Roboterkommunismus – nur eine Utopie?


Mathias Beschorner über Aaron Bastani: Fully Automated Luxury Communism.
»The fact is, that civilisation requires slaves. The Greeks were quite right there. Unless there are slaves to do the ugly, horrible, uninteresting work, culture and contemplation become almost impossible. Human slavery is wrong, insecure, and demoralising. On mechanical slavery, on the slavery of the machine, the future of the world depends. […] Is this Utopian? A map of the world that does not include Utopia is not worth even glancing at, for it leaves out the one country at which Humanity is always landing. And when Humanity lands there, it looks out, and, seeing a better country, sets sail. Progress is the realisation of Utopias.«
Oscar Wilde: The Soul of Man under Socialism, 1891
Aaron Bastani ist Politikwissenschaftler und Mitbegründer von Novara Media. Bastani stellt eine starke Stimme innerhalb der britischen Linken dar und tritt oft als politischer Kommentator im Fernsehen auf. Einige seiner Ansichten zum Antisemitismusproblem innerhalb der Labour-Partei sowie dem Staat Israel sind äußerst fragwürdig und zu kritisieren. In Fully Automated Luxury Communism erörtert Bastani jedoch Ansätze einer postkapitalistischen Gesellschaft, in der die Güterproduktion zum überwiegenden Teil von künstlicher Intelligenz, Automatisierung und von Robotern organisiert würde.
»Communism is luxurious – or it isn’t communism«
Mit Hegel und Marx lässt sich konstatieren, dass das »Reich der Freiheit« erst da beginnt, wo das »Reich der Notwendigkeit« drastisch eingeschränkt ist. Wie Andreas Arndt in Geschichte und Freiheitsbewusstsein weiter argumentiert, ist die Entwicklung des Freiheitsbewusstseins der Notwendigkeit jedoch nicht äußerlich – das wäre idealistischer Unfug –, sondern steht vermittelt daneben, was freilich nach einem entsprechenden »politischen Rahmen« »verlangt«.[i] Die Linke hat das mit der Freiheit, der Notwendigkeit und dem »politischen Rahmen« nie richtig verstanden: im Realsozialismus wurden Arbeit, Elend und Klasse vergöttert und die Marx‘sche Losung »Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!« kollektivistisch pervertiert. Zwar haben Neue Marx-Lektüre und Postmarxismus derartigem Denken zarte Risse versetzt; vollends emanzipiert hat sich die Linke davon jedoch nicht. Stephan Grigat hat das auch in der Versorgerin ausgeführt[ii] und entsprechend auf dissidente Stimmen verwiesen. Erfreulicherweise bezieht sich Bastani mitunter auch auf Oscar Wilde. Communism benutzt Bastani zudem in Abgrenzung zum Realsozialismus; er stellt sich dagegen in die Tradition Marx‘ selbst, der damit eine Welt vor Augen hatte, »in which work is eliminated, scarcity replaced by abundance«.
Ein Ende vom Ende der Geschichte?
Auch nach dem von Francis Fukuyama postulierten Ende der Geschichte fällt der Linken dagegen kaum etwas ein, was sinnig über das Bestehende hinausweisen könnte: Postwachstumstheorien fallen z.B. deutlich hinter kapitalistische Vergesellschaftung zurück und bedienen das Bedürfnis nach naivem Idealismus, Verzichtsethik sowie Autoritarismus.[iii] Liefert Bastani einen diskussionswürdigen Entwurf, der das Freiheitsbewusstsein im Sinne eines Hegelmarxismus weiterentwickeln könnte?
Bastani widmet sich zunächst kritisch den Thesen Fukuyamas und moniert zurecht deren Deutungshoheit. Fukuyama postulierte nicht das Ende der Zeit, sondern den Siegeszug der westlich und kapitalistisch verfassten Demokratie, die die finale Vergesellschaftungsform der Menschheit darstelle, ein postideologisches Ende eingeleitet hätte und in welcher keinerlei fundamentalen neuen politischen Ideen mehr aufkämen. Jedoch, so Bastani, zeugten Klimawandel und die soziale Frage von der Naivität dieser Thesen, obwohl sie als »sacrosanct« und »common sense« betrachtet würden. Bastani hebt fünf fundamentale Krisenproblematiken globalen Ausmaßes hervor: Klimawandel und globale Erwärmung, Ressourcenknappheit, alternde und rasant steigende Bevölkerung, durch technische Innovation verursachte Arbeitslosigkeit und Armut. Diese fünf Krisen untergraben laut Bastani die Fähigkeit des Kapitals ‚sich selbst zu heilen‘. Dennoch sei es im Sinne Fukuyamas »easier to imagine the end of the world than the end of capitalism«. Doch was hat Bastani dieser Deutungshoheit entgegenzusetzen?
