Wenn wir taumeln Seit‘ an Seit‘

Rezension von: Andrea Ypsilanti – Und morgen regieren wir uns selbst…

Je näher die deutsche Sozialdemokratie dem Abgrund der Bedeutungslosigkeit kam, desto größer geriet das Spektakel, mit dem sie im Vorlauf der Bundestagswahlen aufwartete. Auf Steinmeier, der 2009 wohl selbst nicht wusste, warum er gegen die amtierende Bundeskanzlerin antritt folgte 2013 Steinbrück, der sich als Finanzminister sogar noch gegen den deutschen Minimalkeynesianismus der Konjunkturpakete zur Abschwächung der Wirtschaftskrise aussprach. 2017 sollte alles anders werden und man nahm den Vorsitzenden des Europaparlaments Martin Schulz in die Pflicht. Die Kampagnenmaschine nahm – erst recht mit der einstimmigen Wahl zum Parteivorsitzenden – Fahrt auf und bald las man vom Schulzzug ins Kanzleramt, wo der Gottkanzler schließlich schalten und walten werde. Das Spektakel hatte dabei freilich die Funktion zu verdecken, was die Nullformulierungen von der Gerechtigkeit und das Zynische rumeiern um die „Nachbesserungen an der Agenda 2010“ offensichtlich machten: das sich hinter den spektakulären Gegensätzen (zwischen Regierungschefin und Herausforderer) die Einheit des Elends verbirgt (vgl. Debord 1978: 11). Im Windschatten der sich daran anschließenden Sondierungen und Koalitionsverhandlungen leckten die sozialdemokratischen Parteien ihre Wunden. In der Linkspartei machte sich etwa der nationale Flügel daran, eine „neue linke Sammelbewegung“ zum Weg aus der Krise für die parlamentarische Linke zu erheben, wobei die führenden Vertreter/-innen Wagenknecht und Lafontaine lediglich die Hoffnung nährten, dass diese Sammelbewegung als eine Art nationalistische „Bad Bank“ in der politischen Linken fungieren könnte, abseits der tatsächlich progressive Kooperationen möglichen wären. Abgesehen von dieser mimétisme de Mélenchon regt sich indes auch in der SPD der Wunsch nach einem Kurswechsel – von der #NoGroko-Kampagne bis zur Plattform Pro-Initiative versuchen Parteimitglieder die Partei wieder „auf links“ zu drehen. Das Ziel teilen sie dabei mit dem schon länger bestehenden Institut Solidarische Moderne, einer NGO, die sich zum Ziel gesetzt hat den Brückenschlag zwischen außerparlamentarischen linken Bewegungen und dem sozialdemokratisch-grünen Parteienspektrum herzustellen.
Als Vorstandssprecherin des Instituts wirkt die ehemalige Landesvorsitzende des SPD in Hessen Andrea Ypsilanti, die mit dem nun vorliegenden „Und morgen regieren wir uns selbst“ ebenfalls in die Debatte um eine Neuausrichtung der SPD einwirken will. Grundlage ihrer Analyse ist dabei eine historische Auseinandersetzung mit den konzeptionell als Neoliberalismus gefassten politischen und ökonomischen Entwicklungen, der sich in seiner roll out Phase vermittelt über die catch phrases New Labour bzw. Neue Mitte auch in der Sozialdemokratie zum hegemonialen Projekt entwickelte. Dies schlägt sich im Aufbau des Buches dergestalt nieder, dass Ypsilanti in einem ersten Kapitel zunächst die politischen und ökonomischen Umwälzungen der 1980er und frühen 90er darstellt, wie sie nach Peck & Tickell (2002) als roll back Phase des Neoliberalismus bezeichnet werden. Sie zeichnet dabei ein Bild dieser Umwälzungen als geradezu revolutionärer Praxis (S. 21) die vermittelt über den Abbau bzw. den Niedergang des Wohlfahrtsstaats zu einer Prekarisierung breiter Teile der Bevölkerung geführt haben. Dies hat man freilich schon alles einmal an anderer Stelle gelesen – schließlich achtet die Autorin daran auch jeden linken Säulenheiligen zu referenzieren – von Adorno bis Žižek, Nachtwey und Eribon bis Naomi Klein und Oskar Negt. Über die selektive Schwerpunktsetzung im Kulturbereich und der vertieften Darstellung der Entsolidarisierungsporozesse gelingt es der Autorin jedoch den Eindruck eine Aneinanderreihung von einfachen Textzusammenfassungen zu vermeiden. Das zweite Kapitel widmet sich dann der Geschichte der Sozialdemokratie in Europa und im speziellen der Geschichte der SPD seit dem Ende des Kalten Kriegs. Von der Öffnung der Partei für das neu entstandene Yuppie-Milieu bis hin zum Schröder-Blair-Papier von 1999 zeichnet sie den letzten in der langen Reihe von Sündenfällen der deutschen Sozialdemokratie nach. Durch die Bezugnahme auf Anthony Giddens und seine Vordenkerrolle für die Entwicklungen der Mitte-Links Parteien und die rückblickende Einschätzung Nachtweys der neuen deutschen Sozialdemokratie als „Marktsozialdemokratie“ (S. 69) fehlt es auch diesem Kapitel nicht an konzeptioneller Tiefe. Ein anschließendes, kurz gehaltenes, drittes Kapitel trägt stärker biographische Züge und handelt von den Monaten vor und nach der hessischen Landtagswahl 1999, bei der Andrea Ypsilanti als Spitzenkandidaten der SPD angetreten war. Den Fokus legt sie dabei insbesondere auf ihr Konzept der solidarischen Moderne, mit dem die SPD in Hessen – gegen den marktfreundlichen Mittetrend der Bundesebene und so manchen Schüssen aus den eigenen Reihen für eine links-progressive Politik gegen einen heute nur noch als Karikatur denkbaren Roland Koch antrat. Letztendlich scheiterte ihre Wahl zur Ministerpräsidentin einer rotgrünen Regierung unter Tolerierung der Linkspartei am plötzlich entdeckten Gewissen einer Handvoll ihrer Parteigenoss/-innen. Auch wenn Ypsilanti an dieser frühen Stelle des Buches bereits versucht die Grundpfeiler einer Idee der „solidarischen Moderne“ nachzuzeichnen: Letztendlich ist das Kapitel wohl für die Leserinnen und Leser außerhalb Hessens weniger interessant. Im vierten Kapitel schafft die Autorin wieder den Sprung von der Narration hin zur Zeitanalyse und legt dabei den maßgeblichen Schwerpunkt auf die Wirtschafts- und Finanzkrise der Jahre 2007/08 und insbesondere die daran anschließenden Staatsschuldenkrisen in der EU. Ihr gelingt es dabei die Wirkmächtigkeit von Verblendungszusammenhängen in den Krisenjahren darzustellen, wenn sie beschreibt, wie die Bankenkrisen kommunikativ in Staatsschuldenkrisen transformiert wurden, und plötzlich die faulen Griechen, die renitenten Spanier und Portugiesen oder die bornierten Franzosen zu den Schuldigen an der Misere gemacht wurden (S. 91). Tiefere wissenschaftliche Diskussionen – etwa über die Austeritätspolitik als maßgebliche politische Artikulation der finanzdominierten Akkumulationsphase (vgl. Jessop 2016), oder, wenn wenige Seiten später mit Anspielung auf Poulantzas vom autoritären Wettbewerbsetatismus [im] […] Ausnahmestaat die Rede ist (S.103) auch aktuelle populistische Tendenzen als neoliberale Krisenbewältigungsstrategie zu begreifen (vgl. Demirovic 2018) – würden hier anschließend ermöglichen, auf andere Art über Potenzial und Limitationen sozialdemokratischer Kurswechsel und deren Aussichten zur Erkämpfung des Menschenrechts zu sprechen. Ypsilanti geht an dieser Stelle den konventionellen Weg, indem sie mit dem Begriff der kulturellen Hegemonie nach Gramsci argumentierend die Partei als – in eine Massenbewegung eingebettete – parlamentarische Vertretung der subalternen avisiert. Bei aller notwendigen kritischen Auseinandersetzung mit dieser Position (vgl. Agnoli 1990) überkommt einem beim Lesen Freude, wenn eine Sozialdemokratin erkennt, dass ihre Partei „den ursprünglichen Sinn des Begriffs der Reform zu einer faktischen Drohung gegen das eigene Milieu und die eigene Klasse gewendet hat“ (S. 142) oder mit Marcuse die Dauer des Arbeitstages als entscheidenden Faktor für die Unterdrückung des Lustprinzips bezeichnet (S.175). Das titelgebende abschließende Kapitel des Buches bleibt indes überraschend nebulös. Von einer, an der pragmatischen Lösungsfindung geschulten Berufspolitikerin hätte man vielleicht konkrete Entwicklungsstrategien für eine zukunftsfähige, demokratische Linke erwartet. Mit Rekurs auf Albert Camus beschwört die Autorin eine neue Lust auf Utopien, deren Erlangung die Prinzipien der französischen Revolution aufs Neue bedarf.
Mit „und morgen regieren wir uns selbst“ hat Andrea Ypsilanti ein Buch vorgelegt, mit dem es ihr gelingt eine auf den breiteren Lesekreis angelegte Analyse des Neoliberalismus mit einer kritischen Perspektive auf den aktuellen Zustand der deutschen Sozialdemokratie zu verbinden. Dabei weißt sie einen vertieften und aktuellen Quellenbezug auf. Auffällig sind an diesem Buch, das sich auf der Höhe des politischen Geschehens bewegt aber auch die Lücken und Leerstellen. Bereits vor Erscheinen des Buches war die öffentliche Debatte maßgeblich von Flucht, Migration und der Frage nach dem Umgang mit Rechtspopulismus dominiert. Nun ist es an und für sich angenehm 2018 ein politisches Sachbuch lesen zu können, das der scheinbaren Omnipräsenz von Ängsten und der rechtspopulistischen Inkarnation völkischer Befindlichkeit, der AfD nur eine Nebenrolle zuweist. Jedoch schließen sich an die von Ypsilanti aufgeworfenen Fragen zum Politischen im Neoliberalismus weiterführende an – etwa, wie oben bereits angedeutet, ob der grassierende Populismus als Strategie zur Bewältigung der Krise an Bedeutung gewinnt, oder inwiefern aktuelle Austeritätspolitiken rechten Ressentiments in die Hände spielen und damit dem Populismus Aufschub leisten. Wenn im Herbst dieses Jahres der neue hessische Landtag gewählt wird, tritt Andrea Ypsilanti nicht erneut als Kandidatin an. Einem zweiten Buch, das sich dieser Fragen annimmt sollte damit also nichts im Wege stehen.

