Feministisch streiten oder: Zum Stand des zeitgenössischen materialistischen Feminismus

Besprechung von Koschka Linkerhand (Hrsg.): Feministisch streiten. Texte zu Vernunft und Leidenschaft unter Frauen

Allerorten herrscht Einigkeit darüber, dass mit dem derzeitigen Feminismus nicht mehr viel anzufangen ist. Der Queerfeminismus dominiert dieses Feld politischer Theorie und Praxis so allgegenwärtig, dass selbst diejenigen ihn oft notgedrungen ins Zentrum ihres feministischen Denkens stellen, die ihn ausdrücklich ablehnen – wenn auch ex negativo, in Form der Kritik. So notwendig diese Kritik auch ist: Die oft in einem Nebensatz eingestreute Bekundung, sich der „zweiten Frauenbewegung“ und/oder einem „materialistischen Feminismus“ verpflichtet zu fühlen, geht selten über dieses Bekenntnis hinaus und bleibt theoretisch vage, wie man zuletzt am Beispiel von dem (nichtsdestotrotz notwendigen) Sammelband Beißreflexe sehen konnte.[1] Dazu kommt, dass die wegweisende Theorieproduktion jenes vielbeschworenen ‚materialistischen Feminismus‘ schon einige Jährchen auf dem Buckel hat – man denke an Silvia Federicis Wages against housework (1975), Jessica Benjamins Bonds of Love (1988) oder Roswitha Scholz‘ Das Geschlecht des Kapitalismus (2000). Was also versteht man heute, im Jahr 2018, unter materialistischem Feminismus‘? Hier will Feministisch streiten von der in Leipzig lebenden feministischen Theoretikerin Koschka Linkerhand Antworten geben. Der Band, der 25 Beiträge von verschiedenen Theoretikerinnen und Aktivistinnen aus Leipzig und dem Rest Deutschlands versammelt, versteht sich zwar nicht primär als wissenschaftlich. Er schafft es aber, kompakt und pointiert einige grundsätzliche theoretische und praktische Eckpfeiler dessen, was ein universalistischer, materialistischer und an der Kritischen Theorie geschulter Feminismus im Jahr 2018 sein könnte, zu skizzieren und zusammenzubringen.
Gemäß seiner titelgebenden Leitmaxime stellt der Sammelband zentrale gegenwärtige Kampfplätze des Feminismus aus seiner eigenen, zum Queerfeminismus quer liegenden Perspektive vor. Die Kampfplätze werden in den Kapitelüberschriften angedeutet: Es geht um geschlechtliche Differenz, Sexualität/Körper/Sozialisation, Lohnarbeit, Bewegung, Sprache, Intersektionalität, Streit. Aufgrund der Prägnanz und des Überblickscharakters vieler Beiträge kann der Band mit gutem Gewissen als Einstiegslektüre empfohlen werden. Er mag als Streitschrift für Anhängerinnen der postmodernen Identitätspolitik dienen, eignet sich aber auch gut als theoretische Einführung für jene, die sich mit dieser nicht (mehr) identifizieren können und nach Alternativen suchen sowie für jene, die sich bereits mit materialistischer Gesellschaftskritik befasst haben und sich einen Überblick über feministische Theoriebildung verschaffen wollen. Angesichts der Fülle der verhandelten Themen und Theorien scheint es mir sinnvoll, zur näheren inhaltlichen Bestimmung vier übergeordnete Denkbewegungen hervorzuheben, die meines Erachtens einen aktuellen materialistischen Feminismus im Sinne der Autorinnen von Feministisch streiten charakterisieren und den Sammelband wie rote Fäden durchziehen.