FALC – »A world beyond jobs, profit and even scarcity«
Bastani zeigt sich als ausgesprochener Kenner der politischen Ökonomien von Smith, Ricardo, Malthus und Keynes; darüber hinaus liefert er im Sinne des Untertitels des Kapitals eine überzeugende Kritik der politischen Ökonomie. Zudem bietet Bastani einen außerordentlich umfangreichen Überblick über technologische Innovationen und Wandlungsprozesse innerhalb der Moderne sowie der vergangenen Dekaden. Vor allem das 2. Kapitel überzeugt hierbei mit einer Fülle an Beispielen, die vom Energiesektor über das Gesundheitswesen bis hin zu den Potenzialen der Raumfahrt aufzeigen, dass eine postkapitalistisch strukturierte Gesellschaft mit Güterüberfluss möglich sei.
Hervorzuheben ist hierbei, dass Bastani keiner idealistischen Träumerei anhängt, sondern mit einer minutiösen Beobachtung von gesellschaftlichen Strukturen und technischen Entwicklungen arbeitet. Schon Marx sperrte sich dagegen, konkret auszumalen, wie eine befreite Gesellschaft aussehen könnte. Bastani liefert also keine absurde Science-Fiction, sondern empirisch fundierte Beobachtungen von staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren. In Abgrenzung zur Malthusianischen Bevölkerungsfalle[iv] und zu Keynes, führt er zudem ein Szenario an, in dem Güterknappheit besiegt sei. Mit Marx und gegen den Keynesianismus argumentiert er überzeugend, dass das kapitalistische System »politically contested« sei.
Das Buch bietet auf 288 Seiten einen roten Faden, der immer wieder um die auch in der Sozialwissenschaft breit diskutierte These des jobless growth kreist. D.h., dass durch technische Rationalisierungen und Automatisierungsprozesse zusehends weniger menschliche Arbeitskraft im Produktionsprozess benötigt werde. Schon heute wird immer mehr physische und kognitive Arbeit von Robotern und Maschinen verrichtet. Tendenz steigend. Die Informationstechnologie wird damit zum Produktionsfaktor Nummer 1 und Roboter, Drohnen und Maschinen könnten in absehbarer Zeit die Ware menschliche Arbeitskraft vollends ersetzen. Dahingehend verweist Bastani darauf, dass Marx entgegen ‚falscher‘ Lesarten ausdrücklich die vom Kapitalverhältnis entfesselten Produktivkräfte in den höchsten Tönen lobte und verdeutlicht dies anhand eines Bezugs auf das »Maschinenfragment« aus den Grundrissen, das entgegen der exorbitanten Bedeutung des Manifests der Kommunistischen Partei kaum wahrgenommen werde. Schon in den Grundrissen verweist Marx jedoch auf die steigende Bedeutung von Informationen im Produktionsprozess.
Jedoch dienen Informationstechnologie und Automatisierung von Produktion in einer kapitalistisch strukturierten Gesellschaft nicht menschlichen Bedürfnissen, sondern zum überwiegenden Teil der »Verwertung des Werts«. In Kombination mit einem Arbeitsfetischismus, den man quer durch alle politischen Lager antrifft, entstehen heute immer mehr sogenannte »Bullshit-Jobs« (David Graeber). Folgt man Marx, so kann die Entwicklung der Produktivkräfte jedoch Produktionsverhältnisse revolutionär sprengen, woraus neue Formen von Vergesellschaftung resultieren können. Die Weiterentwicklung der Produktivkräfte bildete damit schon bei Marx die grundlegende Voraussetzung zur Einschränkung des »Reichs der Notwendigkeit« und damit die Bedingung zur Emanzipation von menschlicher Arbeit. Dahingehend stellt Bastani das rationelle Ausnützen der Produktivkräfte unter einer damit einhergehenden Veränderung der Produktionsverhältnisse, einen Zugewinn an freier Zeit, Selbstbestimmung, Individualismus sowie Luxus für breite Bevölkerungsschichten in Aussicht. Bastanis Analyse des Status quo sowie die sich durch technische Innovationen ergebenden Möglichkeiten für eine potenziell postkapitalistische Gesellschaft machen den Hauptteil des Buches aus und lesen sich recht überzeugend.