von Simon Dudek

Agnoli, J. (1990): Die Transformation der Demokratie und andere Schriften zur Kritik der Politik. Freiburg:  Ça ira.
Demirovic, A. (2018): Autoritärer Populismus als neoliberale Krisenbewältigungsstrategie. In: Prokla 190, S. 27-42.
Jessop, B. (2016): The heartlands of neoliberalism and the rise of the austerity state. In: Springer, S.; Birch, K. & J. MacLeavy: The Handbook of Neoliberalism. London: Routledge, 410-421.
Peck, J. & A. Tickell (2002): Neoliberalizing space. In: Antipode, 34, 380-404.
Andrea Ypsilanti
Und morgen regieren wir uns selbst… Eine Streitschrift.
Westend Verlag: 2018
256 Seiten
18,00 Euro
 
 

Feministisch streiten oder: Zum Stand des zeitgenössischen materialistischen Feminismus

Besprechung von Koschka Linkerhand (Hrsg.): Feministisch streiten. Texte zu Vernunft und Leidenschaft unter Frauen

Allerorten herrscht Einigkeit darüber, dass mit dem derzeitigen Feminismus nicht mehr viel anzufangen ist. Der Queerfeminismus dominiert dieses Feld politischer Theorie und Praxis so allgegenwärtig, dass selbst diejenigen ihn oft notgedrungen ins Zentrum ihres feministischen Denkens stellen, die ihn ausdrücklich ablehnen – wenn auch ex negativo, in Form der Kritik. So notwendig diese Kritik auch ist: Die oft in einem Nebensatz eingestreute Bekundung, sich der „zweiten Frauenbewegung“ und/oder einem „materialistischen Feminismus“ verpflichtet zu fühlen, geht selten über dieses Bekenntnis hinaus und bleibt theoretisch vage, wie man zuletzt am Beispiel von dem (nichtsdestotrotz notwendigen) Sammelband Beißreflexe sehen konnte.[1] Dazu kommt, dass die wegweisende Theorieproduktion jenes vielbeschworenen ‚materialistischen Feminismus‘ schon einige Jährchen auf dem Buckel hat – man denke an Silvia Federicis Wages against housework (1975), Jessica Benjamins Bonds of Love (1988) oder Roswitha Scholz‘ Das Geschlecht des Kapitalismus (2000). Was also versteht man heute, im Jahr 2018, unter materialistischem Feminismus‘? Hier will Feministisch streiten von der in Leipzig lebenden feministischen Theoretikerin Koschka Linkerhand Antworten geben. Der Band, der 25 Beiträge von verschiedenen Theoretikerinnen und Aktivistinnen aus Leipzig und dem Rest Deutschlands versammelt, versteht sich zwar nicht primär als wissenschaftlich. Er schafft es aber, kompakt und pointiert einige grundsätzliche theoretische und praktische Eckpfeiler dessen, was ein universalistischer, materialistischer und an der Kritischen Theorie geschulter Feminismus im Jahr 2018 sein könnte, zu skizzieren und zusammenzubringen.
Gemäß seiner titelgebenden Leitmaxime stellt der Sammelband zentrale gegenwärtige Kampfplätze des Feminismus aus seiner eigenen, zum Queerfeminismus quer liegenden Perspektive vor. Die Kampfplätze werden in den Kapitelüberschriften angedeutet: Es geht um geschlechtliche Differenz, Sexualität/Körper/Sozialisation, Lohnarbeit, Bewegung, Sprache, Intersektionalität, Streit. Aufgrund der Prägnanz und des Überblickscharakters vieler Beiträge kann der Band mit gutem Gewissen als Einstiegslektüre empfohlen werden. Er mag als Streitschrift für Anhängerinnen der postmodernen Identitätspolitik dienen, eignet sich aber auch gut als theoretische Einführung für jene, die sich mit dieser nicht (mehr) identifizieren können und nach Alternativen suchen sowie für jene, die sich bereits mit materialistischer Gesellschaftskritik befasst haben und sich einen Überblick über feministische Theoriebildung verschaffen wollen. Angesichts der Fülle der verhandelten Themen und Theorien scheint es mir sinnvoll, zur näheren inhaltlichen Bestimmung vier übergeordnete Denkbewegungen hervorzuheben, die meines Erachtens einen aktuellen materialistischen Feminismus im Sinne der Autorinnen von Feministisch streiten charakterisieren und den Sammelband wie rote Fäden durchziehen.