  1. Das Ineinander von (Selbst-)Kritik und Theoriebildung

Ja, auch Feministisch streiten arbeitet sich an fragwürdigen bis gefährlichen Positionen innerhalb des Feminismus ab. Zu nennen wären etwa die Sprachpolitik, die Auflösung des politischen Subjekts Frau oder ein Kulturrelativismus, der antirassistisch sein will und doch selbst rassistisch und antisemitisch ist. Der Band gibt sich mit Kritik allein allerdings nicht zufrieden, sondern fragt dezidiert danach, wie eine universalistisch-materialistische Perspektive auf oben genannten Probleme, z.B. einer diskriminierenden Sprache etc. aussehen könnte. Damit kommt der Band einer Forderung nach, die Linkerhand in dem programmatischen Beitrag Angst und Aggressivität im Feminismus als „die wichtigste Bestimmung“ des gegenwärtigen materialistischen Feminismus benennt: nämlich sich Objekte jenseits seiner selbst zu setzen, d.h. über die permanente selbstreferentielle Kritik an der feministischen Theorie, die den gegenwärtigen Stand des Feminismus kennzeichnet, hinauszugehen und die Kritik wieder auf äußere Objekte zu richten. Die Tendenz im Queerfeminismus und in ‚betroffenheitsfeministischen‘ Bewegungen wie #metoo, sich gegen Widerspruch und Reflexion abzuschotten zugunsten eines möglichst sensiblen und rücksichtsvollen Umgangs untereinander, sowie Aggressionen primär gegen sich selbst zu richten – in Form autoritärer Verhaltens- und Sprachregulationen – deutet Linkerhand als Effekt der typisch weiblichen Sozialisation und damit als Fortsetzung geschlechtsstereotyper Angst- und Schulddynamiken. Feministinnen, so die richtunggebende These des Bandes, müssen entgegen dieser Sozialisation (wieder) lernen, ihre Aggressionen (sublimiert) gegen äußere Gegenstände feministischer Kritik, wie die kapitalistische Ökonomie, die Politik, Sexualität, Geschichte, Kunst, Sozialisation etc. zu wenden und – neben der Selbstkritik – dezidiert Streit zu suchen. Wie Formen des Streits aussehen können und warum auch die Form der Polemik nicht unangetastet bleiben sollte, wird so kontrovers wie erhellend in einem eigenen Kapitel diskutiert, aber auch an den einzelnen Beiträgen vorgeführt.
2.Die Wiederaneignung der vom Queerfeminismus besetzten Themen
In der Auseinandersetzung mit zentralen Objekten feministischer Kritik wird schnell deutlich, dass nicht wenige vom Queerfeminismus geradezu „besetzt“ sind. Das meint: Bestimmte Problematiken scheinen so eng mit der queerfeministischen Theoriebildung verzahnt, so tief von ihr durchdrungen, dass sie von Gegnerinnen derselben mit der postmodernen Theorie in eins gesetzt und daher vernachlässigt, einseitig aufgelöst oder als Probleme gar ausgeblendet oder geleugnet werden. Dies betrifft zum Beispiel die Themen Transsexualität bzw. trans Weiblichkeit, Sprachkritik, Körperpolitik à la Body-positivity und natürlich auch Rassismus und eine wie auch immer gedachte ‚Intersektionalität‘. Es ist das große Verdienst des Bandes, hier nicht in reflexhafter Abwehrhaltung einfache, entgegengesetzte Schlüsse zu ziehen und die Themen damit sich selbst bzw. der queerfeministischen Ideologie zu überlassen, wie dies sowohl in feministischen, als auch in linken oder postlinken Kreisen teilweise üblich ist. Beispiel: Weil der gegenwärtige antirassistische Feminismus an Islamapologie, Antizionismus, Kulturalismus etc.pp. krankt, wird sich von der Emma bis zur Bahamas gar nicht mehr mit Rassismus befasst oder schlimmer noch, es wird mit rechten Positionen kokettiert. Dagegen erhebt Feministisch streiten den Anspruch, das Problem selbst (z.B. die Verschränkung von Rassismus und Sexismus oder diskriminierende Sprache) wieder ernst zu nehmen, sie aus einer universalistisch-materialistischen Perspektive neu zu denken und etwa auch Konzepte wie das der Intersektionalität begrifflich zu ‚retten‘, ohne sie gegen andere Konfliktfelder auszuspielen oder in eine Hierarchie der Probleme einzuordnen. Das gelingt nicht immer gleich gut. Während es z.B. der Beitrag Das Unbehagen mit dem Sternchen des Antifaschistischen Frauenblocks Leipzig schafft, für eine materialistische Sprachkritik als ein Teil feministischer Kämpfe zu argumentieren, bleiben die Beiträge zu Rassismus und Feminismus sowie der Beitrag über trans Weiblichkeit im Austarieren all der Ambivalenzen ihrer Sujets streckenweise im Vagen und manchmal Floskelhaften („Widersprüche aushalten“) stecken. Auch wenn man nicht vergessen darf, dass beide geradezu Pionierarbeit leisten, wünscht man sich für kommende Bearbeitungen noch mehr analytische Schärfe.
3. Die Neuperspektivierung von klassischen linken Themen
Doch nicht nur um queerfeministisch besetzte Objekte wird gestritten, sondern auch um klassische linke Themen. Dass ein Feminismus, der sich materialistisch nennt, auf der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie fußt, liegt auf der Hand. Es ist die Feministinnen seit langem umtreibende Verquickung von Patriarchat und Kapitalismus, sowie die für den Neoliberalismus konstitutive Doppelbelastung von Lohnarbeit und Reproduktionsarbeit der Frauen, die hier im Fokus stehen. Sowohl die Beiträge von Charlotte Mohs als auch von Sabrina Zachanassian erarbeiten eine Theoriegeschichte feministischer Ökonomiekritik und machen diese anschlussfähig sowohl an neue Lesarten des Marxismus wie Fetischkritik und Kritische Theorie, als auch an die gegenwärtige wirtschaftliche und politische Lage der Frau in Europa. Dabei wird wahlweise nach konkreten Klassenkämpfen von Frauen, oder gesellschaftlichen Utopien gefragt. Das (wiederentdeckte) Interesse an Ökonomie, der Klassenfrage und einer materialistisch fundierten Perspektive auf politische Praxis treibt derzeit noch weitere progressive kommunistische Projekte um[2] – es bleibt zu hoffen, dass sich hier auch theoretische Synergien ergeben, wo sie nicht schon bestehen. Problematisch, weil weder mit dem sonst so dialektischen Vorgehen noch einem kritisch-theoretischen Verständnis von Aufklärung vereinbar, wird es allerdings dort, wo in der notwendigen Abkehr von queeren ‚safe spaces‘ implizit Gewalt gegen frauenverachtende Männer als legitime Praxisform gebilligt wird – wie im Beitrag des Autorinnenkollektivs „Zora Zobel findet die Leiche“ über weibliche Militanz. Bis in die kleinsten und unangenehmsten Widersprüche hinein reflektiert dagegen ist Koschka Linkerhands Wiederbelebung der feministischen Religionskritik. In ihrer scharfen und zugleich differenzierten materialistisch-universalistischen Kritik des Islam zeigt sie die Notwendigkeit feministischer Theorie für eine solche auf.
4. Die dialektische Verschränkung von Identitätspolitik und universalistischer Gesellschaftskritik
Der wohl wichtigste rote Faden des Bandes ist der Versuch einer dialektischen Vermittlung von Partikularismus und Universalismus, welche Emanzipationsbestrebungen seit jeher innewohnt: Auf der einen Seite, so die Autorinnen, sei es notwendig, sowohl das individuelle, als auch das politische Subjekt Frau, wiederum verstanden als Ineinander von Gleichheit und Differenz, zu stärken. Das heißt, dass in konkreten Fällen bis zu einem gewissen Grad Identitätspolitik betrieben werden muss. Gleichzeitig tut es wiederum not, Differenzen unter den Frauen, aber auch unter Frauen und Männern zugunsten einer universalistischen Perspektive, die die Emanzipation der Frau im Kontext des gesellschaftlichen Ganzen und der Befreiung der Menschheit im Allgemeinen einfordert, zurückzustellen.
5. Fazit
Der Vorteil des Bandes – einen tendenziell niedrigschwelligen und möglichst breitgefächerten Einblick in eine Vielzahl von Themen und Theorien zu geben – ist zugleich sein Nachteil. So kommen notgedrungen viele Themen zu kurz, werden nur angerissen oder zu knapp ausformuliert. Dazu zählt meines Erachtens besonders weibliche Sexualität und weibliches Begehren oder der Standpunkt des Mannes in der feministischen Theorieproduktion und –rezeption. Jetzt, wo eine gewisse Vielseitigkeit bewiesen wurde, bleibt zu hoffen, dass sich ein etwaiger Folgeband stärker in die analytische Tiefe wagt – und dass die Autorinnen bzw. Akteurinnen in Union mit etwa den kritischen Genossinnen der Beißreflexe tatsächlich einen – von Linkerhand einleitend postulierten – Paradigmenwechsel im zeitgenössischen Feminismus einleiten.

von Anja Thiele

Linkerhand, Koschka (Hrsg.). Feministisch streiten. Texte zu Vernunft und Leidenschaft unter Frauen.
Querverlag 2018
328 Seiten
16,90 Euro
 
[1] Einige Beiträge, wie etwa der Leitartikel von Patsy L‘amour laLove sind davon auszunehmen. Feministisch streiten wiederum wurde laut der Herausgeberin durch den ermutigenden Erfolg von Beißreflexe angeregt und erscheint auch im selben Verlag.
[2] Speziell für Leipzig wäre hier die translib – Communistisches Labor zu nennen. Ein bundesweites Beispiel wären die Salonkommunisten, aber auch das vorliegende Magazin.