»Luxury Populism«
Im abschließenden dritten Teil erläutert Bastani politische Strategien und entwirft in Abgrenzung zu einem rechten Populismus das Modell eines »Luxury Populism«. Damit richtet sich Bastani zugleich gegen Postwachstumstheorien und pocht stattdessen auf die materiellen Bedürfnisse breiter Bevölkerungsschichten. Eine politische Strategie jedoch, die nicht »red and green« sei, und damit nicht Individualismus einfordere sowie die Bedrohungen durch den Klimawandel reflektiere, sei zum Scheitern verurteilt; zudem hätte sie sich im Gegensatz zur traditionellen Arbeiterbewegung gegen die Arbeit an sich zu richten. Hierzu bedürfte es mitunter der Forderung umfassender Veränderungen im Transportwesen und öffentlicher Güterversorgung, womit Bastani auch ein bedingungsloses Grundeinkommen anführt.
Wie bei allen technologischen Revolutionen in der Geschichte – Bastani streicht die neolithische, den Buchdruck und die industrielle Revolution heraus -, werden auch bei dieser die Veränderungen Jahrzehnte brauchen. Aber, so Bastani abschließend, es gehe nicht um die Zukunft, sondern um »a present which is already here«. In wieweit Bastanis politische Perspektiven und Strategien überzeugen, sei der Leserin überlassen.
Kritisch hervorzuheben sind mindestens jedoch zwei Punkte: 1. Bastanis Auseinandersetzung mit dem Neoliberalismus gerät bisweilen in ein simples Elitenbashing und vergisst, dass auch die herrschenden Klassen im Sinne Marx ‚lediglich‘ als »Charaktermasken« fungieren und damit nur bedingt intentionales Handeln vorliegt. 2. Bei allem Fortschrittsoptimismus hinsichtlich technischer Innovationen – Bastani verfällt hin und wieder recht deutlich in versteckte und offene teleologische Erwägungen – bleibt mit der kritischen Theorie zu reflektieren, dass technische Errungenschaften nicht zwangsläufig zu einem besseren gesellschaftlichen Zustand, sondern auch zu neuen Herrschaftsformen führen können.
Darüber hinaus gelte es auch mit feministischen Ansätzen soziale Beziehungen, Care-Arbeit und das Verhältnis Mensch/Natur stärker zu hinterfragen, denn das bleibt Bastani deutlich schuldig. Ein vernunftgeleitetes Eingedenken von Erster und Zweiter Natur im Sinne der kritischen Theorie müsste dagegen die Grundlage bilden. Dass Bastani dies nicht reflektiert, ist offenkundig, und dennoch bleibt abschließend zu sagen, dass das Buch einige Ansätze bietet, die der Utopie eines Müßiggangs im Sinne Theodor W. Adornos zuträglich sein könnten: »auf dem Wasser liegen und friedlich in den Himmel schauen, ‚sein, sonst nichts, ohne alle weitere Bestimmung und Erfüllung‘ könnte an Stelle von Prozeß, Tun, Erfüllen treten und so wahrhaft das Versprechen der dialektischen Logik einlösen, in ihren Ursprung zu münden.«[v]

von Mathias Beschorner

Diese Buchbesprechung ist zuerst in der Versorgerin #123 (September/2019) erschienen.
Das Buch ist am 11. Juni bei Versobooks erschienen.
Bastani, Aaron (2019): Fully Automated Luxury Communism. Versobooks. New York und London, 288 Seiten, 20,99 Euro.
[i] Arndt, Andreas: Geschichte und Freiheitsbewusstsein. Zur Dialektik der Freiheit bei Hegel und Marx, Berlin 2015, S. 100ff.