  1. Das Ineinander von (Selbst-)Kritik und Theoriebildung

Ja, auch Feministisch streiten arbeitet sich an fragwürdigen bis gefährlichen Positionen innerhalb des Feminismus ab. Zu nennen wären etwa die Sprachpolitik, die Auflösung des politischen Subjekts Frau oder ein Kulturrelativismus, der antirassistisch sein will und doch selbst rassistisch und antisemitisch ist. Der Band gibt sich mit Kritik allein allerdings nicht zufrieden, sondern fragt dezidiert danach, wie eine universalistisch-materialistische Perspektive auf oben genannten Probleme, z.B. einer diskriminierenden Sprache etc. aussehen könnte. Damit kommt der Band einer Forderung nach, die Linkerhand in dem programmatischen Beitrag Angst und Aggressivität im Feminismus als „die wichtigste Bestimmung“ des gegenwärtigen materialistischen Feminismus benennt: nämlich sich Objekte jenseits seiner selbst zu setzen, d.h. über die permanente selbstreferentielle Kritik an der feministischen Theorie, die den gegenwärtigen Stand des Feminismus kennzeichnet, hinauszugehen und die Kritik wieder auf äußere Objekte zu richten. Die Tendenz im Queerfeminismus und in ‚betroffenheitsfeministischen‘ Bewegungen wie #metoo, sich gegen Widerspruch und Reflexion abzuschotten zugunsten eines möglichst sensiblen und rücksichtsvollen Umgangs untereinander, sowie Aggressionen primär gegen sich selbst zu richten – in Form autoritärer Verhaltens- und Sprachregulationen – deutet Linkerhand als Effekt der typisch weiblichen Sozialisation und damit als Fortsetzung geschlechtsstereotyper Angst- und Schulddynamiken. Feministinnen, so die richtunggebende These des Bandes, müssen entgegen dieser Sozialisation (wieder) lernen, ihre Aggressionen (sublimiert) gegen äußere Gegenstände feministischer Kritik, wie die kapitalistische Ökonomie, die Politik, Sexualität, Geschichte, Kunst, Sozialisation etc. zu wenden und – neben der Selbstkritik – dezidiert Streit zu suchen. Wie Formen des Streits aussehen können und warum auch die Form der Polemik nicht unangetastet bleiben sollte, wird so kontrovers wie erhellend in einem eigenen Kapitel diskutiert, aber auch an den einzelnen Beiträgen vorgeführt.
2.Die Wiederaneignung der vom Queerfeminismus besetzten Themen
In der Auseinandersetzung mit zentralen Objekten feministischer Kritik wird schnell deutlich, dass nicht wenige vom Queerfeminismus geradezu „besetzt“ sind. Das meint: Bestimmte Problematiken scheinen so eng mit der queerfeministischen Theoriebildung verzahnt, so tief von ihr durchdrungen, dass sie von Gegnerinnen derselben mit der postmodernen Theorie in eins gesetzt und daher vernachlässigt, einseitig aufgelöst oder als Probleme gar ausgeblendet oder geleugnet werden. Dies betrifft zum Beispiel die Themen Transsexualität bzw. trans Weiblichkeit, Sprachkritik, Körperpolitik à la Body-positivity und natürlich auch Rassismus und eine wie auch immer gedachte ‚Intersektionalität‘. Es ist das große Verdienst des Bandes, hier nicht in reflexhafter Abwehrhaltung einfache, entgegengesetzte Schlüsse zu ziehen und die Themen damit sich selbst bzw. der queerfeministischen Ideologie zu überlassen, wie dies sowohl in feministischen, als auch in linken oder postlinken Kreisen teilweise üblich ist. Beispiel: Weil der gegenwärtige antirassistische Feminismus an Islamapologie, Antizionismus, Kulturalismus etc.pp. krankt, wird sich von der Emma bis zur Bahamas gar nicht mehr mit Rassismus befasst oder schlimmer noch, es wird mit rechten Positionen kokettiert. Dagegen erhebt Feministisch streiten den Anspruch, das Problem selbst (z.B. die Verschränkung von Rassismus und Sexismus oder diskriminierende Sprache) wieder ernst zu nehmen, sie aus einer universalistisch-materialistischen Perspektive neu zu denken und etwa auch Konzepte wie das der Intersektionalität begrifflich zu ‚retten‘, ohne sie gegen andere Konfliktfelder auszuspielen oder in eine Hierarchie der Probleme einzuordnen. Das gelingt nicht immer gleich gut. Während es z.B. der Beitrag Das Unbehagen mit dem Sternchen des Antifaschistischen Frauenblocks Leipzig schafft, für eine materialistische Sprachkritik als ein Teil feministischer Kämpfe zu argumentieren, bleiben die Beiträge zu Rassismus und Feminismus sowie der Beitrag über trans Weiblichkeit im Austarieren all der Ambivalenzen ihrer Sujets streckenweise im Vagen und manchmal Floskelhaften („Widersprüche aushalten“) stecken. Auch wenn man nicht vergessen darf, dass beide geradezu Pionierarbeit leisten, wünscht man sich für kommende Bearbeitungen noch mehr analytische Schärfe.
3. Die Neuperspektivierung von klassischen linken Themen
Doch nicht nur um queerfeministisch besetzte Objekte wird gestritten, sondern auch um klassische linke Themen. Dass ein Feminismus, der sich materialistisch nennt, auf der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie fußt, liegt auf der Hand. Es ist die Feministinnen seit langem umtreibende Verquickung von Patriarchat und Kapitalismus, sowie die für den Neoliberalismus konstitutive Doppelbelastung von Lohnarbeit und Reproduktionsarbeit der Frauen, die hier im Fokus stehen. Sowohl die Beiträge von Charlotte Mohs als auch von Sabrina Zachanassian erarbeiten eine Theoriegeschichte feministischer Ökonomiekritik und machen diese anschlussfähig sowohl an neue Lesarten des Marxismus wie Fetischkritik und Kritische Theorie, als auch an die gegenwärtige wirtschaftliche und politische Lage der Frau in Europa. Dabei wird wahlweise nach konkreten Klassenkämpfen von Frauen, oder gesellschaftlichen Utopien gefragt. Das (wiederentdeckte) Interesse an Ökonomie, der Klassenfrage und einer materialistisch fundierten Perspektive auf politische Praxis treibt derzeit noch weitere progressive kommunistische Projekte um[2] – es bleibt zu hoffen, dass sich hier auch theoretische Synergien ergeben, wo sie nicht schon bestehen. Problematisch, weil weder mit dem sonst so dialektischen Vorgehen noch einem kritisch-theoretischen Verständnis von Aufklärung vereinbar, wird es allerdings dort, wo in der notwendigen Abkehr von queeren ‚safe spaces‘ implizit Gewalt gegen frauenverachtende Männer als legitime Praxisform gebilligt wird – wie im Beitrag des Autorinnenkollektivs „Zora Zobel findet die Leiche“ über weibliche Militanz. Bis in die kleinsten und unangenehmsten Widersprüche hinein reflektiert dagegen ist Koschka Linkerhands Wiederbelebung der feministischen Religionskritik. In ihrer scharfen und zugleich differenzierten materialistisch-universalistischen Kritik des Islam zeigt sie die Notwendigkeit feministischer Theorie für eine solche auf.
4. Die dialektische Verschränkung von Identitätspolitik und universalistischer Gesellschaftskritik
Der wohl wichtigste rote Faden des Bandes ist der Versuch einer dialektischen Vermittlung von Partikularismus und Universalismus, welche Emanzipationsbestrebungen seit jeher innewohnt: Auf der einen Seite, so die Autorinnen, sei es notwendig, sowohl das individuelle, als auch das politische Subjekt Frau, wiederum verstanden als Ineinander von Gleichheit und Differenz, zu stärken. Das heißt, dass in konkreten Fällen bis zu einem gewissen Grad Identitätspolitik betrieben werden muss. Gleichzeitig tut es wiederum not, Differenzen unter den Frauen, aber auch unter Frauen und Männern zugunsten einer universalistischen Perspektive, die die Emanzipation der Frau im Kontext des gesellschaftlichen Ganzen und der Befreiung der Menschheit im Allgemeinen einfordert, zurückzustellen.
5. Fazit
Der Vorteil des Bandes – einen tendenziell niedrigschwelligen und möglichst breitgefächerten Einblick in eine Vielzahl von Themen und Theorien zu geben – ist zugleich sein Nachteil. So kommen notgedrungen viele Themen zu kurz, werden nur angerissen oder zu knapp ausformuliert. Dazu zählt meines Erachtens besonders weibliche Sexualität und weibliches Begehren oder der Standpunkt des Mannes in der feministischen Theorieproduktion und –rezeption. Jetzt, wo eine gewisse Vielseitigkeit bewiesen wurde, bleibt zu hoffen, dass sich ein etwaiger Folgeband stärker in die analytische Tiefe wagt – und dass die Autorinnen bzw. Akteurinnen in Union mit etwa den kritischen Genossinnen der Beißreflexe tatsächlich einen – von Linkerhand einleitend postulierten – Paradigmenwechsel im zeitgenössischen Feminismus einleiten.