Tierliebe und Menschenhass

Rund 300.000 Unterschriften erreichte die Online-Petition für den Hund Chico, der Anfang April seinen Halter und dessen Mutter getötet hatte. Die Causa des Hundes, der zwei Menschenleben auf dem Gewissen hat, führte auch außerhalb von social media zu Protesten. So berichtet der Spiegel von immerhin 80 Menschen, die in Hannover zu einer Mahnwache kamen: für den Hund, nicht für die getöteten Menschen. Nun ließe sich ja vermuten, dass es sich dabei schlicht um ein Phänomen großen Mitleids handelt. Dass Menschen noch einem Hund, der zwei Menschen umgebracht hat, zugestehen, selbst weiterzuleben, als Zeichen einer friedfertigen Gesellschaft lesen. Kurz, wer so gut zu Tieren ist, der ist auch seinen Mitmenschen gegenüber menschlich gesinnt. Doch die Rechnung geht nicht auf. Die Tierliebe wirkt nicht als Damm gegen Gewalt und Hass auch dem Menschen gegenüber. Ganz im Gegenteil ist so oft mit genau dieser vergesellschaftet, will, wer sich Tierliebe auf die Fahnen schreibt, nicht selten seinen Mitmenschen an den Kragen (1). Wie geht das zusammen? Continue reading „Tierliebe und Menschenhass“

Besprechung von: „Karl Marx in Paris, die Entdeckung des Kommunismus“ von Jan Gerber