[ii] Grigat, Stephan: Die Arbeit nieder! In: Versorgerin Nr. 117.
[iii] Siehe hierzu auch die vierte Ausgabe des Distanz-Magazins unter: http://distanz-magazin.de/magazin/4-postwachstumskritik/.
[iv] Die von Thomas Malthus entwickelte Theorie der Bevölkerungsfalle hat große Bedeutung für Postwachstumstheorien und wird dort affirmativ verwendet. Hat diese Theorie für vorkapitalistische Gesellschaften noch gewisse Berechtigung, blamiert sie sich vor der Realität und den Möglichkeiten moderner Produktivkräfte.
[v] Adorno, Theodor W.: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben: Sur l‘eau. Digitale Bibliothek Band 97: Gesammelte Schriften, S. 1953-1955 (vgl. GS 4, S. 179).

Eine sexistische Aktion feministisch lesen? Eine Kritik an Heide Oestreichs Kolumne ›Sechs Brüste für Teddy. Das „Busenattentat“ auf Adorno.


Da ist es wieder: Alle paar Jahre kann jemand im deutschen Feuilleton nicht an sich halten und muss nach eingehender Bettenschau seinen Unmut darüber kundtun, dass der dicke Professorenonkel aus Frankfurt mit den großen Brillengläsern und den schwierigen Texten beim Geschlechtsverkehr nicht das Licht ausmachte und Verhältnisse mit jüngeren Frauen hatte. Aber nicht nur das, Heide Oestreich behauptet in ihrer Kolumne im Deutschlandfunk vom 31.07.2019 zur 50. Jährung des berüchtigten Busen-Attentats allen Ernstes, eben jene Attacke auf Theodor W. Adorno sei ein »emanzipatorischer Akt« gewesen. Oestreich versammelt in ihrem Text allerhand Mythen, Halbwahrheiten, Kommentarspaltengeraune und Lügen über Adorno, die man so schon oft lesen musste. Man kennt es. In der Kritik an Adorno geht es im deutschen Feuilleton nur selten um sein Werk, umso häufiger aber stehen sein Sexualverhalten und seine Beziehungen zu Frauen im Fokus. Auch bei Oestreich findet man hinter der verkniffenen Zurschaustellung ihrer Ansicht, dass Adornos kritische Theorie obsolet sei, keine stichhaltigen Argumente. Mal wieder muss der Blick in Adornos Schlafzimmer herhalten, um ihn in süffisanter Weise (»Rest in Peace, Teddy«) zu erledigen. Insofern nicht anders angegeben, stammen alle folgenden Zitate aus dem Text von Oestreich.
Da ist zuerst der schlechte Versuch, Gretel Adornos Anteil an Adornos Werk herabzusetzen und gegen ihn zu wenden. Hierbei zeigt sich, dass sich Oestreich nicht die Mühe gemacht hat, den Sachverhalt zu ergründen. Statt die Zeugnisse der tiefen Verbundenheit, der nicht-monogamen Ehe und all der biographischen Schwierigkeiten und Widersprüche zur Kenntnis zu nehmen, liefert Oestreich eine flache Interpretation. Dass Gretel Adorno über die Affären ihres Mannes Bescheid wusste, ja es offenbar darüber Absprachen gab und auch Gretel Adorno ihre Affären hatte, das lässt Oestreich nicht gelten. Die Ehe der Adornos widersprach dem zur damaligen Zeit gängigen patriarchalen Klischee, das Oestreich hier ungeprüft als Maßstab anlegt. Gretel Adorno war eben nicht einfach die »ausgebeutete Gattin«, die zu Hause saß, dem Mann zum Abendbrot Tafelspitz servierte und seine Texte redigierte. Die Feministin und Kritische Theoretikerin Regina Becker-Schmidt berichtet ein ganz anderes Bild: »Ich war mit ihm und Gretel Adorno befreundet. Für mich war die Beziehung zwischen den beiden genau durch diese Spannung gekennzeichnet: Treue trotz allem, Zuverlässigkeit, eine fast symbiotische wechselseitige Bezogenheit auf der einen Seite und die Fähigkeit, sich die Freiheit zu lassen, auf der anderen. Beide sind für mich eigentlich die Vorbilder für die Gestaltung meiner eigenen persönlichen Beziehungen geblieben. Stellen aus der ›Minima Moralia‹ wie ›Moral und Zeitordnung‹ oder über die Ehe aus der ›Dialektik der Aufklärung‹ sind nicht einfach nur graue Theorie, sondern auch ein Stück gelebter Wirklichkeit« (Becker-Schmidt, in: Früchtl/Calloni, Erinnern an Adorno, 1991, S. 210f.).