von Anja Thiele

Linkerhand, Koschka (Hrsg.). Feministisch streiten. Texte zu Vernunft und Leidenschaft unter Frauen.
Querverlag 2018
328 Seiten
16,90 Euro
 
[1] Einige Beiträge, wie etwa der Leitartikel von Patsy L‘amour laLove sind davon auszunehmen. Feministisch streiten wiederum wurde laut der Herausgeberin durch den ermutigenden Erfolg von Beißreflexe angeregt und erscheint auch im selben Verlag.
[2] Speziell für Leipzig wäre hier die translib – Communistisches Labor zu nennen. Ein bundesweites Beispiel wären die Salonkommunisten, aber auch das vorliegende Magazin.

Tierliebe und Menschenhass

Rund 300.000 Unterschriften erreichte die Online-Petition für den Hund Chico, der Anfang April seinen Halter und dessen Mutter getötet hatte. Die Causa des Hundes, der zwei Menschenleben auf dem Gewissen hat, führte auch außerhalb von social media zu Protesten. So berichtet der Spiegel von immerhin 80 Menschen, die in Hannover zu einer Mahnwache kamen: für den Hund, nicht für die getöteten Menschen. Nun ließe sich ja vermuten, dass es sich dabei schlicht um ein Phänomen großen Mitleids handelt. Dass Menschen noch einem Hund, der zwei Menschen umgebracht hat, zugestehen, selbst weiterzuleben, als Zeichen einer friedfertigen Gesellschaft lesen. Kurz, wer so gut zu Tieren ist, der ist auch seinen Mitmenschen gegenüber menschlich gesinnt. Doch die Rechnung geht nicht auf. Die Tierliebe wirkt nicht als Damm gegen Gewalt und Hass auch dem Menschen gegenüber. Ganz im Gegenteil ist so oft mit genau dieser vergesellschaftet, will, wer sich Tierliebe auf die Fahnen schreibt, nicht selten seinen Mitmenschen an den Kragen (1). Wie geht das zusammen? Continue reading „Tierliebe und Menschenhass“

Besprechung von: „Karl Marx in Paris, die Entdeckung des Kommunismus“ von Jan Gerber

