Praxis und Aktion. Über die Aufgabe kritischer Theorie und die Armut der 'Ideologiekritiker'

Hat man die zentralen Vertreter der Kritischen Theorie studiert, und von sog. ideologiekritisch bewegten hofft man, es erwarten zu dürfen, weiß man zur Ideologiekritik wenigstens zweierlei zu sagen. Das eine betrifft ihren Zweck, das andere ihren Modus.
In Horkheimers 1937 veröffentlichten, programmatischen Aufsatz „Traditionelle und kritische Theorie“ legte er den Grundstein für die spätere Entwicklung der sog. Frankfurter Schule, indem er die kritische Theorie systematisch von der dominanten positivistischen Sozialwissenschaft abgrenzte. Während der Positivismus methodologisch nur das Bestehende abbildet und zweckmäßig den totalitären Zusammenhang menschlichen Lebens im kapitalistischen Tauschprinzip verwischt. Entgegen dieser Ideologieproduktion bürgerlicher Wissenschaft muss kritische Theorie die Sphären menschlichen Lebens aus dem kapitalistischen Tauschprinzip heraus deduzieren, um den totalitären Zustand der spätkapitalistischen Gesellschaft offenzulegen. Dieses Erkenntnisinteresse band Horkheimer in einen politischen Zweck ein:

„Die Konstruktion des Geschichtsverlaufs als des notwendigen Produkts eines ökonomischen Mechanismus enthält zugleich den selbst aus ihm hervorgehenden Protest gegen diese Ordnung und die Idee der Selbstbestimmung des menschlichen Geschlechts, das heißt eines Zustands, in dem seine Taten nicht mehr aus einem Mechanismus, sondern aus seinen Entscheidungen fließen. Das Urteil über die Notwendigkeit des bisherigen Geschehens impliziert hier den Kampf um ihre Verwandlung aus einer blinden in eine sinnvolle Notwendigkeit.“[1]

Kritische Theorie sollte in den blinden Lauf der Geschichte eingreifen, indem die Adressaten der Theorie in die Lage versetzt werden, die kapitalistische Wirtschaft und die auf ihr begründete Kultur und Politik der Gesellschaft als Produkt menschlicher Arbeit zu erkennen. Diese Erkenntnis ist dialektisch insofern sich die Subjekte mit der Gesellschaft als Ergebnis ihrer Produkte identifizieren und gleichsam erkennen, dass Gesellschaft mit „außermenschlichen Naturprozessen, bloßen Mechanismen zu vergleichen ist,“[2] die Marx im Begriff des automatischen Subjekts zusammenführte. In der spätkapitalistischen Gesellschaft ist also Identität und Nichtidentität ineinander verflochten – und das herauszuarbeiten ist die besondere Herausforderung der Ideologiekritik. Sie operiert im Modus der Identitätskritik, die Adorno später in seinem Hauptwerk zur Negativen Dialektik ausbaute. Darin warnte er vor den Fallstricken der Kritischen Theorie infolge der inneren Widersprüche der Identitätskritik.[3] So heißt es über die Dialektik der Identitätskritik, dass sie

„mehr und anders als das Identitätsdenken, identifiziert. Sie will sagen, was etwas sei, während das Identitätsdenken sagt, worunter etwas fällt, wovon es Exemplar ist oder Repräsentant, was es also nicht selbst ist.“[4]

Eingebunden ist dieser Modus in den Zweck kritischer Theorie, die aus dem automatischen Subjekt des Kapitals geborene Notwendigkeit des historischen Geschehens nicht nur aufzuhalten, sondern in die Notwendigkeit „selbstbewusster Menschheit“ zu überführen, die „in einem Zustand ohne Ausbeutung und Unterdrückung“ waltet.[5] Dazu steht kritische Theorie auf dem festen Fundament der Marx‘schen Kategorien (Klasse, Ausbeutung, Mehrwert, Profit, Verelendung…). Denn sie sind „Momente eines begrifflichen Ganzen, dessen Sinn nicht in der Reproduktion der gegenwärtigen Gesellschaft, sondern in ihrer Veränderung zum Richtigen zu suchen ist.“[6]
Die Aufgabe kritischer Theorie ist deshalb eine zwingend praktische, denn mit der Kritik von Identität und Nichtidentität der kapitalistischen Totalität als Produkt menschlicher Arbeit ist die Erwartung verbunden, dass sie das Aufbegehren gegen das falsche Ganze anleitet und ihr die geschichtliche Notwendigkeit entreißt. Die Notwendigkeit der spätkapitalistischen Einrichtung der Welt mitsamt all ihrer Zumutungen und Verwerfungen fatalistisch grimmend zu akzeptieren, sich in ihr einzurichten, statt sie, gründend auf menschlicher Vernunft und kraft menschlicher Arbeit, zu verändern, fußt dagegen auf der „Unfähigkeit, die Einheit von Theorie und Praxis zu denken“[7].
Eine sich gegenwärtig als Wahrer Kritischer Theorie verstehende, politische Gruppe fürchtet in der Präsidentschaftskandidatur eines sozialdemokratischen Juden in den USA den Verlust US-amerikanischer Identität mit globalen Folgewirkungen, da mit der zukünftigen Präsidentschaft ein Rückzug der USA aus der globalen Sicherheitspolitik in den heimeligen Schoß des Isolationismus drohe, was Europa zwingen würde, das sicherheitspolitische Zepter in die Hand zu nehmen. Ganz aufgehoben im identifizierenden Denken fällt allzu leicht tautologisches in die Tastatur: „Europa kann nur dann Europa sein, wenn die USA die USA bleiben.“
Die Voraussetzung der Einheit von Theorie und Praxis in der kritischen Theorie ist die Existenz von Vernunft im vergesellschafteten Subjekt. Man kann nur noch hoffen.

von Benjamin W.