Dass zum 200. Geburtstag von Karl Marx etliche Bücher erscheinen, die sich mit Leben und Werk Marx‘ auseinandersetzen ist kaum verwunderlich. Jedoch hat Marx bereits seit der Finanzkrise von 2008 nicht nur in der Linken, sondern auch in Wissenschaft und Feuilleton Hochkonjunktur. Jan Gerber legt mit Karl Marx in Paris dagegen ein Buch vor, das detailliert Marx‘ Aufenthalt in Paris – von Oktober 1843 bis Februar 1845 – rekonstruiert. Geht es den anderen um eine Reaktualisierung von Marx in bedenkenloser Übernahme seiner Begriffe, so geht es Gerber um eine kritische und historisierende Perspektive auf die Marxschen Begrifflichkeiten. So schreibt er, dass die „Diskussionen […] ohne jeden Hinweis auf das bereits stattgefundene Dementi mindestens eines Teiles der Marx’schen Grundbegriffe“ auskommen und die „im 19. Jahrhundert entwickelten Kategorien“ nolens volens „blindlings auf die Situation des 21. Jahrhunderts übertragen“ werden. Friedrich Pollocks These von 1941 – „In den Marxschen Begriffen stimmt etwas nicht“ – gibt den Ausgangspunkt des Buches vor, anhand dessen Gerber versucht zu analysieren, was Pollock – Mitarbeiter am Institut für Sozialforschung um Max Horkheimer – damit im Sinn gehabt haben könnte. Der Essay hat den Anspruch, aus dem Wust an Büchern der vergangenen Dekade herauszuragen und könnte helfen, zu beantworten, was von Marx im 21. Jahrhundert – entgegen allem neuerlichen Personenkult – tatsächlich aktuell wäre.
Implizit der Kritischen Theorie folgend stellt Gerber heraus, dass der Marxsche Geschichtsoptimismus schon mit dem „Ersten Weltkrieg in Mitleidenschaft geraten“ und sich spätestens vor dem „Zivilisationsbruch“ (Dan Diner) Auschwitz blamiere. Im Gegensatz zu traditionellen Marxisten – die nach 1945 den Klassenkampf nahtlos weiter propagierten – verdeutlicht er, dass die Marxschen Kategorien „bei der Erklärung des Nationalsozialismus“ versagen und „durch die braune Revolution, die Integration der Arbeiterschaft in das Regime und das Ausmaß der Verbrechen dementiert“ seien, da sich der Widerstand lediglich „auf das Konto kleiner Gruppen und Einzelner, die aus den unterschiedlichsten Bevölkerungsgruppen kamen“ rekrutierte. Eine an Marx inspirierte Gesellschaftskritik, die dem nicht Rechnung trüge, entledigte sich dem Anspruch einer materialistischen Perspektive auf Geschichte, so könnte man Gerbers Position fassen.
In dem 238 Seiten umfassenden Band historisiert der am Simon-Dubnow-Institut forschende Historiker anhand des gesellschaftlichen Klimas im Paris der 1840er die Herausbildung der Marxschen Kategorien Klasse, Proletariat und Geschichte, die zur „Einheit verschmolzen: Revolutionen wurden als die Schrittmacher der Geschichte begriffen, das Proletariat galt als revolutionäres Subjekt, dem eine historische Mission zukomme“. In vier Passagen, die Marx‘ Leben über Deutschland, Frankreich und Belgien überwiegend chronologisch verhandeln, gelingt es die Entwicklung vom liberalen „Radikaldemokraten“ der Rheinischen Zeitung – der nicht vom Klassenkampf sprach und hinsichtlich des Kommunismus 1842 noch polemisierte, dass auf diesen „mit Kanonen geantwortet werden“ solle – zum Klassenkämpfer des Kommunistischen Manifests zu zeichnen. Darüber hinaus macht Gerber knappe Einlassungen darüber, dass Marx selbst möglicherweise Zweifel an seiner postulierten Mission hatte, da „einiges dafür“ spreche, „dass Marx der Klasse am Ende seines Lebens nicht mehr dieselbe Bedeutung beimaß“. Ohne dies gesondert zu benennen scheint Gerber der These zu folgen, die eine Unterscheidung zwischen dem jungen Philosophen und dem reifen Kritiker der politischen Ökonomie annimmt.
Sehr detailliert erhellt der Essay den zeithistorischen Kontext sowie die biografischen Besonderheiten und das Klima im Paris des 19. Jahrhunderts und verdeutlicht, welch immensen Eindruck Paris auf den jungen Marx gehabt haben muss. Die Stadt erschien in den 1840ern als „Sehnsuchtsort der Verbannten und Revolutionäre“, die vor der Restauration im Nachklang des Wiener Kongresses von 1815 flohen. Ebenso wie viele Emigranten traf Marx auf eine Stadt, die sich zum „Zentrum gesellschaftskritischen Denkens“ entwickelte. Gerber charakterisiert das politische Klima damit, dass der „Glaube, die Welt aus den Angeln heben zu können […] zum guten Ton“ gehörte und Kommunismus für Marx als „aufgelöste[s] Rätsel der Geschichte“ erschien. Aufgrund der rasch wachsenden Bevölkerung wurde Paris zur Metropole und Symbol der uneingelösten Forderung nach Gleichheit, zum „Zentrum der Rede von der Klasse“, in dem die „soziale Frage auf der Straße“ lag, da sich die sozialen Unterschiede, Armut und Kriminalität deutlich zeigten. Während jedoch in weiten Teilen Europas die Restauration den politischen Kontext prägte, unterlag Paris – kosmopolitische „Hauptstadt der neuen Welt“ (Marx) – einem liberaleren Klima, das mehr polit-ökonomische Freiheit erlaubte und sich am Boom des Zeitungsmarktes zeigte. Anhand der Deutsch-Französischen Jahrbücher, in denen Marx noch nicht emphatisch vom Kommunismus sprach, macht Gerber hierbei auf die erstmalige Verwendung der Kategorien Klasse und Proletariat in Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung aufmerksam, die „fortan als Motor der Geschichte“ ausgemacht wurden. Stand und Klasse verwendete Marx noch synonym, da die gedankliche und analytische Schärfe noch fehlte.
Friedrich Engels – den Marx bis dato kaum kannte – stieß in Paris mit seinem Manuskript Zur Lage der arbeitenden Klasse in England zu Marx. Im Zuge Marx‘ weiterer Emigration nach Belgien verknüpfte er die in Paris gewonnenen Überzeugungen mit dem inzwischen zum guten Freund gewordenen Engels im Kommunistischen Manifest zum teleologisch zugespitzten Klassenkampf, gipfelnd in einer Revolutionserwartung. Die geschichtsphilosophisch aufgeladene Kategorie Klasse war jedoch, so verdeutlicht Gerber, schon vorher ein „Bewegungs-, Erwartungs-, und Beschleunigungsbegriff“, der „revolutionär, umstürzlerisch, zumindest aber dynamisch aufgeladen“ und zu einer „sozioökonomischen Ordnungskategorie“ wurde. Sie zielte auf Kritik sozialer Ungleichheit der neuen Ordnung und wurde von Frühsozialisten sowie Historikern namens Saint-Simon und Augustin Thierry – deren Werke sich Marx bereits gen Paris intensiv aneignete – als maßgebliches Prinzip in der Geschichte ausgemacht. Marx war dementsprechend bereits vor seiner Zeit in Paris von 1789 begeistert. Obwohl diese Begeisterung damals laut Gerber noch „unter demokratisch-republikanischen Vorzeichen“ stand, wurde die Revolution von 1789 zur „Blaupause zukünftiger Erhebungen“. Über diesen Rückgriff und Vermittlung zur Literatur der Französischen Revolution wandelte er sich im aufrührerischen Klima zum überzeugten Kommunisten.