Dass zum 200. Geburtstag von Karl Marx etliche Bücher erscheinen, die sich mit Leben und Werk Marx‘ auseinandersetzen ist kaum verwunderlich. Jedoch hat Marx bereits seit der Finanzkrise von 2008 nicht nur in der Linken, sondern auch in Wissenschaft und Feuilleton Hochkonjunktur. Jan Gerber legt mit Karl Marx in Paris dagegen ein Buch vor, das detailliert Marx‘ Aufenthalt in Paris – von Oktober 1843 bis Februar 1845 – rekonstruiert. Geht es den anderen um eine Reaktualisierung von Marx in bedenkenloser Übernahme seiner Begriffe, so geht es Gerber um eine kritische und historisierende Perspektive auf die Marxschen Begrifflichkeiten. So schreibt er, dass die „Diskussionen […] ohne jeden Hinweis auf das bereits stattgefundene Dementi mindestens eines Teiles der Marx’schen Grundbegriffe“ auskommen und die „im 19. Jahrhundert entwickelten Kategorien“ nolens volens „blindlings auf die Situation des 21. Jahrhunderts übertragen“ werden. Friedrich Pollocks These von 1941 – „In den Marxschen Begriffen stimmt etwas nicht“ – gibt den Ausgangspunkt des Buches vor, anhand dessen Gerber versucht zu analysieren, was Pollock – Mitarbeiter am Institut für Sozialforschung um Max Horkheimer – damit im Sinn gehabt haben könnte. Der Essay hat den Anspruch, aus dem Wust an Büchern der vergangenen Dekade herauszuragen und könnte helfen, zu beantworten, was von Marx im 21. Jahrhundert – entgegen allem neuerlichen Personenkult – tatsächlich aktuell wäre.
Implizit der Kritischen Theorie folgend stellt Gerber heraus, dass der Marxsche Geschichtsoptimismus schon mit dem „Ersten Weltkrieg in Mitleidenschaft geraten“ und sich spätestens vor dem „Zivilisationsbruch“ (Dan Diner) Auschwitz blamiere. Im Gegensatz zu traditionellen Marxisten – die nach 1945 den Klassenkampf nahtlos weiter propagierten – verdeutlicht er, dass die Marxschen Kategorien „bei der Erklärung des Nationalsozialismus“ versagen und „durch die braune Revolution, die Integration der Arbeiterschaft in das Regime und das Ausmaß der Verbrechen dementiert“ seien, da sich der Widerstand lediglich „auf das Konto kleiner Gruppen und Einzelner, die aus den unterschiedlichsten Bevölkerungsgruppen kamen“ rekrutierte. Eine an Marx inspirierte Gesellschaftskritik, die dem nicht Rechnung trüge, entledigte sich dem Anspruch einer materialistischen Perspektive auf Geschichte, so könnte man Gerbers Position fassen.
In dem 238 Seiten umfassenden Band historisiert der am Simon-Dubnow-Institut forschende Historiker anhand des gesellschaftlichen Klimas im Paris der 1840er die Herausbildung der Marxschen Kategorien Klasse, Proletariat und Geschichte, die zur „Einheit verschmolzen: Revolutionen wurden als die Schrittmacher der Geschichte begriffen, das Proletariat galt als revolutionäres Subjekt, dem eine historische Mission zukomme“. In vier Passagen, die Marx‘ Leben über Deutschland, Frankreich und Belgien überwiegend chronologisch verhandeln, gelingt es die Entwicklung vom liberalen „Radikaldemokraten“ der Rheinischen Zeitung – der nicht vom Klassenkampf sprach und hinsichtlich des Kommunismus 1842 noch polemisierte, dass auf diesen „mit Kanonen geantwortet werden“ solle – zum Klassenkämpfer des Kommunistischen Manifests zu zeichnen. Darüber hinaus macht Gerber knappe Einlassungen darüber, dass Marx selbst möglicherweise Zweifel an seiner postulierten Mission hatte, da „einiges dafür“ spreche, „dass Marx der Klasse am Ende seines Lebens nicht mehr dieselbe Bedeutung beimaß“. Ohne dies gesondert zu benennen scheint Gerber der These zu folgen, die eine Unterscheidung zwischen dem jungen Philosophen und dem reifen Kritiker der politischen Ökonomie annimmt.
Sehr detailliert erhellt der Essay den zeithistorischen Kontext sowie die biografischen Besonderheiten und das Klima im Paris des 19. Jahrhunderts und verdeutlicht, welch immensen Eindruck Paris auf den jungen Marx gehabt haben muss. Die Stadt erschien in den 1840ern als „Sehnsuchtsort der Verbannten und Revolutionäre“, die vor der Restauration im Nachklang des Wiener Kongresses von 1815 flohen. Ebenso wie viele Emigranten traf Marx auf eine Stadt, die sich zum „Zentrum gesellschaftskritischen Denkens“ entwickelte. Gerber charakterisiert das politische Klima damit, dass der „Glaube, die Welt aus den Angeln heben zu können […] zum guten Ton“ gehörte und Kommunismus für Marx als „aufgelöste[s] Rätsel der Geschichte“ erschien. Aufgrund der rasch wachsenden Bevölkerung wurde Paris zur Metropole und Symbol der uneingelösten Forderung nach Gleichheit, zum „Zentrum der Rede von der Klasse“, in dem die „soziale Frage auf der Straße“ lag, da sich die sozialen Unterschiede, Armut und Kriminalität deutlich zeigten. Während jedoch in weiten Teilen Europas die Restauration den politischen Kontext prägte, unterlag Paris – kosmopolitische „Hauptstadt der neuen Welt“ (Marx) – einem liberaleren Klima, das mehr polit-ökonomische Freiheit erlaubte und sich am Boom des Zeitungsmarktes zeigte. Anhand der Deutsch-Französischen Jahrbücher, in denen Marx noch nicht emphatisch vom Kommunismus sprach, macht Gerber hierbei auf die erstmalige Verwendung der Kategorien Klasse und Proletariat in Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung aufmerksam, die „fortan als Motor der Geschichte“ ausgemacht wurden. Stand und Klasse verwendete Marx noch synonym, da die gedankliche und analytische Schärfe noch fehlte.