[1] Horkheimer, Traditionelle und kritische Theorie, in: Ders.: Vier Aufsätze, 1968, S. 45-46.
[2] Ebd., S. 28
[3] Andere Fallstricke freilich wurden als solche gar nicht wahrgenommen, etwa der Verlust des kritischen Potentials durch die Radikalisierung des Ideologischen. In der Konsequenz schlitterte die Kritische Theorie in Aporie, denn alle politischen Ziele seien ideologisch verstellt. Damit sich der ihr kritischer Sinn darin, „reine Negation im Bewusstsein zu bleiben.“ Ideologiekritik wurde zum Idealismus. Hans Heinz Holz, Die heilige Familie von Frankfurt, in: Ders.: Deutsche Ideologie nach 1945, 2003, S. 174.
[4] Theodor Adorno, Negative Dialektik, 1966, S. 150.
[5] Max Horkheimer, Traditionelle und kritische Theorie, in: Ders.: Vier Aufsätze, 1968, S. 55.
[6] Ebd., S. 37.
[7] Ebd., S. 47.

Pour mes amis

„The thought that I might for one moment abandon you is pure fantasy. You remain my most intimate friend, as I hope I remain yours. -K. Marx. P.S. – Your old man is a pig, to whom we shall write a swinish letter.“

Marx to Engels in Lausanne, 1848

Jesus hatte keine Freunde, starb er doch für die Freundschaft an und für sich. Montaigne hatte einen ganz besonderen Freund. Heute jedoch ist jede einer jeden Freundin. Dem tragischen Helden in Emmanuel Boves Roman würde es wohl deutlich leichter fallen, der Einsamkeit zu entfliehen. Aber Intimität, Geheimnis und Vertrautheit der aristotelischen Tugendfreundschaft haben sich dem Tauschprinzip zu beugen. Freundschaft korrumpiert. Es verbleiben nur kümmerliche Reste ihrer selbst. Allein der inflationär betriebene Gebrauch des Begriffs ‚Freundschaft‘ im digitalen Zeitalter, kündet vom Verfall seiner Bedeutung, wo doch jeder hinlänglich weiß, dass es im Grunde um das eigene Netzwerk, um die Nutzenfreundschaft, geht.
Die Positivisten sprechen allzu unaufgeregt vom Heil der ‚differenzierten Freundschaft‘ und machen sich einmal mehr der Verteidigung des Bestehenden schuldig. Wer sich diesem modus vivendi entzieht, hat zwar die Erkenntnis der Distanzierten, wird jedoch mit Einsamkeit gestraft. Die Reaktionären suchen ihr Heil und den Schutz vor gesellschaftlicher Kälte in der Anbetung der Familie, des Kollektivs sowie niederer Vergemeinschaftung patriarchaler Provenienz; sie wussten schon immer, dass es ‚früher doch besser war‘. Die Progressiven hingegen betreiben – trotz allem Wohlwollen – die stetige Verfeinerung des stahlharten Gehäuses. Eine erst noch zu antizipierende Vergesellschaftung hätte alle drei zu verachten und einzufordern, sich endlich aus dem Zustand der Vorgeschichte zu erheben.
Eine solche hätte Kollektiv wie Robinson gleichermaßen auf den Müllhaufen der Geschichte zu verbannen. Aber dazu wäre zumindest eine Renaissance der politischen Freundschaft von Nöten. Dagegen vom Ende der Geschichte zu sprechen, erscheint auch weiterhin wohlfeil und schal zugleich. Jedoch: Ab und an steht der Fluss der rastlosen Unvernunft und kündet von einem möglichen Vorschein auf etwas anderes; vom beinahe hoffnungslosen Widerstand gegen die Totalität des Tauschs und vom Schimmer einer nahezu unmöglich gemachten Spontanität. Marx und Engels sahen eine solche mitunter in der Liebe zwischen sich anschauenden Subjekten.
Allerdings sind es gar nur Augenblicke sich freundschaftlich und zärtlich verbundener Menschen, die in derartiger Negativität hin und wieder das aufwiegen können, was das falsche Ganze auszutreiben sucht. Bloß allerlei Alltag und die stetig drohende Deprivation für solch kurze Momente zu zerfetzen, ist das romantische Geschenk der Freunde – ähnlich dem der Liebe. Dass es mit derlei Romantik jedoch vorbei ist, können nur Diejenigen erahnen, die einen Sinn dafür haben, was es mit solch absurdem Habitus in der radikal entzauberten Welt noch auf sich hat. Alle ins Subjekt eingehämmerte Ironie zerfetzt jedoch allzu schnell jenen Vorschein und damit zugleich den platonischen Schutz vor Deprivation.

von Mathias Beschorner