In Paris und Belgien gelangten Marx und Engels zur gedanklichen Ausarbeitung des Historischen Materialismus, womit die Kategorie Proletariat sowie die Verelendungsthese unter dem Hegelianisch gefärbten Geschichtsoptimismus ausgestaltet wurden. Während Marx in Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung noch einem Klassenbegriff anhing, der „blutleer“ und „frei von Empirie“ gewesen sei, sei die Lücke durch Engels im Manifest gefüllt wurden. Engels kannte Verelendung, Kinderarbeit sowie Krankheit der arbeitenden Klasse vor allem aus seinen Erfahrungen aus seiner Zeit in Manchester, das den Industrialisierungsgrad anderer Regionen weit überragte. Die damit verbundene Annahme, der sich zuspitzenden Verelendung unterlag laut Gerber jedoch einer schiefen Empirie, da das, was Engels in Manchester beobachtete, nicht der allgemeinen Entwicklung entsprochen hätte. Zwar verkam Manchester in den 1840ern tatsächlich zum Epizentrum der Verelendung und hatte durchaus besonderen Charakter inne, jedoch erreichte die Verelendung der 1840er nie wieder dieses Ausmaß. Analog zum Symbol der Globalisierung der 1990er – Detroit – argumentiert Gerber, sei Manchester das Symbol der Industrialisierung in den 1840ern gewesen, woraus sich jedoch kein „unweigerliche[r] Vorschein auf die zukünftige Entwicklung“ schließen ließ und die Historie die Verelendungsthese widerlegte. Gerber spitzt zu, dass, wenn Engels das Manchester der 1850er erlebt hätte, der Charakter des Manifests anders hätte ausfallen müssen, da die „strikte Polarisierung“ von Bourgeoisie und Proletariat ausblieb. Wirft man einen Blick in das Vorwort zur Neuausgabe Zur Lage der arbeitenden Klasse in England von 1892, so scheint es Engels selbst zu sein, der Gerber hierbei recht gibt, da Engels dort seine empirischen Grundlagen sowie „jugendlichen Eifer“ und Teile seiner Prognosen von 1845 selbst hinterfragt. Gerber verdeutlicht zudem, dass es bis zum Ende des 19. Jahrhunderts keine strikte Ausbildung eines Proletariats gegeben hätte und die Produktionsverhältnisse noch eher vormodernem Charakter entsprachen, somit Manufakturen statt Fabriken, eher Handwerker denn Proletarier, die „nicht miteinander identisch“ gewesen seien. Gegen die These der Verelendung spricht außerdem, dass der Marxismus in den fortgeschrittensten Industrieländern – entgegen der Marxschen Erwartung– kaum über Einfluss verfügte, was insgesamt deutlich macht, dass die Marxschen Kategorien auf einer „Generalisierung räumlich und zeitlich begrenzter Phänomene“ beruhten. Marx selbst, so Gerber, sei aufgrund dessen möglicherweise von der „historischen Mission des Proletariats“ abgerückt, was ihn im Londoner Exil die „Verelendungstheorie zur Krisentheorie“ transformieren ließ.
Darüber hinaus positioniert sich Gerber kritisch gegenüber „kritischen Marxisten“, denen er einen Taschenspielertrick vorwirft, da sie Engels für den zum Dogmatismus geronnenen Marxismus-Leninismus verantwortlich machten. Engels komme dabei die Rolle des „großen Vereinfacher[s]“ zu, der dem „reflektierte[n] Dialektiker“ Marx entgegengestellt werde. Gerber unterstreicht dagegen, dass Engels‘ Anteil „kaum überschätzt werden“ könne und die Beziehung eher auf einer Symbiose beruhte: Dafür spricht, dass sich Engels lange vor Marx mit der ökonomischen Klassik Smiths und Ricardos beschäftigte, Marx von Engels verfasste Schriften „unter seinem Namen“ veröffentlichte und er den Anti-Dühring entgegen der These „kritischer Marxisten“ hoch bewertete. Zwar ist Gerbers Argumentation überzeugend, jedoch scheint es wiederum etwas verkürzt, dies auf folgende Entgegensetzung herunterzubrechen: „Marx lieferte dem ‚Historischen Materialismus‘ die Philosophie, Engels die Empirie“. Bezüglich des philosophischen Gehalts macht Gerber deutlich, dass sich unter der dem Hegelianismus verbundenen Vorstellung der List der Vernunft eine Teleologie und Theologie verbarg, die vom säkularisierten Fortschrittsoptimismus getragen wurde: der Weltgeist wurde durch den Klassenkampf abgelöst.
In toto erhellt der Band anhand der Debatten, die Marx mit Frühsozialisten und Anarchisten führte, die Entwicklung zum Klassenkämpfer. Im Gegensatz zum Frühsozialismus seien Marx‘ utopische Einlassungen recht spärlich, da sich lediglich in den Pariser Manuskripten sowie im Manifest Konkretionen finden lassen – mehr, „als er je wieder darüber schreiben sollte“. Im Kapital komme er sogar „ohne jeden Hinweis auf die Gestalt des Kommunismus“ aus. Hinsichtlich der Wirkungsgeschichte Marx‘ im realen Sozialismus argumentiert Gerber gar, dass es vielleicht besser gewesen wäre, hätte er mehr Aussagen getroffen, da sich bereits Arnold Ruge – Mitherausgeber der Jahrbücher – in einem Brief an Ludwig Feuerbach darüber beklagte, dass die „zukünftige Gesellschaft, von der in der Seine-Metropole gesprochen wurde“, „auf einen ‚förmlichen Polizei- und Sklavenstaat’“ hindeutete, was laut Gerber als „knappe Voraussage“ interpretiert werden könne. Da das Marxsche Werk zudem vom Eklektizismus seiner Zeit geprägt sei, streicht Gerber mit Verweis auf Max Horkheimer und Walter Ulbricht heraus, dass „sich mit Marx […] die widersprüchlichsten Dinge rechtfertigen“ ließen, denn es könne sowohl die „Diktatur des Proletariats“, als auch das „Bombenbasteln“ der RAF sowie Kritik an derlei mit Marx gerechtfertigt werden, da „[z]u fast jedem Marx-Zitat“ ein „Gegenzitat“ vorliege.
Bei aller kritischen Historisierung bleibt die Frage, was von Marx für das 21. Jahrhundert bliebe, offen, worin zugleich die Stärke des Buchs liegt, das sich nicht am neuerlichen Personenkult beteiligt, sondern Marx in seinem philosophischen Denken und Widersprüchen ernst nimmt. Insgesamt ragt Gerbers Essay nicht nur aus dem eingangs erwähnten Wust heraus, sondern könnte auch dazu beitragen, eine selbstkritische Perspektive linker Provenienz zu fördern. Bezüglich der zeitgenössischen Linken lässt sich Gerber lediglich einmal zu einer Polemik hinreißen, die etwas überzeichnet scheint und aus der ansonsten sachlich gehaltenen Diskussion heraussticht, da er markiert, dass es Marx nicht um ein „Elend für alle“ ging, sondern dieser „[i]n seinen besten Momenten […] den Lebensstil des untergehenden Adels als Blaupause für eine zukünftige Gesellschaft vor Augen“ hatte und die „Rede vom Glück“ noch nicht „für Hühner und Kühe reserviert“ gewesen sei.
Im Epilog umreißt Gerber Aspekte jüngerer Debatten und verweist anhand André Gorz‘ Adieux au prolétariat und Didier Eribons Retour à Reims auf die von der Linken vollzogene Abwendung sowie Verachtung des Proletariats – das zunehmend zur Rechten tendiere – womit zugleich ein Abschied der sozialen Frage einhergehe, was Gerber deutlich moniert. Seine abschließenden Einlassungen zur „schönen neuen Arbeitswelt“, in der die Imperative von Selbstoptimierung und Flexibilisierung herrschen, lassen sich konvergierend zur Analyse Luc Boltanskis und Ève Chiapellos deuten, die in Le nouvel Ésprit du Capitalisme aufzeigten, wie die Gesellschaftskritik der 68er vom Kapitalismus neoliberalen und postmodernen Zuschnitts aufgenommen wurde. Dieser „doppelten Misere“ und die damit verbundene Ausblendung der sozialen Frage könne jedoch nicht mit den Kategorien der Klasse und des Proletariats begegnet werden; möglicherweise jedoch mit Rekurs auf den ökonomiekritischen Marx, auch wenn die Kategorien Ware und Wert ebenfalls durch Auschwitz und das 20. Jahrhundert beschädigt seien.
Den eingangs erwähnten Anspruch die Marxschen Kategorien – Klasse, Proletariat, Geschichte – entgegen dem neuerlichen Marx-Boom zu historisieren, kann der Band zweifelsfrei einlösen. Die offen gehaltene Frage, was von Marx für das 21. Jahrhundert bliebe, könnte beantwortet werden mit einer Lesart, die sich nicht des Repertoires des Klassenkämpfers aus den 1840ern bedient, sondern Marx als Kritiker der kapitalistischen Produktionsweise – dem Untertitel des Kapitals entsprechend als Kritik der politischen Ökonomie – und als Denker einer Wertformanalyse sowie Fetischkritik ernst nähme. Hierfür stünde zuvörderst der erst kürzlich verstorbene Moishe Postone, der bereits 1993 mit Time, Labor and Social Domination: A Reinterpretation of Marx’s Critical Theory eine fundamentale Neuinterpretation vorlegte und sich entsprechend vom traditionellen Marxismus abgrenzte. In Postones an der Kritischen Theorie orientierten Lesart Marx‘ und der Abkehr der List der Vernunft, ließen sich Globalisierung, Elendsausweitung, Digitalisierung sowie Automatisierung von Produktion besser fassen – was auf einem solideren Marx als dem Klassenkämpfer der 1840er stünde. In Zeiten der Eindampfung bzw. Auslagerung des Sozialstaates ließe diese Lesart auch die soziale Frage wieder in den Fokus rücken, womit der von Kultur und Authentizität schwadronierenden kulturrelativistischen Linken – was die vom Konzept des Ethnopluralismus überzeugte Rechte ohnehin besser kann – kritisch begegnet werden kann.