Friedrich Engels – den Marx bis dato kaum kannte – stieß in Paris mit seinem Manuskript Zur Lage der arbeitenden Klasse in England zu Marx. Im Zuge Marx‘ weiterer Emigration nach Belgien verknüpfte er die in Paris gewonnenen Überzeugungen mit dem inzwischen zum guten Freund gewordenen Engels im Kommunistischen Manifest zum teleologisch zugespitzten Klassenkampf, gipfelnd in einer Revolutionserwartung. Die geschichtsphilosophisch aufgeladene Kategorie Klasse war jedoch, so verdeutlicht Gerber, schon vorher ein „Bewegungs-, Erwartungs-, und Beschleunigungsbegriff“, der „revolutionär, umstürzlerisch, zumindest aber dynamisch aufgeladen“ und zu einer „sozioökonomischen Ordnungskategorie“ wurde. Sie zielte auf Kritik sozialer Ungleichheit der neuen Ordnung und wurde von Frühsozialisten sowie Historikern namens Saint-Simon und Augustin Thierry – deren Werke sich Marx bereits gen Paris intensiv aneignete – als maßgebliches Prinzip in der Geschichte ausgemacht. Marx war dementsprechend bereits vor seiner Zeit in Paris von 1789 begeistert. Obwohl diese Begeisterung damals laut Gerber noch „unter demokratisch-republikanischen Vorzeichen“ stand, wurde die Revolution von 1789 zur „Blaupause zukünftiger Erhebungen“. Über diesen Rückgriff und Vermittlung zur Literatur der Französischen Revolution wandelte er sich im aufrührerischen Klima zum überzeugten Kommunisten.
In Paris und Belgien gelangten Marx und Engels zur gedanklichen Ausarbeitung des Historischen Materialismus, womit die Kategorie Proletariat sowie die Verelendungsthese unter dem Hegelianisch gefärbten Geschichtsoptimismus ausgestaltet wurden. Während Marx in Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung noch einem Klassenbegriff anhing, der „blutleer“ und „frei von Empirie“ gewesen sei, sei die Lücke durch Engels im Manifest gefüllt wurden. Engels kannte Verelendung, Kinderarbeit sowie Krankheit der arbeitenden Klasse vor allem aus seinen Erfahrungen aus seiner Zeit in Manchester, das den Industrialisierungsgrad anderer Regionen weit überragte. Die damit verbundene Annahme, der sich zuspitzenden Verelendung unterlag laut Gerber jedoch einer schiefen Empirie, da das, was Engels in Manchester beobachtete, nicht der allgemeinen Entwicklung entsprochen hätte. Zwar verkam Manchester in den 1840ern tatsächlich zum Epizentrum der Verelendung und hatte durchaus besonderen Charakter inne, jedoch erreichte die Verelendung der 1840er nie wieder dieses Ausmaß. Analog zum Symbol der Globalisierung der 1990er – Detroit – argumentiert Gerber, sei Manchester das Symbol der Industrialisierung in den 1840ern gewesen, woraus sich jedoch kein „unweigerliche[r] Vorschein auf die zukünftige Entwicklung“ schließen ließ und die Historie die Verelendungsthese widerlegte. Gerber spitzt zu, dass, wenn Engels das Manchester der 1850er erlebt hätte, der Charakter des Manifests anders hätte ausfallen müssen, da die „strikte Polarisierung“ von Bourgeoisie und Proletariat ausblieb. Wirft man einen Blick in das Vorwort zur Neuausgabe Zur Lage der arbeitenden Klasse in England von 1892, so scheint es Engels selbst zu sein, der Gerber hierbei recht gibt, da Engels dort seine empirischen Grundlagen sowie „jugendlichen Eifer“ und Teile seiner Prognosen von 1845 selbst hinterfragt. Gerber verdeutlicht zudem, dass es bis zum Ende des 19. Jahrhunderts keine strikte Ausbildung eines Proletariats gegeben hätte und die Produktionsverhältnisse noch eher vormodernem Charakter entsprachen, somit Manufakturen statt Fabriken, eher Handwerker denn Proletarier, die „nicht miteinander identisch“ gewesen seien. Gegen die These der Verelendung spricht außerdem, dass der Marxismus in den fortgeschrittensten Industrieländern – entgegen der Marxschen Erwartung– kaum über Einfluss verfügte, was insgesamt deutlich macht, dass die Marxschen Kategorien auf einer „Generalisierung räumlich und zeitlich begrenzter Phänomene“ beruhten. Marx selbst, so Gerber, sei aufgrund dessen möglicherweise von der „historischen Mission des Proletariats“ abgerückt, was ihn im Londoner Exil die „Verelendungstheorie zur Krisentheorie“ transformieren ließ.
Darüber hinaus positioniert sich Gerber kritisch gegenüber „kritischen Marxisten“, denen er einen Taschenspielertrick vorwirft, da sie Engels für den zum Dogmatismus geronnenen Marxismus-Leninismus verantwortlich machten. Engels komme dabei die Rolle des „großen Vereinfacher[s]“ zu, der dem „reflektierte[n] Dialektiker“ Marx entgegengestellt werde. Gerber unterstreicht dagegen, dass Engels‘ Anteil „kaum überschätzt werden“ könne und die Beziehung eher auf einer Symbiose beruhte: Dafür spricht, dass sich Engels lange vor Marx mit der ökonomischen Klassik Smiths und Ricardos beschäftigte, Marx von Engels verfasste Schriften „unter seinem Namen“ veröffentlichte und er den Anti-Dühring entgegen der These „kritischer Marxisten“ hoch bewertete. Zwar ist Gerbers Argumentation überzeugend, jedoch scheint es wiederum etwas verkürzt, dies auf folgende Entgegensetzung herunterzubrechen: „Marx lieferte dem ‚Historischen Materialismus‘ die Philosophie, Engels die Empirie“. Bezüglich des philosophischen Gehalts macht Gerber deutlich, dass sich unter der dem Hegelianismus verbundenen Vorstellung der List der Vernunft eine Teleologie und Theologie verbarg, die vom säkularisierten Fortschrittsoptimismus getragen wurde: der Weltgeist wurde durch den Klassenkampf abgelöst.