Die Moral, die vom Kritiker bereits jenes Bessere verlangt, dass dieser mit seiner Kritik erst intendiert, ist ein schlechte. Adorno war ganz sicher nicht frei vom patriarchalen Denken und auch er verkörperte den rationalen männlichen Charakter, welchen er und Horkheimer in der ›Dialektik der Aufklärung‹ kritisieren. Adorno entsprach aber ganz sicher nicht dem Bild des sexistischen, seine Ehefrau unterdrückenden Patriarchen, zu dem ihn Oestreich in ihrem Text zurechtlügt.
Heide Oestreich weiß aber noch mehr zu berichten. Adorno, dieser schmutzige alte Professor, stand auf junge Dinger bzw. auf die »Dinger« jener jungen Frauen. Adorno sei »Spezialist für diese delikaten Körperteile« gewesen […]«, der »[d]ie Dialektik der Dinger studierte […], indem er seinen gelehrten Blick ausgiebig auf denselben ruhen ließ, heißt es von Zeitzeugen«. Mit ziemlicher Sicherheit bezieht sich Oestreich in Sachen Zeitzeugen hier auf einen kurzen Interviewausschnitt mit Rüdiger Safranski im zweiten Teil der Fernsehdokumentation ›Wer denkt ist nicht wütend‹. Safranski beschreibt in diesem Ausschnitt, wie Adorno in einer Vorlesung aus dem Stehgreif umfassende Gedankenketten entfaltete, zugleich doch dem Auditorium zugewandt gewesen sei und eine zu spät kommende, platzsuchende Studentin während der in sich gekehrten Rede mit den Blicken fixierte und kurzeitig verfolgte. Von Busen, die Adorno hier angeblich ausgiebig studierte, ist nicht die Rede. Dass Adorno mit dem Erscheinen der Studentin »immer noch ein Auge für solch ein erotisches Vorkommnis hatte« (Safranski), ist erst mal allein Safranskis Interpretation (und wohl auch Projektion). Oestreich macht daraus ein sabberndes Gieren Adornos nach den Brüsten junger Studentinnen. Wenn man nicht mehr hat, um das eigene Ressentiment zu stützen, müssen eben Interviewschnipsel aus einer schlechten Dokumentation herhalten.
Nun soll sich Adorno nicht nur an den Brüsten von Studentinnen vergangen haben, sondern Oestreich weiß auch: »Und der Fetischisierung des weiblichen Körpers kommt man natürlich am besten im Bordell auf die Spur. Adorno hat hier zahlreiche Selbstversuche gemacht. Und nun dies: Sein Studienobjekt macht sich selbstständig. Der Busen wird quasi Subjekt und treibt Schabernack mit ihm!«
Der Adorno war also im Puff? Dass das belegt sein soll, weiß man spätestens seit dem nicht weniger erbärmlichen Spiegel-Artikel über Adornos Privatleben von Johannes Saltzwedel (https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-28325126.html). Was da wie belegt ist und warum man das belegen müsste, lässt auch er offen. Aber Saltzwedel entblödet sich nicht, auch noch die private Notiz Adornos über die »Masochistin Carol« aufzutischen. Der verheiratete Adorno und die »unbekannte Dame« (Saltzwedel) vergnügten sich mit BDSM-Spielchen in einem Hotelzimmer. Bei solch »weniger edlen Eskapaden« müsse man ja vom großen Intellektuellen, der sich »virtuos als Vordenker und Gewissen der Nation [inszenierte]« (Saltzwedel), Abstand nehmen. Adorno hat sich nie als solches inszeniert. Dieser Blödsinn erwächst nur regelmäßig den unverständigen Hohlköpfen des deutschen Feuilletons, die einen vehementen Kritiker deutscher Ideologie als deutsches Kulturgut verbuchen wollen. Mehr noch, einem Denken und Auftreten wie dem Adornos, Inszenierung und Affektiertheit vorzuwerfen, ist lediglich antiintellektuelles Ressentiment und nichts weiter.