von Mathias Beschorner

Jan Gerber: Karl Marx in Paris. Die Entdeckung des Kommunismus, Piper-Verlag, München 2018, 238 Seiten, 22 Euro.
 
 

Das Elend der Pluralen Wirtschaftswissenschaften

2017 feierte Das Kapital – das Hauptwerk von Karl Marx – den hundertfünfzigsten Geburtstag seiner Ersterscheinung. Man stelle sich einmal vor dieses Fest fiele in die Nachkriegsära Konrad Adenauers oder in die Kiesingers und die Autoren jener Blätter, die maßgeblich für die Meinungsbildung in der Bundesrepublik sind, schrieben sich die Finger wund ob der Frage, ob man denn noch etwas von Marx lernen könne oder ob er irgendwie Recht gehabt habe.[1] Das ist zwar eine nette Vorstellung, entbehrt aber jeder realen Möglichkeit. Denn außer bei einigen kritischen Studentinnen oder Studenten und deren entsprechend kritischen Lehrenden, K-Gruppen und später Autonomen wäre dieses Ereignis nicht auf Interesse, geschweige denn auf Liebe gestoßen. Nachdem aber bekanntlich 1991 die Geschichte zu Ende ging (Fukuyama) und es seit dem in der Wissenschaft nicht mehr um einen emphatischen Wahrheitsbegriff, der sich an seinen Gegenständen entwickelt, im Vorhaben mit bestimmter Erkenntnis etwas am Dasein der Menschen zu verbessern,[2] sondern um den Austausch von meist theoretischen Ansichten zum Ding des Interesses geht, scheint es kein Problem mehr zu sein, dass auch das Aufwerfen einer marxistischen Perspektive nicht mehr diesen linken Randerscheinungen der Gesellschaft vorenthalten bleibt, sondern eben auch von der Journaille, aber auch von sich kritisch dünkenden Studentinnen und Studenten erledigt werden kann, die Symptom eines gesellschaftlichen Umstands sind. Um was es hier in aller Kürze gehen soll, ist das Problem der Abstraktion von der wirklichen gesellschaftlichen Totalität der „kritischen Studierenden“, die sich in der Initiative Plurale Ökonomik engagieren, durch kursorische Darstellung der Kritik der politischen Ökonomie Marxens darzustellen. Continue reading „Das Elend der Pluralen Wirtschaftswissenschaften“

Weibergemeinschaft. Eigentumsrecht als ideologisches Moment des Zwangscharakters Prostitution.