In toto erhellt der Band anhand der Debatten, die Marx mit Frühsozialisten und Anarchisten führte, die Entwicklung zum Klassenkämpfer. Im Gegensatz zum Frühsozialismus seien Marx‘ utopische Einlassungen recht spärlich, da sich lediglich in den Pariser Manuskripten sowie im Manifest Konkretionen finden lassen – mehr, „als er je wieder darüber schreiben sollte“. Im Kapital komme er sogar „ohne jeden Hinweis auf die Gestalt des Kommunismus“ aus. Hinsichtlich der Wirkungsgeschichte Marx‘ im realen Sozialismus argumentiert Gerber gar, dass es vielleicht besser gewesen wäre, hätte er mehr Aussagen getroffen, da sich bereits Arnold Ruge – Mitherausgeber der Jahrbücher – in einem Brief an Ludwig Feuerbach darüber beklagte, dass die „zukünftige Gesellschaft, von der in der Seine-Metropole gesprochen wurde“, „auf einen ‚förmlichen Polizei- und Sklavenstaat’“ hindeutete, was laut Gerber als „knappe Voraussage“ interpretiert werden könne. Da das Marxsche Werk zudem vom Eklektizismus seiner Zeit geprägt sei, streicht Gerber mit Verweis auf Max Horkheimer und Walter Ulbricht heraus, dass „sich mit Marx […] die widersprüchlichsten Dinge rechtfertigen“ ließen, denn es könne sowohl die „Diktatur des Proletariats“, als auch das „Bombenbasteln“ der RAF sowie Kritik an derlei mit Marx gerechtfertigt werden, da „[z]u fast jedem Marx-Zitat“ ein „Gegenzitat“ vorliege.
Bei aller kritischen Historisierung bleibt die Frage, was von Marx für das 21. Jahrhundert bliebe, offen, worin zugleich die Stärke des Buchs liegt, das sich nicht am neuerlichen Personenkult beteiligt, sondern Marx in seinem philosophischen Denken und Widersprüchen ernst nimmt. Insgesamt ragt Gerbers Essay nicht nur aus dem eingangs erwähnten Wust heraus, sondern könnte auch dazu beitragen, eine selbstkritische Perspektive linker Provenienz zu fördern. Bezüglich der zeitgenössischen Linken lässt sich Gerber lediglich einmal zu einer Polemik hinreißen, die etwas überzeichnet scheint und aus der ansonsten sachlich gehaltenen Diskussion heraussticht, da er markiert, dass es Marx nicht um ein „Elend für alle“ ging, sondern dieser „[i]n seinen besten Momenten […] den Lebensstil des untergehenden Adels als Blaupause für eine zukünftige Gesellschaft vor Augen“ hatte und die „Rede vom Glück“ noch nicht „für Hühner und Kühe reserviert“ gewesen sei.
Im Epilog umreißt Gerber Aspekte jüngerer Debatten und verweist anhand André Gorz‘ Adieux au prolétariat und Didier Eribons Retour à Reims auf die von der Linken vollzogene Abwendung sowie Verachtung des Proletariats – das zunehmend zur Rechten tendiere – womit zugleich ein Abschied der sozialen Frage einhergehe, was Gerber deutlich moniert. Seine abschließenden Einlassungen zur „schönen neuen Arbeitswelt“, in der die Imperative von Selbstoptimierung und Flexibilisierung herrschen, lassen sich konvergierend zur Analyse Luc Boltanskis und Ève Chiapellos deuten, die in Le nouvel Ésprit du Capitalisme aufzeigten, wie die Gesellschaftskritik der 68er vom Kapitalismus neoliberalen und postmodernen Zuschnitts aufgenommen wurde. Dieser „doppelten Misere“ und die damit verbundene Ausblendung der sozialen Frage könne jedoch nicht mit den Kategorien der Klasse und des Proletariats begegnet werden; möglicherweise jedoch mit Rekurs auf den ökonomiekritischen Marx, auch wenn die Kategorien Ware und Wert ebenfalls durch Auschwitz und das 20. Jahrhundert beschädigt seien.
Den eingangs erwähnten Anspruch die Marxschen Kategorien – Klasse, Proletariat, Geschichte – entgegen dem neuerlichen Marx-Boom zu historisieren, kann der Band zweifelsfrei einlösen. Die offen gehaltene Frage, was von Marx für das 21. Jahrhundert bliebe, könnte beantwortet werden mit einer Lesart, die sich nicht des Repertoires des Klassenkämpfers aus den 1840ern bedient, sondern Marx als Kritiker der kapitalistischen Produktionsweise – dem Untertitel des Kapitals entsprechend als Kritik der politischen Ökonomie – und als Denker einer Wertformanalyse sowie Fetischkritik ernst nähme. Hierfür stünde zuvörderst der erst kürzlich verstorbene Moishe Postone, der bereits 1993 mit Time, Labor and Social Domination: A Reinterpretation of Marx’s Critical Theory eine fundamentale Neuinterpretation vorlegte und sich entsprechend vom traditionellen Marxismus abgrenzte. In Postones an der Kritischen Theorie orientierten Lesart Marx‘ und der Abkehr der List der Vernunft, ließen sich Globalisierung, Elendsausweitung, Digitalisierung sowie Automatisierung von Produktion besser fassen – was auf einem solideren Marx als dem Klassenkämpfer der 1840er stünde. In Zeiten der Eindampfung bzw. Auslagerung des Sozialstaates ließe diese Lesart auch die soziale Frage wieder in den Fokus rücken, womit der von Kultur und Authentizität schwadronierenden kulturrelativistischen Linken – was die vom Konzept des Ethnopluralismus überzeugte Rechte ohnehin besser kann – kritisch begegnet werden kann.