Man fragt sich bei all diesen Verklemmungen von Oestreich und Saltzwedel, was das mit Adornos kritischer Theorie zu tun haben soll? Auch hier ist nur jene verklemmte Moral am Werk, die mehr über den aussagt, der sie gegen das Privatleben des Kritikers wendet. Und Sätze von Oestreich wie die zuletzt zitierten sollen doch nur suggerieren, Adorno, der alte schmutzige Mann, hat sich an jungen Frauen vergangen und nun schlagen diese in der Busen-Aktion zurück. Daher kommt auch die fragwürdige Verknüpfung des Busen-Attentats mit der Metoo-Kampagne in der Einleitung des Textes.
Oestreich vermittelt über die Hintergründe des Busen-Attentats ein Bild, als seien die Studierenden geschlossen gegen Adorno angetreten, dabei handelte es sich um eine radikale Minderheit – eine Gruppe, deren Wort- und Anführer mit wenigen Ausnahmen tatsächlich nur linke Macker und deren Verhalten gegenüber Genossinnen äußerst fragwürdig waren. Wie verschiedene Anwesende berichteten, brachte ein Großteil des Auditoriums bereits zu Beginn der Störung der Vorlesung am 22. April 1969 seinen Unmut gegen die Unterbrechung hervor und zeigte sich nach den körperlichen Zudringlichkeiten der entblößten Studentinnen schockiert (vgl. Müller-Doohm, Adorno. Eine Biographie, 2003, S. 722ff., S. 915f.)
Oestreich müht sich in ihrem Text nun ab, zwischen der Aktion von 1969 und dem Privatleben Adornos eine Verbindung herzustellen. Was sie uns anbietet ist inhaltlich kläglich und absurd. Schließlich ist bekannt, dass sich diese Aktion nicht gegen Adornos Verhalten gegenüber Frauen richtete. Vielmehr empfanden die Jedi-Ritter der Revolution Adornos Beharren auf das kritische Denken und einer daran geknüpften Praxis der unreglementierten Erfahrung als Verrat. Auf ihrer Flucht vor den gesellschaftlichen Widersprüchen in die wirkungslose Praxis und in den elitären Aktionismus wirkte Adornos Beharrlichkeit auf sie wie ein rotes Tuch. Dass die einige Monate zuvor erfolgte Räumung des besetzten Instituts für Sozialforschung durch die von Ludwig von Friedeburg und Walter Rüegg gerufene Polizei sofort der alleinigen Verantwortlichkeit Adornos zugeschrieben wurde, tat ihr Übriges dazu.
Adorno in Hinblick auf das autoritäre und zudringliche Verhalten der Studentinnen und Studenten zum Sexisten abzustempeln bzw. aus der Aktion »[f]eministisch betrachtet […] eine Urszene der sich selbst ermächtigenden Frau« zu machen, ist einfach nur grotesk. Ganz treffend hebt Becker-Schmidt in einem Interview hervor (auch in der besagten Dokumentation zu sehen): »Man kann Adorno auch in seinem Verhältnis zu Frauen eine ganze Menge vorwerfen, aber eins kann man überhaupt nicht ihm vorwerfen, dass er irgendwann mal sexistisch gewesen sei – und das [das Busen-Attentat] war sexistisch!«
Und zu Recht merkte Adorno in einem Spiegel-Interview an:
»Gerade bei mir, der sich stets gegen jede Art erotischer Repression und gegen Sexualtabus gewandt hat! Mich zu verhöhnen und drei als Hippies zurechtgemachte Mädchen auf mich loszuhetzen! Ich fand das widerlich. Der Heiterkeitseffekt, den man damit erzielt, war ja doch im Grunde die Reaktion des Spießbürgers, der Hihi! kichert, wenn er ein Mädchen mit nackten Brüsten sieht. Natürlich war dieser Schwachsinn kalkuliert. (Adorno, GS 20.1, 2003, S. 407).