Ideologie durch den Prozess der Konsensfindung seinen für das Individuum vernichtendsten Niederschlag erfuhr. Die Volksgemeinschaft als größeres Ganzes, das die Partikularinteressen hegelianisch in dreifacher Sicht aufhebe, zeigt sich nicht nur im Reichsarbeitsdienst, sondern auch in der konzertierten Aktion der 1960er-Jahre. Besonders im deutschen Denken wurde daher auch der „Dialog“ zum Allheilmittel, halluziniert als vermeintlich idealer Diskurs, bei dem auf Verständigung und Befriedung statt auf das Durchsetzen partikularer Interessen gezielt wird. Ob Ukraine oder Israel, Iran oder Syrien, der Dialogdeutsche kennt stets die Antwort – unbeachtet bleibt dabei, mit welchen Menschenfeinden man in den Dialog tritt und welche grausamen Ideologien man durch den Dialog legitimiert.
Es verwunderte daher nicht, dass die internationalen bürgerlichen Medien das Hervortreten des nationalen Dialog-Quartetts nach der arabischen Revolution von 2010/11 in Tunesien feierten. Das Quartett besteht aus einem Gewerkschaftsdachverband, einen Handels- und Industrieverband, der Tunesischen Liga für Menschenrechte und einer Vereinigung von Rechtsanwälten und steht für eine pluralistische, marktkonforme Demokratie sozialdemokratischer Prägung.
Das Quartett trat in einer äußert prekären Situation in Tunesien hervor, nämlich als die islamistische Ennhada, die enge Verbindungen zur ägyptischen Muslimbruderschaft und damit auch der Hamas hat, in ihrer Regierungsfunktion stark geschwächt war. Die Ankündigung von Sparmaßnahmen im Jahr 2013 (fünfprozentige Kürzung der öffentlichen Ausgaben sowie eine Lohnnullrunde für das Jahr 2014) traf auf Massenstreiks und Proteste der Arbeiter_innen, Angestellten und des Prekariats. Die Staatskrise in Ägypten 2013/2014 und die Absetzung der dortigen islamistischen Partei verdeutlichten der Ennhada zudem die möglichen Konsequenzen ihrer Austeritätspolitik. Der Naturzustand als Bürgerkrieg wurde vorhergesehen, den es berechtigterweise zu verhindern galt.
In diesem Moment trat das nationale Dialog-Quartett auf die politische Bühne und stellte einen sog. „nationalen Fahrplan“ vor, der eine Bändigung der Islamisierungspolitik vorsah und dafür die Kontrolle der tunesischen Arbeiter_innen sowie die Durchsetzung der Austeritätspolitik versprach. Als Kompromiss statt Konflikt bejubelte dies der Economist. Die Sorge um Streiks schien begraben.
Ein Parlament aus Technokraten, die der Ennhada nahe standen, führte die Interimsgeschäfte und dennoch konnte eine neue Verfassung mit Freiheitsrechten und der Gleichberechtigung von Mann und Frau durchgesetzt werden. Nach den ersten freien Wahlen in einem arabischen Land blieb die Technokratenregierung unter Ministerpräsident Habib Essid bestehen. Diese ist weiterhin auf Dialog und Verständigung aus, was sich am Umwerben der Ennhada zeigte, die als zweitgrößte Partei nach den Wahlen zunächst keine Minister stellen wollte.
Das Dialogquartett hat damit aber die islamistische Ennhada im Moment ihrer Krise den Rücken gestärkt und die Einhegung der Arbeiterschaft in die nationalen Interessen Tunesiens vorbereitet. Dabei zeichnete sich Tunesien anders als Ägypten durch eine viel stärkere Basis an sozialistischen und demokratischen Kräften aus. Eine Staatskrise hätte anders als in Ägypten daher zwar zur Absetzung der islamistischen Regierung, aber kaum zum Putsch einer Militärdiktatur führen müssen. In sozialdemokratischer Manier hat sich das tunesische Dialog-Quartett aber für die Volksgemeinschaft und für die Austeritätspolitik positioniert. Die islamistische Ennhada wurde nicht beseitigt, sondern wurde, dem „nationalen Fahrplan“ sei Dank, in das demokratische Tunesien überführt. Die berechtigten Forderungen der Arbeiter nach einem guten Leben wurden gebändigt und zurückgewiesen. Dafür werden sie nun mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Mehr muss man zur Expansion deutscher Ideologie nicht mehr sagen.
von Redaktion Distanz