von Mathias Beschorner

Jan Gerber: Karl Marx in Paris. Die Entdeckung des Kommunismus, Piper-Verlag, München 2018, 238 Seiten, 22 Euro.
 
 

Das Elend der Pluralen Wirtschaftswissenschaften

2017 feierte Das Kapital – das Hauptwerk von Karl Marx – den hundertfünfzigsten Geburtstag seiner Ersterscheinung. Man stelle sich einmal vor dieses Fest fiele in die Nachkriegsära Konrad Adenauers oder in die Kiesingers und die Autoren jener Blätter, die maßgeblich für die Meinungsbildung in der Bundesrepublik sind, schrieben sich die Finger wund ob der Frage, ob man denn noch etwas von Marx lernen könne oder ob er irgendwie Recht gehabt habe.[1] Das ist zwar eine nette Vorstellung, entbehrt aber jeder realen Möglichkeit. Denn außer bei einigen kritischen Studentinnen oder Studenten und deren entsprechend kritischen Lehrenden, K-Gruppen und später Autonomen wäre dieses Ereignis nicht auf Interesse, geschweige denn auf Liebe gestoßen. Nachdem aber bekanntlich 1991 die Geschichte zu Ende ging (Fukuyama) und es seit dem in der Wissenschaft nicht mehr um einen emphatischen Wahrheitsbegriff, der sich an seinen Gegenständen entwickelt, im Vorhaben mit bestimmter Erkenntnis etwas am Dasein der Menschen zu verbessern,[2] sondern um den Austausch von meist theoretischen Ansichten zum Ding des Interesses geht, scheint es kein Problem mehr zu sein, dass auch das Aufwerfen einer marxistischen Perspektive nicht mehr diesen linken Randerscheinungen der Gesellschaft vorenthalten bleibt, sondern eben auch von der Journaille, aber auch von sich kritisch dünkenden Studentinnen und Studenten erledigt werden kann, die Symptom eines gesellschaftlichen Umstands sind. Um was es hier in aller Kürze gehen soll, ist das Problem der Abstraktion von der wirklichen gesellschaftlichen Totalität der „kritischen Studierenden“, die sich in der Initiative Plurale Ökonomik engagieren, durch kursorische Darstellung der Kritik der politischen Ökonomie Marxens darzustellen. Continue reading „Das Elend der Pluralen Wirtschaftswissenschaften“