« Auch gegen das im Feuilleton beliebte und auch von Oestreich bediente Stereotyp, die Theorie Adornos hätte sich mit den aufbegehrenden Studierenden nun gegen ihn gewandt, nahm er bereits selbst Stellung: »Ein wirklich faßlicher Zusammenhang zwischen dem gegenwärtigen Aktionismus, den ich für höchst problematisch halte, und unseren Gedanken ist mir noch von keinem Menschen aufgezeigt worden. Irrationale Aktionen, von der Theorie abgelöst, die man verlästert, sind nie in unserem Sinn gewesen. Kritische Theorie schließt notwendig eben jene Analyse der Situation ein, die sich der Aktionismus erspart, um nicht der eigenen Hinfälligkeit innewerden zu müssen. Im Übrigen ist die These, wir hätten Ideen entwickelt, die sich gegen uns gewandt hätten, als sie in die Tat umgesetzt wurden, besonders beliebt bei denen, und wahrscheinlich von ihnen erfunden, welche die Freiheit des kritischen Gedankens mit der Geste des »Seht ihr’s« lähmen wollen. Ich habe so wenig Neigung, diesem Gestus mich zu beugen wie den Solidaritätszwängen der Aktionisten (Adorno, GS 20.1, 2003, S. 398f., Herv. i. O).«
Adorno war einfach nicht bereit, als Stichwortgeber für den autoritären Unsinn, den die Studierenden da veranstalteten, zu fungieren. Jene Beharrlichkeit des dialektischen Denkens scheint auch 50 Jahre später Heide Oestreich in Wut zu versetzen.
Dass es bei Oestreich mit der Auseinandersetzung mit Adornos Kritik nicht weit her ist, bezeugt auch folgende Passage: »Seine Theorie von der Totalität der kapitalistischen Vergesellschaftung beinhaltete auch, dass wir in diesem System zur Freiheit leider nicht fähig sind. Sein berühmtester Satz „Es gibt kein wahres Leben im falschen“ war von einer Erkenntnis mittlerweile zu einem Hindernis geworden. Jedenfalls für die jungen Leute, die sich mit derlei Fatalismus nicht abfinden wollten.«
Dass man aus Adornos Werk immer und immer wieder nur diesen Satz völlig entkontextualisiert und im Falle von Oestreich sogar falsch wiedergibt und diesen als Fatalismus interpretiert, sagt eigentlich nur etwas über ein feuilletonistisches Milieu aus, für das Adornos Begriff der Halbbildung ganz treffend ist. Warum verfasst jemand eine dreist verurteilende Kolumne über einen Denker und sein Werk, wo man offenkundig von der Materie nicht viel Ahnung hat? Dem Juden, der nach seiner Rückkehr aus dem Exil in Frankfurt mit gepackten Koffern wohnte, sogar Attentismus vorzuwerfen, wo Leute links wie rechts (zum Beispiel das Attentat auf Dutschke) wieder mit autoritären Mitteln zur politischen Tat schritten, kann man nur als ungehörig und dreist bezeichnen. Hier urteilt Oestreich über ein Werk und Leben, das sie offenkundig nicht mal im Ansatz durchdrungen hat. Andernfalls würde man vor dem Hintergrund eines Textes wie ›Marginalien zu Theorie und Praxis‹ und mit den Einsichten in Adornos Privatleben durch veröffentlichte Briefwechsel und Anderes nicht einfach behaupten, er hätte sich »gemütlich eingerichtet im falschen Leben«.
Helmuth Plessner hat nach dem Tod Adornos zu der Peinlichkeit der unpolitischen Aktion des Busen-Attentats im Grunde bereits alles gesagt:
»Seit Marx und den Umwälzungen in seinem Zeichen sind wir um viele Erfahrungen ärmer geworden. Darum sich in den Wartestand einer sogenannten bloßen Theorie flüchten wäre schlimmer, weil Verrat am Gedanken. Kritische Theorie ist ein Stück Praxis. Deshalb haben ihn die albernen Vorwürfe der Aktivisten, die es hätten besser wissen können, denn sie haben bei ihm gelernt, mit Recht verletzt. Und Mädchen mit oben nicht ganz ohne sind selbst im ganz entkleideten Zustand kein Argument (Plessner, Totale Reflexion. Zum Tode Adornos, in: ders.: Politik, Anthropologie, Philosophie. Aufsätze und Vorträge, 2001, S. 336).

von M. Schönwetter