Voller Überzeugung wirft Tess Hermann in der Frankfurter Rundschau in die Debatte zur Reform des Prostitutionsgesetzes von 2016 ein, dass die „Sexarbeit“ ein „Job wie jeder andere“ sei, denn es gehe schließlich darum, „über die Runden zu kommen“ und ebenso wie das Kellnern gebe es „Nachtschichten, zugerauchte Kneipen und alkoholisierte Gäste“. Lediglich die „Stigmatisierung“ der Prostitution durch den Gesetzgeber sei hier das Problem, da es „einer offenen Debatte über ihre Vor- und Nachteile [der Prostitution Anm. B.W.] im Weg“ stehe. Menschenhandel und Zwangsprostitution – andere Gewaltverbrechen werden gar nicht angerissen – seien dagegen locker durch eine Legalisierung in den Griff zu kriegen.[i] Der genannte Artikel wartet nicht nur mit dieser Lüge auf, denn eine im Auftrag der Europaparlaments erbrachte Studie fasst 2014 u. a. zusammen, dass in Ländern, die Prostitution legalisierten einen Anstieg des Menschenhandels zu verzeichnen ist,[ii] der Artikel benötigt diese Lüge, insofern er pars pro toto für die Ignoranz liberalen Denkens gegenüber der Arbeitsform Prostitution und der sie zeitigenden bürgerlichen Eigentumsverhältnisse steht.
Im Folgenden wird ein Beitrag zur Debatte über die Prostitution als Gegenstand feministischer Agitation vorgestellt, der Prostitution als geschlechtsabhängige Folge der bürgerlichen, kapitalistischen Vergesellschaftung und das Eigentumsrecht als ideologisches Moment zur Verschleierung der in der Prostitution angelegten materiellen Ungleichheit der Geschlechter fasst. Daraus folgert der Beitrag, das Ziel der Aufhebung der Prostitution als kommunistische Forderung gegen liberalen Feminismus aufrechtzuerhalten.
Geschlechterverhältnis und Erwerbsarbeit
Im Geschlechterverhältnis der Prostitution liegt der bestimmende Unterschied zu anderen Berufen, weshalb die Kritik der Prostitution sich nicht in der formalen Kritik der Produktionsverhältnisse erschöpft. Durchaus – so mag man einwenden – gibt es eine Vielzahl geschlechtsspezifischer Berufszweige, etwa die Care-Arbeit, das Frisör- oder das Bauhandwerk. Geschlechtsspezifische Berufe stehen aber formal allen Geschlechtern offen, da die Dienstleistung nicht an das Geschlecht gebunden und insofern frei austauschbar ist. Für die Käufer/-innen der Ware ist es formal irrelevant, welche Arbeitskraft den Warenwert erzeugte. Der Haarschnitt ist formal unabhängig davon, ob die ihn ausführende Arbeitskraft männlich oder weiblich ist.[iii] Dass es dennoch typisch „weibliche“ Berufszweige gibt, hat historisch-politische Gründe. Die politischen Schranken, die Frauen die Ausübung männlicher Berufe versagten, erodierten, wobei die ökonomischen Verhältnisse diesen Erosionsprozess vorantrieben. Als in der letzten Blütenphase fordistischer Arbeitsweise die Hausfrauenehe nicht mehr ein ausschließlich der bürgerlichen Kleinfamilie vorbehaltene Beziehungsform war und damit die finanzielle Stärke des männlichen Familienvorstands bewies, sondern auch von der Arbeiterklasse erreicht wurde, verlor die Hausfrau ihre Funktion als bürgerliches Statussymbol. Um weiterhin die Distanz zur Arbeiterklasse zu wahren, wurde die Arbeit der Frau zum chic. Die Arbeitslast erforderte und das Einkommen ermöglichte die Externalisierung der Reproduktionsarbeit in den Dienstleistungssektor, der durch sein Anwachsen auch einen Großteil der neuen, weiblichen Arbeitskräfte absorbieren konnte.
Frauenerwerbsarbeit ist jedoch kein Novum der postfordistischen Gesellschaft. Sowohl bezüglich des Frauenanteils von Erwerbspersonen als auch bezüglich der weiblichen Erwerbsquote schwankt die Frauenerwerbstätigkeit in sich industrialisierenden Gesellschaften – gemessen an Frankreich, Österreich, Großbritannien und Deutschland seit 1850 – zwischen 30 und 40 Prozent.[iv] Insbesondere zwei Faktoren prägten die Berufsfelder, die Frauen seit der Industrialisierung offen standen:Zum einen war die Aufsplittung in komplexe Arbeiten, die hohe Qualifizierung erfordern, und in vereinfachte, unqualifizierte Tätigkeiten maßgeblich, was sich am Fließband zeigte, an dem vor allem Arbeiterinnen standen; zum anderen standen die Berufszweige Frauen offen, die an die bereits von Frauen ausgeübten Haus- und Carearbeit anknüpften und zwar vom Dienstmädchen zur Volksschullehrerin.[v] Einer dieser Tätigkeitsbereiche ist die Prostitution.
Entgegen der geschlechtsspezifischen, aber dennoch vom Geschlecht abstrahierbaren Berufen stellt in der Prostitution die Ware selbst gerade geschlechtsbezogene Sexualität dar und ist an die Geschlechtlichkeit der Arbeitskraft gebunden. Das Spezifikum der Prostitution im Vergleich zu anderen Berufsfeldern ist, dass sie von einem Geschlecht ausgeführt werden muss, faktisch von Männern gekauft und von Frauen angeboten wird.[vi] Der Zuhälter kann seine Prostituierte, fällt sie aus, nicht selbst ersetzen. In europäischen Ländern kauften nach Erhebungen von 1998 und 2000 zwischen zehn und 20 Prozent der Männer bereits mindestens einmal Sex[vii].
Da diese Arbeit nicht nur geschlechtsspezifisch, sondern geschlechtsabhängig ist, tritt in der Prostitution die männliche Autorität über den weiblichen Körper, also das patriarchale Geschlechterverhältnis, als Vertrag den Geschlechtern gegenüber. Dieser Vertrag bricht männliche Autorität aber nicht, sondern legalisiert sie. Da die geschlechtliche Abhängigkeit der zum Markte getragenen Haut das wesentliche Spezifikum der Arbeitskraft ist, benötigt die Kritik des spezifischen Produktionsverhältnisses feministischen Gehalt, um das Besondere an der Prostitution zu begreifen.
Konsens und Ungleichheit
Das patriarchale Geschlechterverhältnis ist der Dienstleistung Prostitution eingeschrieben und beides durch das bürgerliche Eigentumsrecht als ideologisches Moment verschleiert. Die weibliche Sexualität ist in der Prostitution formal frei und die Prostituierte gleicht de jure dem Zuhälter und dem Freier. Mit der Prostitution erkauft sich der Mann allerdings das zeitweilige Recht auf die Sexualität der Frau, die wiederum ihre Sexualität für die Bedürfnisse des Mannes zur Warenform trimmt. Die Prostituierte muss sich von ihrer Sexualität entfremden, um sie – dem stummen Zwang des Marktes folgend – veräußern zu können. Da die weibliche Sexualität dem auf dem Markt vorherrschenden männlichen Bedürfnis angepasst, angeboten, verkauft und konsumiert wird, erfährt sie sich als Warenform. Die Ideologie der Eigentumsverhältnisse verschleiert diese Veräußerung der weiblichen Sexualität jedoch, indem die Sexualität als Eigentum noch der Frau zugeschrieben wird und vermeintlichen Konsens als Vertrag codiert. Dabei wurde ein Repertoire ideologischer Begriffe geschaffen, um das Verhältnis ungleicher Gleicher zu kaschieren. Formal frei und doch unfrei gehört die Sexualität der Prostituierten nicht mehr der Prostituierten selbst, was die Prostitution als die Negation selbstbestimmter weiblicher Sexualität nahelegt.
Im Manifest der kommunistischen Partei sprechend demzufolge Marx und Engels davon, dass die Weibergemeinschaft ein Verhältnis ist, „was ganz der bürgerlichen Gesellschaft angehört und heutzutage in der Prostitution vollständig besteht“[viii] Dabei versteht Marx unter Weibergemeinschaft eine materielle Situation, „wo also das Weib zu einem gemeinschaftlichen und gemeinen Eigentum wird“,[ix] dem die Ehe als Form des exklusiven Eigentums gegenübersteht. Die Frau – metonymisch für die von ihr veräußerte Sexualität – steht in der Prostitution allen Männern als Eigentum zur Verfügung. Gleichwohl wird der Verkauf der Sexualität durch das Zwangsverhältnis, geschaffen aus dem allgemeinen Zwang zum Verkauf der Ware Arbeitskraft und der ökonomischen Abhängigkeit der Frau vom Mann durch den, den Produktionsverhältnissen eingeschriebenen Geschlechterverhältnissen, für viele Frauen zur Notwendigkeit. Dazu bietet das Rechtsverhältnis das folglich notwendig falsche Bewusstsein an. Denn dieser bürgerlich-verbriefte Vertrag ist das Possenstück zu der Wahrheit, an den die Hoffnung auf die feministische Rede vom konsensualen Sex sich zu klammern versucht:
Einer Studie von Melissa Farley zufolge wurden zwei von drei der 130 in San Francisco befragten Frauen mindestens einmal vergewaltigt, während sie als Prostituierte arbeiteten. Diese Zahlen bleiben im internationalen Vergleich – folglich also bei verschiedenen Rahmenbedingungen – stabil.[x] Die Enteignung der Sexualität und die gleichzeitige Verschleierung durch die Ideologie der bürgerlichen Eigentumsverhältnisse – der Konsens durch Vertrag – tritt dann trotz der Rede vom „Job wie jeder andere“ zutage, wenn der Bundesgerichtshof 2001 feststellt, dass eine Prostituierte auch dann nicht als vergewaltigt anzusehen ist, wenn der Täter den Beischlaf „erzwingt“, sofern „zu deren Durchführung sich das Tatopfer zuvor gegen Entgelt freiwillig bereit erklärt hatte.“[xi] In solchen Fällen wird Prostitution zur legalen Vergewaltigung. Die eigene, weibliche Sexualität kann im bürgerlichen Eigentumsrecht als männliches Gemeingut erworben und darauf zugegriffen werden. Die Rede von der freien Sexualität qua Verkauf ist dementsprechend Ideologie.
Gekaufte Freundinnen
Die Enteigung weiblicher Sexualität durch den Markt zeigt sich auch in den praktischen und psychischen Folgen der Entfremdung. Sowie Entfremdung die Vorbedingung zur Umwandlung von Dingen in Waren ist, bedingt die Transformation des Sexus zur Ware die Abspaltung des Sexus von der personalen Identität der Prostituierten. Laut einer Studie von Melissa Farley, die knapp 900 Prostituierte in neun verschiedenen Ländern (darunter auch Deutschland) befragte, leiden zwei von drei Prostituierten unter posttraumatischer Belastungsstörung. Etwa 89 Prozent der Befragten wollen der Prostitution zwar entkommen, sehen aber keine andere Möglichkeit, um zu überleben [xii] In einer konzeptionellen Studie schlussfolgert Farley aus den bisher vorliegenden qualitativen und quantitativen Studien zur psychischen Verfassung von Prostituierten:

In all prostitution there is commodification of the woman’s body. This commodification often results in internalized objectification, where the prostituted woman begins to see sexually objectified parts of her own body as separate from, rather than integral to her entire self. This process of internalized objectification leads to somatic dissociation, even in prostitution where there is no physical contact between the woman and the john. […] Most women report that they can not prostitute unless they dissociate. Chemical dissociation aids psychological dissociation, and also functions as analgesic for injuries from violence. When women in prostitution do not dissociate, they are at risk for being overwhelmed with pain, shame, and rage.[xiii]

Um den psychischen Folgen dieser Transformation zu entkommen, trainieren sich Prostituierte häufig Residuen zur Aufrechterhaltung personaler Integrität in Form körperlicher Schutzorte an. Bekannt ist beispielsweise das Verbot des Küssens. Indem der Kuss zum Akt intimer Zuneigung aufgeladen und dem Freier untersagt wird, schaffen sich Prostituierte unverletzte, jedoch auch kleine und fragile Grenzräume. Diese Grenzräume werden aber mit dem seit einigen Jahren florierenden „Girlfriend-Sex“ zerstört. Wie der Name andeutet, geht der Girlfriend-Sex darum, die Vorstellung von Intimität beim Freier herzustellen, wobei damit freilich nicht die alltägliche Sexualität einer schnöden romantischen Zweierbeziehung dargeboten werden soll. Weder muss sich der Freier darum sorgen, dass sein „Girlfriend“ vielleicht zu müde ist oder sie von zu vielen Alltagssorgen getrieben ist, als dass sie Sex haben könnte. Er muss sich auch nicht darum Sorgen, sein „Girlfriend“ mit seinen eventuellen Gelüsten zu verschrecken. Denn der Konsens wurde schon erkauft. Mit „Girlfriend-Sex“ wird eine „Dienstleistung“ angeboten, die davon lebt „eine Illusion von Unmittelbarkeit und Echtheit zu verkaufen, um die sie notwendig betrügen muss.“[xiv] Zur Aufrechterhaltung dieser Illusion müssen die zuvor gesetzten Residuen aufgelöst werden, da es gerade die mit Intimität besetzten Elemente der Körperlichkeit sind, die der Freier erwerben will und die, sofern sie dennoch Vorenthalten werden, die Illusion der Unmittelbarkeit platzen lassen.
Zwischen Paternalismus und Zynismus
Gegen die Abolitionsbestrebungen eingewandt wird erstens, dass eine Verbesserung der Arbeitsverhältnisse die unmittelbaren und mittelbaren negativen Folgen der Prostitution für die Prostituierten mindern und den Beruf zu einem erträglichen umgestalten kann. Ein Verbot der Prostitution dränge Prostituierte zudem in die Illegalität ab. Die Abolitionist/-innen reduzierten zweitens Prostituierte auf reine Opfer und könnten Prostitution gar nicht als selbstbestimmten Berufsweg anerkennen. Insgesamt sei der radikalfeministische Abolitionismus nicht zur Solidarität mit, sondern nur zum Paternalismus gegenüber Prostituierten fähig.
Dem entgegen steht der Vorwurf des Zynismus angesichts der desaströsen Effekte der Prostitution auf die Prostituierten, der neun von zehn Prostituierten zwar entkommen wollen, aber nicht entkommen können, noch selbstbestimmtes Handeln erkennen zu wollen. Des Weiteren stützen sich Abolitionist/-innen in der Mehrheit auf das sog. Nordische Modell, das als wesentliches Element den Kauf von Sex (und nicht den Verkauf) illegalisiert. In Schweden gilt das Sexkaufverbot seit 1999, in Norwegen seit 2009. Folgen des Modells – das neben der Illegalisierung des Sexkaufs auch Aufklärungskampagnen bei Jugendlichen und Exitstrategien für Prostituierte enthält– sind durchweg positiv. Das Netzwerk Abolition2014 konstatiert nach Durchsicht der vorhandenen schwedischen und norwegischen Studien bezüglich der Folgen des Sexkaufverbots, dass die Zahl der Prostituierten zwar sank, Prostitution aber keineswegs in den Untergrund abwanderte. Der Menschenhandel ging zurück und die vor allem in Norwegen herrschenden Kartelle investierten aufgrund des unsicheren Marktes weniger in die Prostitution.[xv] Darüber hinaus werden Prostituierte durch das Sexkaufverbot gegenüber ihren Freiern in einen rechtlichen Vorteil gesetzt, da sie bei der Anzeige von im Rahmen der Prostitution begangenen Gewaltverbrechen keine Angst vor Repressalien befürchten müssen und z.B. angezeigte Vergewaltigungen – anders als in Deutschland – auch tatsächlich juristisch geahndet werden. Folglich erlaubt das Verbot des Sexkaufs bei gleichzeitiger Etablierung von Exitstrategien Prostituierten faktisch neue Handlungsmöglichkeiten, wodurch sie nicht nur formal, sondern auch materiell in die Möglichkeit versetzt werden, Entscheidungen hinsichtlich des Verkaufs ihrer Arbeitskraft zu fällen und ggf. den Beruf zu wechseln. Dem skandinavischen Modell liegt demzufolge eine Kritik der Prostitution zugrunde, die Solidarität mit den Prostituierten zwingend voraussetzt. Wenn Abolitionist/-innen, die das „Nordische Modell“ vertreten darum kämpfen, die große Mehrheit der Prostituierten überhaupt es in den Stand zu versetzen, eine Wahl zu treffen, läuft der Vorwurf des Paternalismus ins Leere. Freilich handelt es sich dabei um schnöde Realpolitik.
Insofern der liberale Feminismus auf die der Prostitution inhärenten materiell-geschlechtlichen Verhältnisse nicht reflektiert und den radikalfeministischen Abolitionsbestrebungen lediglich dem Vorwurf des bürgerlichen Moralismus entgegen hält, tappt er in die Falle, die ihr die Ideologie des bürgerlichen Eigentumsrechts stellt. Dagegen wäre zum einen festzuhalten, dass ein Feminismus, der es mit der Freiheit der Frau ernst meint, die rechtliche Position der Prostituierten nicht hofieren kann. Immerhin verbessert das Verbot des Sexkaufs eine die Stellung der Prostituierten, insofern es die Folgen der eigentumsrechtlichen Ungleichheit milder. Da die Prostitution sich jedoch auf dem eigentumsrechtlichen Unterschied gründet, müsse die konsequente Abschaffung der Prostitution die Forderung nach dem Kommunismus heißen, denn „[d]ie Prostitution beruht […] auf dem Privateigentum und fällt mit ihm. Die kommunistische Organisation also, statt die Weibergemeinschaft einzuführen, hebt sie vielmehr auf.“[xvi]

von Benjamin Walther

[i] Tess Herrmann, Ein Job wie jeder andere. Ein Einwurf zum neuen Prostitutionsgesetz, in: Frankfurter Rundschau 9.6.2016.
[ii] Studien für den Femm-Ausschuss: „Sexuelle Ausbeutung und Prostitution und ihre Auswirkungenauf die Gleichstellung der Geschlechter“, 2014. S. 10
[iii] Damit wird nicht widersprochen, dass in geschlechtsspezifischen Berufszweigen eine geschlechtsspezifische Arbeitskraft erwartet wird. Die Wahl eines geschlechtsuntypischen Broterwerbs zieht durchaus für die Arbeiterin oder den Arbeiter Probleme nach sich.
[iv] Josef Ehemer, „Innen macht alles die Frau, draußen die grobe Arbeit macht der Mann“. Frauenerwerbsarbeit in der industriellen Gesellschaft, in: Birgit Bolognese-Leuchtenmüller und Michael Mitterauer, Frauen-Arbeitswelten. Zur historischen Genese gegenwärtiger Probleme (= Beiträge zur historischen Sozialkunde 3). Wien 1993, S. 81-105. Hier: S. 82.
[v] Vgl. Josef Ehmer, Frauenerwerbsarbeit 1993, S. 86-87.
[vi] Das wird auch nicht dadurch nivelliert, dass auch Männer Sex verkaufen. Gekauft wird der Sex weiterhin von einem bestimmten Geschlecht.
[vii] Untersucht wurden Finnland, Russland (10-13 Prozent), Norwegen (11 Prozent), Niederlande (14 Prozent), Schweiz 19Prozent, die Stadt London (7-10 Prozent) und Spanien, wo die der Rate der Freier mit 39 Prozent weit über dem Durchschnitt liegt. Um die 70 Prozent Freier gibt es in Kambodscha und Thailand. Vergleiche zu den Zahlen; Hanny Ben-Israel, Levenkorn Nomi: The Missing Factor. Clients of Trafficked Women in Israel’s
Sex Industry. Jerusalem 2005, S. 14-15.
[viii] Karl Marx, Friedrich Engels: Manifest der kommunistischen Partei, S. 76.
[ix] Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, S. 534.
[x] Die Fallzahl liegt bei 130. 82 Prozent der Befragten wurden Opfer körperlicher Gewalt; 83 Prozent wurden mit einer Waffe bedroht. vgl. Melissa Farley, Howard Barkan: Prostitution, Violence, and Posttraumatic Stress Disorder, in: Women & Health, 27/3 (1998), S.37-49.
[xi] BGH vom 20.03.2001, Az. 4 StR 79/01
[xii] Melissa Farley et.al.: Prostitution and Trafficking in Nine countries. An Update on Violence and Posttraumatic Stress Disorder, in: Journal of trauma practice, 3/4 (2003), S. 33-74.
[xiii] Melissa Farley: Prostitution and the Invisibility of Harm, in: Women & Therapy 26 3/4 /2003), S. 247-280.
[xiv] Theodora Becker, Die Entdeckung der Ehrlichkeit. Von der Prostitution zur sexuellen Dienstleistung, in: Bahamas 68/2014, S.53-58, hier: 55.
[xv] Abolition2014: Mythbusting: Wenn man Sexkauf verbietet, wandert die Prostitution in den Untergrund, 25.01.2017
[xvi] Marx/Engels, Manifest, S. 76.